Magazin
Lob der Langsamkeit
Der Dramaturg Alexander Weigel wird achtzig
von Stephan Suschke
Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)
Assoziationen: Sprechtheater Dramaturgie Akteure
Kennengelernt habe ich Alexander Weigel vor über 30 Jahren. Ich war Student der Theaterwissenschaften und konnte am Deutschen Theater an der Inszenierung „Yerma“ als Assistent mitarbeiten. Weigel war der Dramaturg. Ich war fleißig, interessiert und ehrgeizig, wir mochten uns. Deshalb folgte die Mitarbeit an einer Expressionismus-Matinee, bevor 1987 bei Müllers „Lohndrücker“-Inszenierung unsere erste intensive Zusammenarbeit begann. Was mir auffiel, war die ungeheure Genauigkeit, mit der er arbeitete, die auch etwas mit dem Zeitreservoir der DDR zu tun hatte – der Wechsel auf die Zukunft war noch nicht fällig geworden.
Weigel war der Archäologe, der sich geduldig durch die Archive und Bücher wühlte. Für ihn hatten alte Akten „etwas Erotisches, man konnte immer etwas Interessantes finden“. Die Arbeit hatte scheinbar etwas Zielloses – es war wie früher in einem Antiquariat –, man suchte nicht, sondern fand. Es war auch ein kriminalistischer Ehrgeiz dabei und die Suche nach einer Realität jenseits des manchmal aufgeblasenen Theaterbetriebs. Dabei war Weigel immer an den gesellschaftlichen, für ihn geschichtlichen Umständen von Theater interessiert. Er setzte die Stoffe, die Figuren in Beziehung zur jeweiligen geschichtlichen Situation. Als ich ihn in Vorbereitung einer Inszenierung von „Amphitryon“ besuchte, verwies er auf die Zeit, in der sein Lieblingsdichter Kleist das Stück geschrieben hatte, eine Zeit zwischen den Kriegen, die wie eine erste Globalisierung wirkte und die Familienbeziehungen auflöste. Für Weigel war die katastrophale Niederlage bei Jena und Auerstedt der Hintergrund für Kleists Stück.
Das hat viel mit seinem Studium zu tun. Weil Weigel 1954 durch die Eignungsprüfung an der Theaterhochschule Leipzig gefallen war, ging er zur dortigen Karl-Marx-Universität. Geschichte interessierte ihn, deshalb studierte er sie. Er ging zur Studentenbühne, weil man eine „gesellschaftliche Tätigkeit aufnehmen musste und dort am einfachsten Mädchen kennenlernen konnte“. Mit dabei waren Maik Hamburger und Adolf Dresen, der sich die Studentenbühne schnell unter den Nagel riss und Weigel mit Hauptrollen besetzte. Nach vier Jahren Studentenbühne und über 50 Bewerbungen verschlug es ihn nach Rostock, zum „berühmt-berüchtigten Generalintendanten Hanns Anselm Perten, als Regie- und Dramaturgie-Assistent mit Spielverpflichtung für 300 DDR-Mark“. Über den Umweg Greifswald und über die Redaktion von Theater der Zeit wurde er 1965 von Wolfgang Heinz ans Deutsche Theater Berlin engagiert. Heinz war „als Intendant ein alter Prinzipal, als Kommunist Mitglied der österreichischen Partei und als Schauspieler eindrucksvoll. Er liebte Leute, die ihm widersprachen, weil er laut loslegen und sein weittragendes Organ klingen lassen konnte.“
Adolf Dresen kam ans Deutsche Theater, sie arbeiteten zehn Jahre eng und intensiv zusammen. Es entstanden zehn Inszenierungen, die „äußerst gründlich und ernsthaft vorbereitet worden sind“. Legendär neben „Faust 1“ das Kleist-Projekt: „Wir waren fasziniert, wie das auf uns und dieses Land passte. Es hatte sich nichts Entscheidendes geändert.“
Nach dem Verlust, den Dresens Weggang für Weigel und das Ensemble bedeutete, entwickelte er die Blätter des Deutschen Theaters neu. Er entdeckte vergessene Autoren der 1910er und 20er Jahre, legte die Geschichte des Theaters an der Schumannstraße frei, leistete damit Vorarbeit zu seinem 1999 erschienenen Band zur Geschichte des Deutschen Theaters, deren genaue Kenntnis Weigel für das Selbstverständnis dieses Theaters für unverzichtbar hält. Dann kam Heiner Müller und wollte Weigel als Dramaturg, aber dem gefiel anfangs das Stück „Der Lohn- drücker“ nicht. Trotzdem grub er sich in den Stoff, erkannte die ihm zugrunde liegende Mythologie des Feuers. Tagelang, wochenlang wühlten wir uns durch die Akten von Siemens-Plania, arbeiteten im Parteiarchiv: „Die Arbeit am ‚Lohndrücker‘ war die schönste, die ich als Dramaturg erlebt habe. Das hing auch mit Müller zusammen, der alles leicht und zugleich ernst nahm. Dieses Ineinander von Theater und Geschichte war wie für mich gemacht.“
Die Zeit nach Müller bedeutete für Weigel künstlerischen und geistigen Niedergang, da von Thomas Langhoff weder als Intendant noch als Künstler neue Impulse ausgingen. Auch die Zusammenarbeit mit Jürgen Gosch verlief glücklos. Aber er konnte etwas tun, was ihm immer wichtig war: Er hat sich gebildet. Weigel sagt, dass er hätte gehen müssen: „Aber diesen Mut habe ich so kurz vor der Rente nicht aufgebracht. So wurde ich im Sommer 2001 nach 37 Jahren mit einem schäbigen Blumenstrauß auf einer Versammlung im Zuschauerraum verabschiedet.“
Jetzt beschäftigt sich Alexander Weigel mit Malern der italienischen Frührenaissance: „Wegen der Würde, der Schönheit des Menschen und des Glaubens an ihn; ich suche da etwas, was dem Theater verloren gegangen ist: die Würde.“ //