Max Pross – Das Totenfest nach Jean Genet
Bühne Mara-Madeleine Pieler. Kostüme Clarissa Freiberg. Dramaturgie Finnja Denkewitz. Musik Raphaela Andrade
von C. Bernd Sucher
Erschienen in: Radikal jung 2020 – Das Festival für junge Regie (03/2020)
Assoziationen: Max Pross Jean Genet Schauspielhaus Hamburg

Liebe kennt keine Grenzen
„Ich liebe ihn noch immer!“, sagt Josef Ostendorf, allein an einem Tisch sitzend, vor sich ein Glas Rotwein. Er trägt – nach vielen Verwandlungen zuvor, nach Kleidungs- und Rollenwechseln – jetzt nur ein schwarzes Unterhemd, eine weite Unterhose und Kniestrümpfe, eine Perlenkette um den Hals. Ein trauriger, lächerlicher Typ. Nichts versteckt den massigen Körper, das nackte Fleisch. Dieser letzte Satz, gesprochen in die Dunkelheit des Raums, beendet einen Theaterabend, der nur ein Thema hat: die Liebe. Die Liebe eines Mannes zu einem Knaben.
Ostendorfs erste Worte, die er in eine Schreibmaschine hackte, waren ein Geständnis: „Ich liebe junge Männer!“ Wehmütig und zugleich stolz pries er gleich darauf die Schönheit der Knaben und ihr „knabenhaftes Heldentum“ im von den Deutschen besetzten Frankreich. Der korpulente Ostendorf, der sechzigjährige Mann mit der Halbglatze, spielt Jean Genet. Und der sehr junge Paul Behren, knabenhaft, ephebisch, spielt Genets Liebhaber Jean Decarnin. Ihm, der im Kampf fiel, widmete der französische Dichter ein literarisches Totenfest. So auch der Titel des Romans, in dem der Tod zusammen mit der Hochzeit gefeiert wird. In Genets Œuvre sind beide sehr oft Ziel von Leben. Decarnin gehörte zu einer Widerstandsgruppe, die gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Während der Befreiung von Paris wurde er tödlich verwundet.
Bevor der Dichter auf der kleinen Spielfläche das Wort ergreift, sehen wir Paul Behren, der wie ein DJ Sounds sampelt – bis er abrupt die Stopptaste drückt. In die Stille hinein befragt er sich und die Zuschauer – denn alles Spiel an diesem Abend ist eines, das sich direkt an die Zuschauer richtet, die an allen vier Seiten, sehr dicht an den Darstellern, sitzen. Ausgeliefert. Behren zitiert aber nun nicht Genet, sondern einen Fremdtext, den der Regisseur Max Pross hinzugefügt hat. Eine Passage aus dem Drama „Der große Gott Brown“ von Eugene O’Neill: „Warum habe ich Angst davor zu tanzen, ich, der Musik, Rhythmus und Grazie, Gesang und Gelächter liebt? Warum habe ich Angst davor zu leben, ich, der das Leben und die Schönheit des Fleisches und die lebendigen Farben von Erde, Himmel und Meer liebt? Warum habe ich Angst vor der Liebe, ich, der die Liebe liebt?“
Neben diesem O’Neill-Zitat gibt es ein weiteres von Rainer Werner Fassbinder aus dessen Film „Berlin Alexanderplatz“. Warum diese Zusätze? „Beide Texte“, so erklärt Pross, drückten ein unterschiedliches Befremden gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus, in die Menschen hineingeworfen würden. „Bei O‘Neill wird eine tiefe innere Krise ausgesprochen, die dadurch hervorgerufen wird, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mitnichten frei und einfach erfolgt. Traditionelle sowie modische, temporäre Regeln ordnen unser Miteinander, damals wie heute. Bestimmte Lebensentwürfe, innere Konditionen machen ein Andocken an die Mitmenschen schwer bis unmöglich. Um der Figur von Paul Behren einen eigenständigen Charakter zu verleihen, der mehr ist als nur eine Kreation des Autors, den Josef Ostendorf spielt, beginnen wir mit dieser Einsamkeit in Worten. Der Fassbin- der-Text hat im späteren Verlauf des Stückes eine ähnliche Funk- tion. Wie beim O‘Neill-Text kann man ihn als ein inneres Zwiege- spräch begreifen, das versucht mit dem In-die-Welt-geworfen-Sein klarzukommen.“
