Editorial
von Torsten Israel
Erschienen in: Recherchen 58: Passagen – Reflexionen zum zeitgenössischen Theater (05/2009)
Das vorliegende Buch bringt Einblicke in das internationale Theater der letzten Jahrzehnte, zieht aber keine Bilanz. Es zielt weder auf Vollständigkeit noch auf Ausgewogenheit. In ihm wird kein Kanon aufgestellt oder definitiv bestätigt. Theaterdonner wird nicht erzeugt, sondern gegebenenfalls diagnostiziert.
Was Helene Varopoulou und ihre Arbeit als Essayistin und Kritikerin auszeichnet, ist das sichere ästhetische Gespür und die kongeniale Beschreibung von – ästhetisch zum Teil weit auseinanderliegenden – Aufführungen und Regiehandschriften, die einen Kunstanspruch – und sei es durch dessen explizite Negation – nicht nur erheben, sondern auch einlösen. Und zwar unabhängig davon, ob dies durch das Anknüpfen an bereits angelegte und unter Umständen weit zurückverfolgbare Traditionslinien geschieht, oder im Sinne der inhaltlichen und formalen Innovation, des Bruchs, der Suche nach einem bisher ungekannten Theateridiom oder doch der Ergänzung und Weiterentwicklung bestehender Theatersprachen. Unmerklich geht sie in dieser Beziehung auf Distanz zur Position Heiner Müllers, mit dessen Werk sie sich, zumal als seine führende Übersetzerin ins Neugriechische, aber auch in Kommentaren und Essays immer wieder beschäftigt hat: Müllers Formulierung, nach der sich Kunst durch Neuheit legitimiere, erklärlich und hilfreich in ihrem historischen Kontext, greift ihr zu kurz.
Der Schwerpunkt der hier versammelten Texte liegt dennoch bei den Avantgarden der zurückliegenden drei bis vier Jahrzehnte, worunter das Werk jener Dramatiker und Regisseure bzw. jene künstlerischen Strömungen verstanden werden sollen, die in diesem Zeitraum – einschließlich der unmittelbaren Gegenwart – im Theater international wirksame Impulse zu setzen vermochten, oder die aktuell über das Potential dazu verfügen. Neben Künstlern wie Jerzy Grotowski, Giorgio Strehler oder Klaus Michael Grüber sowie profilierten Theatermachern aus Nordamerika und Japan, die Eingang in die Theatergeschichte gefunden haben, wendet die Autorin sich auch einer Reihe von in Deutschland weniger prominenten Regisseuren, Schauspielern und Ensembles zu, etwa aus Finnland, Indien, dem Iran, China und besonders Griechenland. In den Blick geraten Phänomene wie die Auflösung der Trennlinien zwischen bildender und darstellender Kunst, die Beeinflussung des Theaters durch die modernen Kommunikationstechnologien, die schwankende Bedeutung des geschriebenen Textes in der Inszenierungspraxis, die zeitweise oder ständige Hinwendung einiger Performerinnen und Regisseure zu einer intensiven, auch ethnologisch begründeten Körperarbeit, die Entwicklung mehrsprachiger Aufführungen als eine mögliche Reaktion auf den gar nicht mehr so neuen Prozess der Globalisierung oder die Wiederentdeckung des Chors im Schauspiel. Die Arbeit von einflussreichen zeitgenössischen Theatermachern vor allem der mittleren Generation, etwa Romeo Castellucci, Jan Fabre oder Theodoros Terzopoulos, aber auch von jüngeren wie Laurent Chétouane, erschließt sich dabei vor ihrem weit gespannten ästhetischen Horizont. Das Buch endet mit einer These, die den Diskurs über viele aktuelle szenische Ansätze auf ein neues Fundament zu stellen sucht.
Der vorliegende Band dokumentiert nicht zuletzt die jahrzehntelangen Bemühungen der Autorin um die Vermittlung der Vielfalt internationaler Theaterkunst für ein griechisches Publikum. Die Texte sind zumeist aus der unmittelbaren Konfrontation der Kritikerin mit den Aufführungen hervorgegangen und umspannen einen beachtlichen Zeitraum.
Grundlage der Ausgabe ist eine Auswahl aus Varopoulous im Athener Agra-Verlag erschienenem Buch »Das lebendige Theater« (2003), das seinerseits auf seit den frühen siebziger Jahren entstandene und zuerst zeitnah in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelwerken veröffentlichte Essays und Kritiken zurückgeht. Dazu kommen einige neuere Beiträge. Alle, auch die älteren Texte, erscheinen hier inhaltlich unverändert. Die in ihnen vorgetragenen Argumente bedurften keiner substantiellen Korrektur. Zudem ging es darum, ihnen nichts von ihrer Lebendigkeit, ihrem auch dokumentarischen Charakter zu nehmen, der sich beispielsweise in den zahlreichen in die Texte eingeflossenen Zitaten aus Gesprächen manifestiert, die Varopoulou mit etlichen der Regisseure führte.
Einige sprachliche Umstellungen und Reformulierungen tragen den besonderen Erfordernissen einer Buchausgabe Rechnung bzw. resultieren aus dem gemeinsamen Wunsch von Autorin, Übersetzer und Herausgeber nach einer möglichst leserfreundlichen deutschen Textgestalt. Die Anordnung des Materials um bestimmte thematische Achsen ergab sich zwanglos aus den von Varopoulou bei ihrer Arbeit selbst gesetzten inhaltlichen Schwerpunkten.
Das vorliegende Buch kann und will keine Bilanz des Theaters der letzten Jahrzehnte sein: Viele künstlerische Entwicklungen, deren Anfänge in diesen Zeitraum fallen, sind noch keineswegs abgeschlossen und ent-ziehen sich insofern einer apodiktischen Deutung. Auch dies zeigen Varopoulous Texte. Das Bild der jüngeren und zeitgenössischen Theaterlandschaft, das insgesamt dabei entsteht, gleicht folgerichtig weniger einem Tafelgemälde als der optischen Erfahrung beim Blick in ein Kaleidoskop. Charakteristisch dafür sind die Faszination, aber auch Irritation durch die Unberechenbarkeit und Unübersichtlichkeit der farblichen und geometrischen Eindrücke – und der zugleich ausgelöste Wunsch, möglichst alle denkbaren Muster und Schattierungen kennen zu lernen.
Berlin und Athen, Februar 2009
Torsten Israel