4.2.1 Funktionen und Effekte soundbasierter Publikumsinvolvierung
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Assoziationen: Punchdrunk
»The history of Sleep No More as a project – it actually came from sound, it came from old classic film noir soundtracks that actually was a birth for a lot of ideas originally« (deliriumdog, 2012). Punchdrunk-Regisseur Felix Barrett hat in mehreren Interviews darauf verwiesen, dass die Entwicklung von Sleep no more aufs Engste mit der Ästhetik von Film-noir-Filmen verknüpft ist, insbesondere mit der Wirkungsästhetik ihrer Soundtracks. Bereits die Londoner Vorläufer-Produktion The Drowned Man spielte in dem fiktionalisierten Hollywood-Studio der sechziger Jahre The Temple und verweist zusammen mit der konzeptuellen Idee, die maskierten Zuschauer*innen wie bei Alma auch in der Funktion von Kameras selbstständig durch das Filmset flanieren zu lassen, auf den Einfluss, den der Film als Kunstform grundsätzlich auf die Performanceinstallationen von Punchdrunk hat. Zuschauer*innen erhalten die Möglichkeit, durch ihre physische Mobilisierung mit den Parametern Perspektive, Distanz, Fokussierung und Dauer zu experimentieren und damit gleichsam die subjektive Point-of-View-Einstellung in einem eigenen ephemeren Film zu besetzen. Barrett bezeichnet Sleep no more auch als »living movie« (Barrett/White, 2015), der gleichsam während seiner Entstehung miterlebt werden kann.
Da Punchdrunk bei Sleep no more im Gegensatz zu allen anderen Arbeiten meines Korpus auf verbale Sprache als Ausdrucksmittel verzichtet, erhält neben der Ausstattung (inklusive ihrer Beleuchtung und der Materialität der verwendeten Möbel, Stoffe und Requisiten) und der Körpersprache der Tänzer*innen vor allem das Sound design eine zentrale Bedeutung für die Hervorbringung der szenischen Weltversion(en). In dem Maß, in dem Filmmusik bei der emotionalen Involvierung der Zuschauenden in die Diegese mit-wirkt, setzt Barrett für Sleep no more auf die affektive und emotionalisierende Wirkmacht eines vielschichtigen Sounddesigns (vgl. Barrett/Poupart, 2017). Theaterwissenschaftler George Home-Cook weist auf den engen Zusammenhang von Sounddesign und Zuschauer*innen-Manipulation im Kontext von Theateraufführungen hin:
The word «design», both as a verb and as a noun, is not only inherently associated with intent, but with trickery, deception, and manipulation. […] Theatre sound design not only «demands» but manifestly manipulates our attention, and, in so doing, plays an important role in shaping theatrical experience. […] Theatre sound design is thus not only «destined» to be perceived, but specifically intends to direct the attentional focus of the audience (Home-Cook, 2015, S. 59f., Hervorhebungen i. O.).155
Das Sounddesign ist in Sleep no more ein entscheidendes Element der Publikumslenkung und -einbeziehung. Analog zur Filmmusik erfüllt es in der Inszenierung verschiedene sinnvermittelnde, stimmungserzeugende und dramaturgische Funktionen. Josephine Machon systematisiert in der von ihr herausgegebenen Punchdrunk-Enzyklopädie vier verschiedene Funktionen, die dem »Soundscore« (Machon, 2019, S. 13) in Produktionen wie Sleep no more zukommen: 1. Musikbeispiele können zur Evokation einer historischen Periode oder geografischen Umgebung beitragen (vgl. ebd., S. 263) und 2. Imaginationen jenseits der haptisch-realen Installation hervorrufen (vgl. ebd.). 3. Eine (intermediale) Zitatfunktion kommt insbesondere orchestralen Zwischenspielen aus Filmkompositionen zu (vgl. ebd.). 4. Besonderheiten in den Kompositionen (wie Crescendos) dienen den Performer*innen als Zeichen für einen Szenen- oder Raumwechsel (vgl. ebd. sowie S. 13). Die Theaterwissenschaftlerin Amy Herzog hebt in diesem Zusammenhang noch eine weitere, gerade für die Publikumsinvolvierung entscheidende Funktion des Soundscapes hervor, nämlich eine orientierungsstiftende Funktion im Raum, die aufs Engste mit der viszeralen Wirkung der Sounds zusammenhängt:
Sound orients us within unfamiliar environments and creates a visceral connection among body, space, and the experience of movement. […] Likewise, sound and music in the installation can remind us that we’ve been in this room before, creating a sonic map that allows us to navigate toward a desired location (Herzog, 2013, S. 9f.).
