Thema: Robert Wilson
Raum der Stimmen
Warum für den Bildkünstler Robert Wilson die Imagination erst im Dunkeln wirklich frei sein kann. Ein Gespräch über Theater und sein erstes Hörspiel „Monsters of Grace II“
von Frank M. Raddatz und Robert Wilson
Erschienen in: Theater der Zeit: Robert Wilson: Göttliche Monster (03/2014)
Assoziationen: Akteure
Herr Wilson, Sie haben aus Bildern, Sprache und Sound eine ästhetische Struktur entwickelt, die sehr suggestiv wirkt, auch Zustände von Trance hervorruft. Ist es Ihr Motiv, solche Veränderungen des Bewusstseins hervorzurufen?
Die Zeit des Theaters ist für mich eine sehr plastische Angelegenheit. Sie lässt sich dehnen, kann aber auch komprimiert werden. Die Zeit im Theater funktioniert anders als die natürliche Zeit. In „Einstein on the Beach“ gibt es zum Beispiel lange Passagen, die sich sehr viel Zeit nehmen für die Dinge, die dort passieren, und dann gibt es Momente, in denen etwas sehr plötzlich und schnell vonstattengeht, wie in den beiden Tanzabschnitten. Dieser Umgang mit Zeit, Raum und Licht kann tatsächlich unsere Wahrnehmung verändern.
In der Tat bewegen uns diese Effekte. Dieses Etwas, das sich mitunter kaum beschreiben lässt und dem keine offensichtliche Bedeutung innewohnen muss, berührt uns zutiefst. Dieses Phänomen stellen Sie in das Zentrum Ihrer künstlerischen Arbeit.
Musik- und Lichteffekte besitzen eine spirituelle Dimension. Ich werde vom Sonnenuntergang ergriffen, ohne dass er etwas bedeutet. Ich kann dem Vogelgezwitscher lauschen, zum Beispiel dem Gesang einer Nachtigall, und bin berührt. Wir machen diese Erfahrungen, ohne dass sie eine Nachricht für uns beinhalten. Es ist etwas, was wir erleben. Erleben ist ein Mysterium, gerade weil es sich nicht erklärt.
Dennoch steht das visuelle Moment im Mittelpunkt Ihrer Kunst. Von daher überrascht es, dass Sie vor ein paar Wochen Ihr erstes Hörspiel herausgebracht haben. Was war Ihr Anlass, für den Hörfunk „Monsters of Grace II“ zu produzieren?
Wenn ich als Regisseur an einem Theater arbeite, mache ich während der Proben häufig das Licht im Raum aus, damit ich mich nur auf den Text und das Sprechen konzentrieren kann und nicht optisch abgelenkt werde. Ich achte im Dunkeln allein auf mein Gehör. Das ist das Gegenteil zur ersten Probenphase, die lautlos verläuft, denn ich probe zuerst nur auf der Bildebene – ohne Text und ohne Musik. Das erinnert ein wenig an einen Stummfilm. Dann füge ich den Stummfilm mit Ton, Text, Musik und Geräuschen in eins und schaue, wie die beiden Ebenen aufeinander wirken und was sie zusammen bewirken. Von daher ist die Arbeit mit dem Ton ohne Bild schon immer Bestandteil meiner Vorgehensweise.
Am Radio finde ich interessant, dass die visuelle Ebene der Kommunikation gerade nicht belegt wird. Die Imagination, wie der Mann oder die Frau, deren Stimmen man hört, aussehen, ist vollkommen frei. Ebenso die Vorstellung, wie der Raum aussieht, in dem sie sich befinden. Das ist eine Freiheit, die der Zuschauer nicht hat, wenn ihm das Optische diktiert wird. Dieser Freiraum hat mich schon immer fasziniert. Schon als Kind habe ich Radio gehört und mache es noch heute. Ich mag den mentalen Raum, der durch das Radiohören entsteht.
Sie beschreiben Sehen und Hören, die visuelle und die akustische Ebene, ganz unabhängig voneinander. Das Theater basiert traditionell auf Text. Wörter, die mithilfe von Schauspielern verräumlicht werden.
In einem Hörspiel bleibt die visuelle Ebene unbelegt, und in einem Stummfilm ist die Ebene des Tons frei. Diese Art von Freiheit findet man normalerweise nicht im Theater. Viele Regisseure nehmen sich ein Stück oder eine Oper und versuchen, die Wörter mit Bildern zu veranschaulichen. Das hat mich schon immer außerordentlich gelangweilt. Jetzt gerade spreche ich mit Ihnen in Berlin und bin gleichzeitig in Paris, wo ich aus dem Fenster sehe und bemerke, dass draußen ein starker Wind weht, der die Bäume schüttelt, während es regnet. Etwas weiter entfernt kann ich ein paar Gebäude und Lichter erkennen. Ich betrachte also ein Bild, das Sie nicht sehen, während ich mit Ihnen spreche, und Sie betrachten ein anderes.