Die Wahl dieses Romans als Vorlage für einen knapp einstündigen Theaterabend verblüfft. Zum einen, weil dieser Text, oft genug kritisiert als ein „Gesang an den Faschismus“, eine dichterische Provokation ist. Genet durchbricht mit diesem verstörenden Poem die gängigen und akzeptierten politischen und gesellschaftlichen Denkmuster. Sehr gewagt verknüpft er Liebe und Mord; Leidenschaft und Krieg. Selbst Hitler tritt darin auf. Pross ist fasziniert von diesem Autor: „Wie in einem Wahn hat Genet in den 40er Jahren fünf Romane geschrieben, die mit nichts vergleichbar sind, was mir bisher in der Literatur begegnet ist. Genet schaut aus einer gesellschaftlichen Außenperspektive auf die Dinge, auf die zwischenmenschlichen Geschehnisse, die in seinen Romanen verhandelt werden. Sie alle sind nicht abstrus, sondern greifen auf die Möglichkeiten unserer Wirklichkeit zurück. Er beschreibt realistische Situationen; und sie unterliegen nicht dem moralischen Kompass ihrer Entstehungszeit, auch nicht einem der vielen, die heute angeboten werden. Die Orientierungsschilder Gut und Böse, die ja bekanntlich eh von jedermann willkürlich irgendwo aufgestellt werden, verlieren ihre Bedeutung und, vor allem, ihre Weisungsmacht. Wir stehen in einem Wunder ausstrahlenden Dschungel, der, bei aller Faszination, einen ständig die Gefahr spüren lässt.“
In seinen Dramen verhandelt Genet nichts Anderes; und die Grenzübertretungen, die manchmal obszönen Tabubrüche gibt es darin auch. Warum wählte Pross den schwierigeren Weg der Dramatisierung eines Prosatextes? „Der Sprache und des Stoffes wegen. Ob der Stoff in Form eines Theaterstückes, von Gerichtsakten, von Videomaterial oder in Form eines Romans vorliegt, ist aus meiner Sicht zweitrangig. Daher ist es für mich nicht näherliegend, im Theater ein bereits geschriebenes Theaterstück zu inszenieren. Das ist zum Glück nur eine von vielen Möglichkeiten, zum Glück der Theatermacher und der Zuschauer. ‚Das Totenfest‘ ist ein ausgedehntes Zwiegespräch Genets mit seiner Liebe und ihrer Vergangenheit. Rücksichtlos gegenüber allen mir bekannten Geschmäckern des Denkens und der Moral befragt er die Bedingungen von Liebe und wirft en passant zwei Fragen auf: Was ist der Tod?
Was ist das Leben? Genet fragt doch – wie übrigens auch Woody Allen –: Was bleibt von uns, wenn es das Universum nicht mehr gibt und alle Atome oder Elementarteilchen, die darin vereinzelt oder in einem Körper gefangen rumflitzen, verschwunden sind?“ Der Raum dieser „theatralen Installation“, wie Pross seine Arbeit nennt – gestaltet von Mara-Madeleine Pieler –, ist ein Mys- terium. Um einen zentralen Ort, an dem ein Tisch steht und ein Stuhl, gruppieren sich diverse klitzekleine Spielflächen: eine Empore für Jean Genet; eine Sofa-Ecke für Jean Decarnin. Auf dem schwarzen Boden, auf dem sich wie Rinnsale gelbe Spuren finden, aufgehäuft: Asche – oder Sand? Ein Spiegel. Was soll das Format „theatrale Installation“ bedeuten? „Der Zuschauer guckt nicht auf die Bühnenwelt, er sitzt in ihr. Der Wunsch dabei ist, den Zuschauer als genuin Externen stärker einzubinden. Er ist, er sitzt in der Welt, er schaut nicht nur drauf. Es ist, wenn es sich einlöst, eine intensivere Form der Ansprache oder auch Beeinflussung oder Manipulation. Sehgewohnheiten verändern sich mit dem technischen Wandel; und diese Veränderung versuche ich zu berücksichtigen, mir zu Nutze zu machen. Natürlich habe ich an Pierre Huyghe gedacht und an meinen Besuch der letzten Documenta in Kassel. Der Besucher geht hier nicht in einen weißen Raum, in dem Gemälde fein säuberlich an der Wand hängen, er betritt eine installierte Welt, in deren Rahmen er mit verschiedenen Kunstwerken in Berührung kommt.“
Es stimmt, als zuhörender Zuschauer gibt es keine Möglichkeit des Ausweichens, Weghörens oder Wegsehens – es sei denn, man verließe den Raum. Pross und seine zwei Darsteller rücken dem Publikum auf die Pelle, räumlich und emotional. Es muss sich verhalten. Genet und Pross lassen nicht locker. Und deshalb erleben wir, wie zwei Männer sich liebkosen oder beschimpfen und verletzen; deshalb verkehren sich Zärtlichkeiten in Brutalität; deshalb bedeutet ein „Jean, ich liebe dich“ auch „Jean, ich hasse dich!“; deshalb muss nachgedacht werden, ob es recht ist, den Geliebten zu essen; deshalb verwirren sexuelle Metaphern und Vergleiche, zum Beispiel, wenn der alte Genet dem jungen Decarnin das Liebesgeständnis singt, sein Schwanz habe „die Form eines blühenden Apfelbaumes“; deshalb erschrecken wir, wenn Ostendorf in Frauenkleidern sich in Hitler verwandelt, zu den Klängen der Nazi-Wochenschauen. Es ist verwegen, wie Ostendorf sich modelliert in eine fette, alte Frau; wie Behren zu einem Eros-Engel wird; wie die beiden über Penetration reden und dazu tänzeln wie träumende Kinder. Ihr Zusammenspiel, in dem es keinen einzigen peinlichen Moment gibt, ist erstaunlich.