Mit Blick auf den Analysefokus der Publikumsinvolvierung durch Sounds in Sleep no more gilt es nun, die fünf von Machon und Herzog genannten Funktionen an Beispielsequenzen aus der Aufführung genauer zu erläutern und sie bezüglich der Zuschauer*innen-Involvierung noch einmal zu differenzieren sowie zu ergänzen. Ich vertrete dabei die These, dass das Soundscape maßgeblich dazu beiträgt, den Gast auf einer imaginären, körperlichen und affektiven Ebene in das Aufführungsgeschehen wie auch den gestalteten Mikrokosmos einzubeziehen.
Es ist bezeichnend, dass Machon, die in ihrer Punchdrunk-Forschung zumeist produktionsästhetisch argumentiert, den Begriff des »Soundscores« und Herzog mit ihrer rezeptions- und wirkungsästhetischen Perspektive jenen des »Soundscapes« verwendet. Denn an der Stelle eines dramatischen Textes bildet bei Sleep no more gewissermaßen das Soundscore das festgelegte Skript für die szenischen, vorwiegend choreografierten Einheiten. Mit Ausnahme der Einführung und Begrüßung des Publikums im Fahrstuhl gibt es keinen einzigen Ort innerhalb des szenografierten Bereichs in Sleep no more, an dem es still ist, an dem nicht mindestens ein leiser Ambient-Sound ertönt. Wie eine der zahlreichen Fan-Blogger*innen der Produktion dargelegt hat, lässt sich nachweisen, wie den einzelnen Etagen, Räumen und Szenensequenzen auch verschiedene Musikgenres, Kompositionen oder Klangkulissen zugeordnet sind (vgl. paisleysweets, 2013). In der Tat hat Sounddesigner Stephen Dobbie für die New Yorker Version von Sleep no more die insgesamt neunzig szenischen Räume in verschiedene »sound zones« (Dobbie, 2015) eingeteilt. Insgesamt gibt es 17 Soundzonen, für die es jeweils einen einstündigen eigens zusammengestellten Soundtrack gibt, der entsprechend der Loop-Struktur der Aufführung pro Abend insgesamt dreimal komplett wiedergegeben wird (vgl. ebd.). Die 17 auf die szenischen Räume verteilten Soundtracks und das Loop-Prinzip bilden also ein zentrales Strukturelement der Inszenierung, wonach sich nicht nur die Tänzer*innen, sondern auch die Zuschauer*innen, insbesondere wenn es sich um wiederkehrende Gäste der Produktion handelt, im Aufführungsablauf orientieren können. Denn für einmalige Besucher*innen von Sleep no more ist diese Struktur meines Erachtens kaum zu erfassen.156 Auf der Erfahrungsebene des Erstbesuchs dominiert die Überfülle der sinnlichen Wahrnehmungsangebote, die eher Empfindungen der Überforderung und Desorientierung begünstigt. Faktisch wird jede*r Zuschauer*in – vorausgesetzt sie/er leidet nicht an einer Einschränkung des Hörsinns –, ob er/sie es will oder nicht für die Dauer von drei Stunden von einer komplexen Klanglandschaft aus verschiedenen vorproduzierten Klangtypen (Songs, Orchestermusiken und Ambient-Sounds) umschlossen. Wie bei Alma geht auch bei Sleep no more mit der Mobilisierung der Zuschauer*innen im szenischen Raum eine Singularisierung der Aufführungserfahrung einher. Gemeinsam ist den beiden Produktionen zudem die Tendenz, ihre Zuschauer*innen angesichts der räumlichen Ausmaße des Spielortes, der detailreichen Ausstattung und der Simultaneität stattfindender Szenen zunächst affektiv wie kognitiv zu überfordern und zu desorientieren. Im Unterschied zu Alma muss ich als vereinzelter Gast in den Weiten des szenografierten Mikrokosmos von Sleep no more allerdings überhaupt erst einmal auf Performer*innen treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind Zuschauer*innen – oder »narrator-visitors«, wie das Publikum in der Punchdrunk-Forschung zuvorderst bezeichnet wird (vgl. Bartley, 2012; Biggin, 2017) – gewissermaßen ihrer eigenen proaktiven Erkundung der szenischen Räume überlassen. Mit Verlassen des Fahrstuhls nach der Einführungssequenz, in der auch das Anlegen der Maske erfolgt, wird man als Zuschauer*in nicht nur räumlich, sondern auch auditiv umschlossen.