Diese Realität, diese Trennung innerhalb der Wahrnehmung, finde ich viel interessanter, als wenn versucht wird, den Text oder Sinn von etwas zu illustrieren. Deswegen arbeite ich häufig mit Kontrapunkten: Das, was ich sehe, ist eine Sache, das, was ich höre, eine andere, und wie sich die beiden Ebenen, wenn sie zusammengefügt werden, gegenseitig verstärken und aufladen, eine dritte. Dieser Glaube, dass etwas illustriert oder dekoriert werden müsste, ist etwas ganz Furchtbares. Leute gehen auf Schulen, um Bühnenbild oder Ausstattung zu studieren. Ich würde diese Schulen am liebsten niederbrennen. Dekor gehört nicht auf die Bühne. Das Bild muss vielmehr eine architektonische Struktur bekommen. In meiner gesamten Arbeit habe ich von Anfang an die Bühne als eine Art Hörraum betrachtet. Das klingt gewiss merkwürdig, wenn ich sage, dass ich den Raum wie ein Hörspiel wahrnehme. Ich meine damit, dass ich das Bühnenbild nicht als optische Setzung handhabe, sondern als etwas, bei dem eine vergleichbare Freiheit herrscht, wie wenn ich etwas höre, das ich nicht sehe. Die Bühne lässt den Text klingen, aber sie veranschaulicht ihn nicht und entzieht sich der Bedeutung.
Strukturen spielen bei Ihnen eine große Rolle. „Monsters of Grace II“ besitzt auch eine Struktur oder Architektur, die Sie konstruieren.
Ich gebe die formale Struktur vor. In diesem Fall sind es vier Akte und drei Themenblöcke: a, b und c. Der erste Akt hat die Themenblöcke a und b, Akt zwei c und a, Akt drei besteht aus b und c. Akt vier vereint die drei Themenblöcke a, b und c. Die Struktur basiert auf der Struktur von Thema und Variation.
Ich habe festgelegt, dass antike Themen das Zentrum von Block a bilden. Der Text beginnt mit einem Text von Lukrez aus dem Jahr 56 v. Chr. Ein antiker Text über eine Seuche in Athen im fünften Jahrhundert vor Christus. Der b-Teil beinhaltet chronologisch spätere Texte, wie zum Beispiel Shakespeare und Autoren aus der Renaissance. Für den c-Teil habe ich zeitgenössische Texte gewählt, wie zum Beispiel Gertrude Stein oder Heiner Müller. Aber es ist keine komponierte Erzählung. Es verhält sich zueinander wie die Haut, das Fleisch und die Knochen. Die drei verschiedenen Materialien, aus denen ein Körper besteht. Oder auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die drei Elemente der Zeit. Wenn ich mich frage: Was kann a, b und c sein? Wofür stehen die drei Bestandteile?, dann sind es auch Zeit, Raum und Konstruktion. Es kann also sehr verschiedene Weisen geben, die Themen und Variationen zu organisieren. Manches wird eher langsam gesprochen, anderes ist sehr schnell. Es gibt daneben auch Anweisungen oder Musik.
Es handelt sich um eine Art Geräuschlandschaft, wovon die Stimme einen Teil bildet.
Ich setze ein großes Spektrum an Stimmen. Ich arbeite mit Christopher Knowles, der eine seltsame Art zu sprechen hat. Seltsam in Bezug auf die Masse an Lauten und eine Dramaturgie ohne offenkundigen Sinn. Er schreibt Texte, die einen Rhythmus erzeugen: „Pappa pap papappa pap abbab bab …“ Das sind bloß Geräusche, die aber rhythmisch aufeinanderfolgen. Daneben sind Auszüge aus Goethes „Faust“ zu hören, also einem Text, der eine Bedeutung hat und den man daher anders übermitteln oder sprechen muss. Er verlangt eine andere Weise der Präzision. Dagegen ist ein Text von Christopher Knowles, der eine Art Soundcollage darstellt, wie das Wetter. Das ist etwas, da hören wir bloß zu, wie wir Vogelgezwitscher zuhören, und fragen uns nicht, was das bedeutet. Aber in einem Fall wie „Faust“ muss der Text so gesprochen werden, dass das Publikum die Wörter versteht. Es existieren also ganz unterschiedliche Ebenen des Sprechens.
