Die dramatische Situation des Theaters der frühen Neuzeit
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lob des Realismus (05/2015)
Assoziationen: Theatergeschichte
Die erste große Zäsur in der Entwicklung der dramatischen Situation findet sich im Theater der Renaissance.53 Der Mensch tritt hier anders auf die Bühne als in der Antike oder im Mittelalter. Er ist nicht mehr Teil einer Polis oder ein Kind Gottes, sondern seine Zugehörigkeit und damit seine Identität sind ihm selbst fraglich geworden. Die Figuren in der neuzeitlichen dramatischen Situation sind Rollenspieler. Sie betreten die Bühne des Theaters immer schon in einer doppelten Funktion. Ebenso wie der Alltagsmensch seine Umwelt als ein großes grausames Spiel erlebt, betreten die Figuren des Renaissance-Dramas als Schauspieler die Bühne, auf der sie nun eine Rolle vor Gott und den Menschen zu spielen haben. Der Alltagsmensch, der Schauspieler und seine Figuren, sie alle sind Schauspieler ihrer eigenen Identität.
Das neuzeitliche Subjekt beginnt sich auf der Bühne des Alltags wie des Theaters zu bilden. Das Wesen der Identität wird dabei zuerst fraglich und in der Folge zum Spiel mit virtuosen Behauptungen. Die Formenvielfalt der dramatischen Situationen nimmt dementsprechend rasant zu. Es treffen nunmehr Figuren aufeinander, die voreinander Theater spielen und dieses in unterschiedlichem Maße reflektieren können. Es gibt die naiven Spieler, die lediglich ahnen, dass sie nur Teil einer großen unverstandenen göttlichen Komödie sind....