Das Soundscape drängt sich dem Gast dabei zunächst durch die unverhältnismäßig wirkende Lautstärke regelrecht auf.157 Damit wird zum einen sichergestellt, dass Zuschauer*innen zum »Aufhorchen« (Rost, 2017, S. 240) gebracht werden und nicht nur der Raum-, sondern auch der affizierenden Soundwahrnehmung ihre Aufmerksamkeit widmen. Zum anderen erzeugt das aufdringliche Soundscape im Hinblick auf die Wahrnehmung des eingerichteten Mikrokosmos einen Verfremdungseffekt – vor allem da, wo es nicht als illusionsfördernde Geräuschkulisse eingesetzt wird, sondern die über den Raum und die Ausstattungsdetails vermittelte Weltwahrnehmung von der Soundwahrnehmung eher kontrastiert oder ›übermalt‹. Dies habe ich bei meinem Aufführungsbesuch vor allem im obersten Stockwerk sowie in Transitzonen, d. h. in Fluren oder Treppenhäusern, wahrgenommen. An diesen Orten entsteht trotz der detailreichen, realistischen Ausstattung nicht der Eindruck, in einem mimetisch szenografierten Abbild einer geschlossenen, konzisen Wirklichkeitsrepräsentation zu flanieren.158 Im Gegensatz zu Alma repräsentiert der szenische Raum von Sleep no more nicht eine bestimmte Lebenswelt, sondern reiht äußert disparate Lebensbereiche aneinander. So durchschreite ich z. B. in der obersten Etage nicht nur zwei Räume, die mit ihren Betten und Badewannen an ein Sanatorium erinnern, sondern auch ein Indoor-Labyrinth aus Ästen und Sträuchern, eine Hütte, in der mich eine Performerin zum Tee und Handlesen einlädt, und eine Art von Empfangszimmer, in dem ein aus umliegenden Büchern herausgestanztes Papiermuster einen Vorhang bildet. Keiner dieser szenischen Räume kommt dabei ohne eine Form musikalischer oder klanglicher Beschallung aus. Während das Soundscape in diesen Bereichen eine Art markierende Funktion hat, insofern es je nach Genre oder Klangqualität geradezu ›expressiv‹ an der Evokation einer spezifischen Stimmung mit-wirkt, erfüllt es in anderen Bereichen wie z. B. der auf der vierten Etage eingerichteten fiktiven Kleinstadt Gallow Green die von Machon benannte Funktion, den Gast mit Blues- und Jazz-Liedern von Peggy Lee, Jack Buchanan oder The Ink Spots in die »early-WWII period in US and UK history« (Ricci, 2012, S. 2) bzw. in die Vorstellungsbilder, die man von dieser Zeit z. B. über die Rezeption von Filmen oder Musikstücken hat, zurückzuversetzen.