Es kommt eine Kinderstimme vor bzw. es spricht eine junge Schauspielerin vom Berliner Ensemble: Anna Graenzer. Ihre Stimme ist ganz anders als die Stimmen, die „im Wind heulen und singen“, wie es am Anfang des 20. Jahrhunderts üblich war. Auch die Stimmen von Inge Keller oder Lady Gaga werden eingesetzt. Isabelle Huppert, Angela Winkler und Jürgen Holtz sprechen Texte, also moderne zeitgenössische Schauspieler. Es gibt ein ganzes Spektrum an Stimmen, die in der formalen, klassischen Struktur von Thema und Variation zusammengebracht werden.
Wenn Sie einen Text auswählen, entscheiden Sie nach der Schönheit des Textes, den poetischen Momenten, oder was motiviert Ihre Entscheidung?
Die Texte müssen vom Klangbild her zueinander passen. Ich arbeite mit Kontrapunkten, wie ich das auch häufig in meiner Theaterarbeit mache. Wenn ich eine Stimme höre, die den Text heult oder singt, wie es zum Beispiel Josef Kainz oder Alexander Moissi machte, und dann höre ich die Stimme einer jungen Schauspielerin vom Berliner Ensemble, die den gleichen Text spricht, aber mit einer anderen Eindeutigkeit, dann stellt sich ein Raum von bemerkenswerten Differenzen her. Ich mag es, wenn ich die beiden Variationen zusammen höre, denn durch ihre Unterschiede verstärken sie sich gegenseitig. Die Variation desselben erzeugt etwas Neues. Das ist der Grund, wieso ich wähle, was ich wähle.
Verstehe ich Sie richtig, es geht Ihnen um den Unterschied, der entsteht, wenn Jürgen Holtz oder Angela Winkler einen Text sprechen?
Ja. Jürgen hat eine scharfe Stimme, und Angela hat einen weicheren, fast leisen Klang. Diese zwei Stimmen ergänzen sich. Isabelle kann schnell und scharf sprechen. Sie wirkt sehr cool, wenn sie spricht. Die Stimmen sind sehr verschieden, und ich mag es, sie in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen. Das setzt voraus, dass sie gleichzeitig anwesend sind. Manchmal schichte ich den Text auch. Dann hören wir jemanden sehr leise oder sanft über die Stimme von jemandem sprechen, die sehr scharf ist. Dann wechseln sie sich ab. Ich höre eine leise Stimme, dann höre ich eine Stimme, die scharf ist. Oder sie überlagern sich. Trotzdem höre ich beide sehr klar, gerade weil sie so verschieden sind.
Interessiert Sie der Unterschied zwischen einem Text, also der Bedeutung, dem Sinn, und der einzelnen Stimme, die ihn spricht?
Wir versuchen nicht, einen Text zu interpretieren. Wir präsentieren ihn formaler. Das ist ein Hörspiel und keine Theaterveranstaltung, wo eine Interpretation auf die Bühne gebracht wird. Die Interpretation stellt das Publikum selbst her. Wir präsentieren dem Publikum nur etwas.
Wenn ein Schauspieler wie Jürgen Holtz einen Text spricht, wird der Text sehr präsent. Er vermittelt ihn nicht psychologisch, sondern die Worte werden in einer Physikalität gegenwärtig, die enorme Resonanzräume eröffnet.
Ich finde das außergewöhnlich, dass er das kann. Er zwingt dem Zuhörer nicht seine persönliche Hörweise des Textes auf, sondern er spricht ihn bloß, so dass man über diese Worte denken kann, wie man möchte. Wenn er den Faust spricht, gibt er einen großen Interpretationsraum. Es ist nicht so, dass er nicht über den Text nachdenkt, aber er legt seine Interpretation dem Hörer nicht auf, sondern lässt den Text klingen.
Die Texte sind auch Sound. Wir können beispielsweise den Sound von Schiller und Brecht ebenso unterscheiden wie von Kleist und Heiner Müller.
Ja, das kann man sagen. Jeder Schriftsteller produziert einen Sound. Gertrude Steins Texte sind auch Musik! Die Musikalität der Texte interessiert mich sehr.
So gesehen ist der Text Teil einer Komposition, einer Soundlandschaft.
Stimmt genau!
„Einstein on the Beach“ von Philip Glass und Robert Wilson ist am 2., 3., 5., 6. und 7. März 2014 im Haus der Berliner Festspiele zu sehen.