Essay
Die Situation der neuen Musik
von Kurt Westphal
Erschienen in: Theater der Zeit: Surrealismus und was man dafür hält (12/1946)
Assoziationen: Musiktheater
Wenn wir heute von ,Neuer Musik‘ sprechen, können wir nicht dasselbe meinen, was 1920 damit gemeint war. Als unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg das Schlagwort ,Moderne Musik‘, später durch ,Neue Musik‘ ersetzt, geprägt wurde, trug es den Charakter einer Forderung. In ihm manifestierte sich die revolutionäre Haltung einer jungen Generation gegenüber der Musik, die sie vorfand. Der Begriff ,Neue Musik‘ war ein eminent musikpolitischer Begriff. ,Neue Musik‘, das sollte heißen: nicht-romantische, nicht-neudeutsche, nicht-klassizistische im Sinne der Berliner und Münchener Akademiker, nicht-deskriptive, überhaupt nicht-traditionalistische Musik. Das Kampfwort war zunächst rein negativ bestimmt. Man kannte die Ufer, von denen man sich abstieß und abstoßen wollte, aber nicht die, zu denen man gelangen wollte.
Eine Ablösung von der Tradition war schon in den letzten fünf Jahren vor dem ersten Weltkrieg erfolgt. Zwei der größten Anreger des Neuen hatten bereits entscheidende Werke geschrieben, Igor Strawinsky ,Le sacre du printemps‘, Arnold Schönberg den ,Pierrot lunaire‘. Aber so neu diese Werke auch waren, die Neuheit ihrer Mittel war die zwangsläufige Folge neuer künstlerischer Intentionen. Ihre musikalische Sprache war letztlich aus der Entwicklung, die die Musik genommen hatte, ableitbar. Schönberg kam von der hochgespannten Alterationsharmonik des Wagnerschen ,Tristan‘, Strawinsky vom französischen Impressionismus, dessen Klänge er in ungewöhnlicher...