Ähnliches passiert beim Durchschreiten der Wohnung der McDuff-Familie einen Stock tiefer. Hier hat das eingesetzte Liedgut zuweilen auch eine illustrierende und, ja, narrative Funktion, insofern Schlaflieder wie »Goodnight Children, Everywhere« von Vera Lynn (1940) oder »Lights out« von Greta Keller aus den dreißiger Jahren159 in der gestalteten Intimsphäre der Privatwohnung etwas Besänftigendes, Beruhigendes ausstrahlen und zugleich etwas über die Figur der Lady McDuff erzählen. Mit Theaterwissenschaftlerin Sabine Schouten wäre die soundbasierte Zuschauer*innen-Involvierung hier mit dem Begriff der »Einstimmung« beschrieben, insofern das Publikum durch das Liedgut und dessen Wahrnehmung an der Evokation einer semiotisierten Atmosphäre teilhat, die sowohl eine leiblich-affektive als auch eine potentiell narrative Wirkungsdimension betrifft (vgl. Schouten, 2011, S. 208ff.).
Die von Machon genannte, intermediale Zitatfunktion des Soundscores kommt vor allem dort zum Tragen, wo auf verschiedenen Etagen und in Transit-Räumen Auszüge aus den von Bernard Herrmann komponierten Soundtracks zu Hitchcock-Filmen wie Rebecca, Vertigo und Der Mann, der zu viel wusste gespielt werden. Um als Zitate zu wirken, müssen sie vom Publikum erkannt werden. Auch wenn Dobbie und Barrett Musikbeispiele nach ihrem »degree of familarity« (Dobbie, 2015) auswählen, werden sicher die wenigsten Zuschauer*innen angesichts der Breite musikalischer Referenzstücke alle Beispiele (wieder-)erkennen können. Ich habe bei meinem Besuch nur eine Sequenz aus Vertigo identifiziert. Dabei flossen bei mir die beiden erinnerten Filmmotive vom titelgebenden Schwindelgefühl aufgrund der Höhenangst des Protagonisten und die Wiederkehr einer toten Geliebten als sinnstiftende Assoziationen in Prozesse der Aufführungswahrnehmung und Bedeutungsgenerierung ein. Das Schwindelgefühl stellt überdies ein somatisches Motiv dar, das jenseits der filmischen Referenz mit meiner Erfahrung als Erstbesucherin der Aufführung korrespondierte. Denn angesichts der schier unendlichen Dichte und Vielfalt an klanglichen, aber auch visuellen Referenzen, potentiellen Zeichen und Symbolen, die alle suggerieren, mit den der Inszenierung zugrunde liegenden Stoffen – Macbeth, die Paisley-Hexenprozesse, Rebecca u. a. – in einem Zusammenhang zu stehen, und angesichts der Tatsache, dass man vereinzelt in diese Wirklichkeitssimulation, die nicht nur einen, sondern zahlreiche Mikrokosmen zu verschachteln scheint, hineingeworfen wird, ohne zu wissen, was passiert, wurden bei mir durchaus auch temporäre Empfindungen von Schwindel ausgelöst.
Tatsächlich verwenden Barrett und Dobbie in ihrem Soundscape von Sleep no more nicht nur verschiedene Filmmusiken, sondern eignen sich auch bestimmte dramaturgische Techniken von Filmmusik fürs Theater an, so z. B. die Mood- oder (auf Richard Wagners Operndramen zurückgehende) Leitmotiv-Technik (vgl. Bullerjahn, 2001, S. 83ff.). Im Fall von Hitchcocks Rebecca ist es z. B. das Leitmotiv des Flashbacks bzw. Déjà-vu, das zum einen auf das Narrativ der Film- (und Roman-)Handlung und zum anderen analog zum Schwindel auf eine mögliche somatische Reaktion der involvierten Zuschauer*innen rekurriert und von der Ebene der Soundwahrnehmung, sprachlich präziser im Sinne eines ›Déjà-entendu‹, ausgelöst wird (vgl. auch deliriumdog, 2012). Während die soundbasierten Leitmotive orientierungsstiftende Effekte zeitigen, ist man sich in der Sleep no more-Forschung einig, dass zahlreiche narrative Leitmotive lediglich eine affizierende Funktion haben und damit im Grunde »MacGuffins« seien (vgl. u. a. Dailey, 2012; Oxblood, 2012). Dabei handelt es sich um einen Ausdruck, den Alfred Hitchcock für seine Filme erfunden hat, um damit »im Rahmen narrativer Darstellungen (Mimesis) den Einsatz mehr oder weniger sinnfreier Motive, die trotz ihrer im Verlauf einer Geschichte entlarvten Nichtigkeit Erwartungsspannung erzeugen und die Hauptstränge narrativer Handlungsfolgen maßgeblich antreiben« (Voss, 2019, S. 55), zu bezeichnen. Leitmotiv-Zitate aus den der Inszenierung zugrunde liegenden Referenzwerken erfüllen also weniger eine konkrete narrative Funktion, sondern versetzen den vereinzelten Zuschauer*innen vielmehr im Sinne des in Kapitel 2.2.3 erläuterten emotional storytelling einen affizierenden Impuls, der sich je nach affektiver Disposition in Spannung, Neugier oder auch Resignation verwandeln und damit Einfluss auf den individuellen Szenenparcours nehmen kann.