War es schwer, diese beiden Schauspieler zu dieser körperlichen Nähe zu verführen, zu überreden? „Josef und Paul haben während der Probenzeit eine sehr innige Bindung aufgebaut, die so, wie ich es wahrnehme, alles erlaubt, ohne das Gefühl eines Ta- bubruches oder den Zwang zu einer Intimität hervorzurufen. Sie finden in den Vorstellungen auf unterschiedlichste Art zueinander, sie überraschen sich, fordern sich heraus, gehen ein Spiel ein, das auf einem großen Vertrauen beruht. Davon lebt dieser Duo-Abend, es ist der Abend von Paul und Josef, sie spielen die Musik, zwar nach den Noten des Textes, aber in einer sehr weiten Spannweite. Die Dialoge des Romans und die Struktur der Fassung erlauben viele mögliche Farben. Bedrückte, leise, verletzte, aggressive, for- dernde Töne müssen nicht immer an der gleichen Stelle gesetzt werden, sondern dort, wo sie ehrlicherweise auftauchen, sich unwillkürlich äußern. Erstaunlicherweise lässt die Sprache bei gleichbleibender Wortwahl das zu. Worte machen eben nur einen Teil unseres Kommunizierens aus.“
Die andere Ebene dieser Kommunikation ist der Tanz. Die beiden Männer berühren einander nie – aber ihre Arm- und Hand- bewegungen sind Lockungen und Abwehr. Immer wieder Sehnen.
Wenn es so etwas gibt wie ein schamlos-diskretes Spiel: Die beiden Schauspieler beherrschen es. Das Thema, eine schwule Liebesbeziehung, die mit dem Tod nicht endet, ist kein Tabubruch mehr. Und doch schafft es Pross, uns zu provozieren. Weil ihm gelingt, was er sich vorgenommen hat: „Die Liebe zwischen zwei Männern ist heute in unserer Gesellschaft glücklicherweise kein Tabu- und Gesetzesbruch mehr, ich weiß das, aber die Art, wie kompromisslos Genet sie im ‚Totenfest‘ walten, toben, ‚da sein‘ lässt, ist das Ereignis! Genet proklamiert: Liebe kennt keine politischen oder gesellschaftlichen Grenzen. Die Liebe befreit von all dem, auch von Gewohnheiten und moralischen Zwängen. Der Abgrund lauert nicht allein da draußen, sondern in uns. Mit Woyzeck gesagt: Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Max Pross’ Weg führte ihn nicht gleich zum Theater. Zunächst stu- dierte er Ur- und Frühgeschichte, Mittlere und Neue Geschichte und Philosophie in Köln. „Dahinter stand tatsächlich die Idee, sich theoretisch und praktisch mit den Menschen und den von ihnen geschaffenen Welten auseinanderzusetzen, anfangs noch mit dem Ziel, danach oder währenddessen an eine Kunst- oder Theaterschule zu wechseln, das hatte sich aber durch mein Interesse, meine Liebe zu diesem Studium und durch die Performancegruppe Signa, die ich im ersten Semester kennenlernte und bei der ich die nächsten vier, fünf Jahre als Darsteller viel Zeit verbringen sollte, verloren. Der eigentliche Einstieg und die vorläufige Entscheidung fürs Theater, wenn der Begriff hier überhaupt zutreffend ist, war Signa. Signa ist für mich der prägendste Abschnitt in meinem kurzen Berufsleben. Dort habe ich miterlebt und gelernt, wie ein Kunstwerk, das sich mit der Premiere in die Raumzeit unserer Wirklichkeit sozusagen eingliedert, entsteht. Mit welcher Hingabe, Perfektion und ungeheurem Know-how – nehmen wir es wörtlich als Wissen, wie man verschiedenste Herausforderungen, techni- sche wie dramaturgische, fantasievoll, funktional, fanatisch löst.“