Achtung, Verachtung und Anerkennung
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)
Der Mensch ist ein kränkbares Wesen. Es gehört zu den schärfsten Waffen der sozialen Interaktion, jemandem die Achtung zu verweigern. Moral hat in allen Gesellschaften eine zentrale Funktion, denn sie regelt die Zuteilung von Achtung oder die Bestrafung durch Missachtung. In letzter Instanz verurteilt sie zum sozialen Tod durch Ächtung.
Die Regeln, nach denen Achtung oder Missachtung verteilt werden, sind fundamental für das Fortbestehen von Gesellschaften. Darum sind die Kämpfe um die Moral von besonderer Härte, denn sie entscheiden über die Regeln, nach denen Menschen leben und soziale Hierarchien entstehen. Wird die Achtung so verteilt, dass sich viele davon ungerecht behandelt fühlen, droht ebenso der Aufstand wie durch eine Missachtung, die die Falschen trifft. Da die Regeln der Moral weitreichende Konsequenzen für das Zusammenleben haben, ist ihre Organisation besonders anspruchsvoll. Da es nur geringer intellektueller Anstrengung bedarf, um moralisch zu sein, und ein moralisches Auftreten zugleich Vorteile verspricht, ist der Missbrauch vorprogrammiert. Die philosophische Ethik und die Religionen stellt das vor große Herausforderungen. Denn sie müssen nicht nur den Missbrauch der moralischen Attitüden eindämmen, sondern auch die anspruchsvolle Frage bearbeiten, wann eine moralische Regel gut ist und wann sie schlecht sein kann. Die Unterteilung in die Gesinnungs- und Verantwortungsethik hat...