Neben der Funktion des Soundscapes, Zuschauer*innen über Assoziationen, Erinnerungen und Empfindungen in ein dichtes und zugleich äußerst fragmentarisiertes Netz kultureller Referenzen und Imaginationen einzubeziehen, kommt dem Soundscape mit seinem Potential, unmittelbar auf den Körper einzuwirken, auch eine dezidiert einnehmende und lenkende Funktion zu. Amy Herzog spricht in diesem Zusammenhang wie bereits zitiert von einer spezifischen viszeralen Wirkung des Soundscapes (vgl. Herzog, 2013, S. 9). Hierbei kommt die dezidierte Relationalität von Körper, Raum- und Soundwahrnehmung im immersiven Aufführungsdispositiv zum Tragen, insofern bestimmte Klangqualitäten, Tempi oder Lautstärken Körper auf eine Weise affizieren können, dass diese unmittelbar reagieren müssen. Z. B., indem der Puls ansteigt, das eigene Lauftempo zu- oder abnimmt oder eine andere somatische Reaktion wie das Auftauchen von Gänsehaut oder Lampenfieber aufkommt. Diesen Effekten soundbasierter Involvierung ins Aufführungsgeschehen sind Zuschauer*innen in Sleep no more physisch ausgesetzt, da sie auf einer Ebene wirken, auf die sie kaum im Stande sind, bewusst Einfluss zu nehmen.160
Die Körper synchronisierende Kraft, die von einigen Sounds innerhalb des Soundscapes von Sleep no more ausgeht, ist dabei jedoch nicht als eindimensional und damit im negativ konnotierten Sinne als Manipulation von Zuschauer*innen misszuverstehen. Vielmehr wirken Zuschauer*innen-Körper an diesen Prozessen relational mit. Zum einen, indem Prozesse »affektiver Resonanz« (Mühlhoff, 2015, S. 1013, dt. TS) für den individuellen Aufführungsbesuch relevant werden. Damit sind Situationen gemeint, in denen ein*e Zuschauer*in im reziproken Zusammenwirken von eigenen affektiven Dispositionen und umgebendem affektiven Arrangement, welches das immersive Aufführungsdispositiv von Sleep no more meint, bestimmte Bezugsweisen situativ ausagiert, die individuell verschieden sind und den eigenen Aufführungsparcours mitbestimmend prägen. So z. B. das fluchtartige Verlassen einer Szene, weil sie Unwohlsein oder Angst auslöst, der spontane Flirt mit einem*r Performenden während eines One-on-Ones, das Mit-Tanzen in der Rave-Szene, ein längerer Aufenthalt in einem szenischen Raum, der aus irgendeinem Grund Interesse geweckt hat, etc. Zum anderen zeigt sich die Mit-Wirkung der Zuschauenden auch dort, wo sie sich gezielt vom Soundscape (ver-)einnehmen lassen, wie die Beschreibung von Jonathan Martin, Blogger und Mehrfachbesucher von Sleep no more, offenlegt:
This time when I got inside, I intentionally slowed down walking through the maze. I listened to the music, and let it overcome me as I hadn’t in a long time. And the music hit that crescendo just as I emerged into the red glow of the Manderley anteroom. It was beautiful! And I was home. Again (Martin, o. J.a).
Der Mehrfachbesucher passt sich hier mit seiner Laufgeschwindigkeit dem Soundscape vorsätzlich an, sodass Höhepunkt des Musikstücks und seine Ankunft im szenischen Raum der Manderlay Bar zusammenfallen und die emotionalisierende Wirkung entsprechend intensiviert wird.
Das Soundscape von Sleep no more involviert seine Zuschauer*innen in einen szenischen Mikrokosmos, der sich auf der Ebene der visuellen wie auch der auditiven Wahrnehmung aus verschiedenen, fragmentarisch montierten Referenzen zusammensetzt und unterschiedlichste Bilder des kulturellen Imaginären – vom Motiv des Königsmordes über Hexen-Figurationen und Prophezeiungen bis zu Film-noir-Figuren wie dem verzweifelten Detektiv und der gefährlich schönen, ihn in den Abgrund treibenden Femme fatale – zu evozieren vermag. Über die Verwendung musikalischer Leitmotive liefert das Soundscape Orientierungsangebote und trägt insbesondere über die verwendeten Filmmusiken und Ambient-Klänge zu Emotionalisierungsprozessen bei, die hauptsächlich im Bereich der suspense angesiedelt sind. Während im Sinne der Polyperspektivik durchlebter Zuschauer*innen-Erfahrungen einige Theaterwissenschaftler*innen und Fan-Blogger*innen in ihren Interpretationen zur Auffassung gelangen, dass man als Zuschauer*in von Sleep no more in eine Traumwelt eingelassen (vgl. u. a. Flaherty, 2014), ja, selbst in die Rolle eines*einer träumenden Protagonist*in versetzt werde, dessen*deren Weltwahrnehmung es nachzuempfinden gelte (vgl. Ricci, 2012, S. 2), hatte ich eher den Eindruck, dass die Dichte und Überfülle an Stimuli, Zeichen und multisensorisch wahrnehmbaren Narrationsfragmenten und -motiven in Sleep no more das eigene Imaginations- und Empfindungsvermögen lähmt. Dabei wird einem buchstäblich vor Augen geführt, in welchem Maße selbst Musikbeispiele, Klänge und Sounds insbesondere durch die Filmindustrie Hollywoods mit bestimmten Bildern belegt sind161; und eben auch in welchem Maße bestimmte Genres wie der Film noir an der strukturellen Erzeugung bestimmter Emotionen und Weltwahrnehmungsweisen mitzuwirken vermögen.
Das an die Vielzahl unterschiedlicher, szenischer Räumlichkeiten gebundene Soundscape von Sleep no more involviert seine Besucher*innen in einen theatralen Mikrokosmos, der einer visuellen und auditiven Collage kultureller Referenzen aus einem spezifischen (westlichen, anglophonen) Kontext gleichkommt.162 Zuschauer*innen werden Teil dieses Mikrokosmos, indem sie ihn sich durch das Wiedererkennen von Zitaten und Motiven, der Dekodierung bestimmter Zeichen und dem situativen Nachspüren evozierter Atmosphären und von diesen ausgehenden Emotionalisierungen imaginär, körperlich und affektiv aneignen. Das Weltverhältnis von Zuschauer*innen und Mikrokosmos ist ein durch und durch medial vermitteltes, das nicht in Relation zu einer außertheatralen Realität, sondern zu einer intermedialen Hyperrealität steht. Mit Florian Leitner könnte man sagen, dass Zuschauer*innen hier am eigenen Leibe und Vorstellungsvermögen nicht nur etwas über die Geschichte ihres eigenen Bilderkonsums erfahren, sondern auch darüber, wie sie als Subjekte einer kulturellen und symbolischen Ordnung immer schon in die Bilder, die diese Ordnungen konstruieren und reproduzieren, eingelassen sind: »To be immersed in cultural framework means to be immersed in images – and vice versa« (Leitner, 2011, S. 108). Und dass ebendiese Bilder gerade auch über Sounds evoziert werden können.
155 Home-Cook verfolgt in seiner Studie das Ziel, »a theory of theatrical attending to sound« (Home-Cook, 2015, S. 11) zu entwickeln. Entlang seiner Aufführungsbeispiele (darunter auch die immersive Produktion Kurskvon Sound and Fury) arbeitet er Konzepte wie jene des »singing out«, »zooming in« oder »stretching out« (ebd., S. 154 – 167) zur phänomenologischen Beschreibung verkörperten Soundwahrnehmens in Theateraufführungen heraus; eine theoretisch ähnliche Richtung verfolgt Rost, 2017. Mir geht es in diesem Unterkapitel allerdings nicht um die Theoretisierung von Soundwahrnehmungen, sondern um die Analyse bestimmter soundbasierter Strategien, mit denen Zuschauer*innen involviert werden.
156 Vgl. dazu auch Amy Herzog: »Over the course of two visits, I spent 6 hours within the performance space and made a concerted effort to visit and listen to every space within the installation. Yet, with such a vast amount of territory to cover, and with the sonic elements constantly shifting within each of those rooms as the cast stages multiple, simultaneous encounters across each floor, and with certain areas opening and closing at various points throughout the evening, one individual can only encounter a fraction of the performance and hence only a fraction of the sound design« (Herzog, 2013, S. 4).
157 Hier beziehe ich mich primär auf meine eigenen Aufführungserfahrungen von Sleep no more am 3.5.2017 in New York.
158 Wobei man im Falle der Punchdrunk-Arbeiten mit Karen Zaiontz präziser von einer »high-speed anti-flâneurie« (Zaiontz, 2014, S. 412f.) sprechen müsste, angesichts des Tempos, das manche Zuschauer*innen in den Aufführungen an den Tag legen, um einzelnen Tänzer*innen/Figuren durch die Räume zu folgen.
159 Da ich diese Musikstücke freilich nicht alle während meiner einen Aufführungssichtung wahrnehmen und erkennen konnte, beziehe ich mich hier maßgeblich auf die Ausführungen aus dem Fan-Blog »Back to Manderlay«, siehe paisleysweets, 2013.
160 Ähnliches betrifft die Involvierung der Zuschauer*innen auf einer kinästhetischen Ebene, die von der Bewegungssprache und -qualität der Tänzerinnen ausgeht und für komplexe Affizierungsdynamiken mitverantwortlich ist.
161 Das wohl berühmteste Filmbeispiel in dieser Hinsicht – Fantasia (USA 1940) – stammt aus dem Produktionshaus Disney. Der Film besetzt insgesamt neun klassische Orchesterwerke, darunter Strawinskis Le Sacre du Printemps, Tschaikowskis Nussknacker-Suite oder Der Zauberlehrling von Paul Dukas mit bestimmten (figuralen wie abstrakten) bildlichen Vorstellungen. Schaut man diesen Film – wie ich selbst auch – in der Kindheit, dann bleiben die verschiedenen Musiken noch lange Zeit mit diesen Bildern besetzt und verhindern damit eine Begegnung mit der Musik.
Dass das Soundscape vor allem die Evokation von Vorstellungsbildern unterstützt, könnte auch damit zusammenhängen, dass Stephen Dobbie gelernter Fotograf ist und sein Soundscape sehr stark in Analogie zur visuellen Dramaturgie der szenischen Räume gebaut ist.
162 Aus diesem Grund haben Barrett und sein Team beim Transfer der Inszenierung nach Shanghai zahlreiche Referenzen ausgetauscht. An die Stelle von Macbeth tritt z. B. das chinesische Märchen The white snake und die Aufführung spielt im fiktiven McKinnon Hotel im Shanghai der dreißiger Jahre, vgl. Machon, 2019, S. 260.