Theater der Zeit

Magazin

Wie frei ist Frei?

von Joachim Fiebach

Erschienen in: Theater der Zeit: Dickicht der Städte – Shermin Langhoff über die Dialektik der Migration (04/2017)

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Der über sechshundert Seiten starke Band stellt wesentliche Formen und Probleme der europaweiten Kunstbewegung vor, die in Deutschland als Freies Theater gilt, frei als ungebunden im Unterschied zum sogenannten institutionalisierten, traditionell stark kommunal-staatlich getragenen (angebundenen) Theaterwesen.

Braunecks längere Einleitung umreißt die verschiedenen Perspektiven, unter denen die Bewegung zu sehen ist. Sie geht über den im Titel genannten engeren Zeitraum auf historische Entwicklungslinien ein, weist auf die ästhetischen und organisatorischen Wechselbeziehungen mit dem institutionalisierten Theater, sucht Bewegungen des Theaters wie eben die Herausbildung freier Gruppen seit den Fünfzigern im Kontext der soziopolitischen internationalen Prozesse nach 1945 zu deuten, setzt dabei den weitreichenden Umbruch der verkrusteten Theaterlandschaften in den sechziger Jahren in Beziehung zu den kulturrevolutionären Massenbewegungen mit dem historisch-symbolischen Höhepunkt der heftigen Pariser Auseinandersetzungen Mai 1968. Der Umbruch bedeutete die radikale Überwindung der alten engen europäischen Vorstellung (und Praktik), dass Theater ein spezielles Gebäude für die Vorführung dramatischer Literatur ist, und entfesselte die enorme gestalterisch-kommunikative Vielfalt theaterkünstlerischer Tätigkeiten. So enthält der Band ausführliche Studien zur „Situation der zeitgenössischen, experimentellen Tanz-, Choreografie- und Performancekunst in Europa (1990–2013)“ (Petra Sabisch), zu „Freies Kindertheater in Europa seit 1990. Entwicklungen – Potenziale – Perspektiven“, in der Tine Koch wesentliche Aspekte der Theaterformen für Kinder bis zwölf Jahren beleuchtet, und zu „Spielarten Freien Musiktheaters in Europa“, mit der Matthias Rebstock die weiten Möglichkeiten (Formen) freier musikbestimmter Darstellungen von Musiktheater wie der Oper Neukölln bis zu Konzerten/Aufführungen experimenteller neuer Musik diskutiert. Das Kapitel „Die Freien Theater in den postsozialistischen Staaten Osteuropas. Neue Produktionsformen und theaterästhetische Kreativität“ (Andrea Hensel) stellt Gruppen und Inszenierungsweisen u. a aus Ungarn, Rumänien, Slowenien, Serbien, Polen vor, eine wichtige analytische Skizze zu Theaterarbeiten, die in der deutschen Diskussion relativ wenig beachtet werden.

Der Beitrag „Theater für die Postmoderne in den Theaterlandhaften Westeuropas“ (Hennig Fülle), wohl gedacht als Studie zur Situation im vor allem gleichsam traditionell kapitalistischen Europa, ist bruchstückhaft, pauschalisierend-ungenau und problemunbewusst, gleichsam ein Fremdkörper unter den anderen gediegen analytischen Untersuchungen. Die Behandlung der Situation in Deutschland wird ausgeklammert. Henning Fülle verweist auf seine Dissertation zur freien Szene und auf sein Buch „Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010)“. Er referiert das als postmodern gesehene Programm, das den Diskurs in der Zeitschrift Theaterschrift, nicht zuletzt mit Bezug auf niederländische Theatermacher, in den Neunzigern bestimmte. Die hier herangezogenen Künstler seien Leitfiguren für neue Produktionsweisen. Neben ihnen gebe es eine Vielzahl junger Truppen, die „von sich selbst aus“ neue Theaterarbeit kreieren. Welcher Art diese genau sind, wird nicht genannt, geschweige denn hinterfragt. Die sich anschließenden Abschnitte wiederholen im Wesentlichen nur das, was Brauneck 2007 in seinem Buch „Die Welt als Bühne“ allgemein zum Theater in den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Skandinavien, Finnland, der Schweiz, Österreich und Italien nach 1945 skizziert hatte.

Der Teil „Theater und Migration. Dokumentation, Einflüsse und Perspektiven im europäischen Theater“ (Azadeh Sharifi) ist eine analytisch genaue, sehr kenntnisreiche, umsichtig problematisierende Studie. Die Erfahrungen der Künstler, deren Arbeiten hier thematisiert werden, so Sharifi, beruhen mehr auf gesellschaftliche Exklusion und Marginalisierung als auf spezifische Erfahrungen der Migration. Sharifi fasst sie unter dem Begriff artists of color. Er beziehe sich „auf alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, pazifische, arabische, jüdische oder indigene Herkünfte oder Hintergründe verfügen. Er verbindet diejenigen, die durch die weiße Dominanzkultur marginalisiert sowie durch die Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenz kollektiv abgewertet werden.“ In einem Länderüberblick (u.a. Niederlande, Schweden, Großbritannien und Frankreich) verfolgt Sharifi historisch-konkrete Migrationsbewegungen und geht dann auf Arbeiten von artists of color und postmigrantisches Theater ein. In Deutschland z. B. begannen seit den späten Siebzigern mit Roberto Ciulli (Theater an der Ruhr) und türkischen Künstlern (u. a. Arkadas Theater in Köln) Migranten wesentliche Akzente zu setzen. 2010 fand das Ballhaus Naunystraße als „erste sowie bis anhin einzige postmigrantische Institution Eingang in die Theaterlandschaft Deutschlands“, und 2013 wurde Shermin Langhoff als erste artist of color Intendantin der institutionalisierten Produktionsstätte Maxim Gorki Theater. In England bildeten artists of color und Migranten seit den Siebzigern zahlreiche Gruppen. Tara Arts (1976) war die erste asiatisch-britische Theatertruppe, die asiatisch-britischen Künstlern eine Plattform bot. Ihr künstlerischer Leiter Jatinder Verma inszenierte dann auch als erster British-born Asian am National Theatre London.

Übereinstimmend stellen die genauen, kritischen Analysen zum freien Tanz-, Kinder- und Musiktheater ein Hauptproblem aus – die zunehmende Einengung, Einschränkung künstlerischer kreativer Arbeit im Zuge der neoliberalen Kulturpolitik seit den Neunzigern. Die Einkommensverhältnisse haben sich dramatisch verschlechtert, zitiert Petra Sabisch den Report „Darstellende Künste“ von Wolfgang Schneider aus dem Jahr 2010. Es sei ein unsoziales System, geprägt durch Selbstausbeutung, „das die kreativen Potentiale unserer Gesellschaft bei jeder Sonntagsrede beschmust, aber im Alltagshandeln die (Menschen-)Rechte der Künstler mit Füßen tritt.“ Tina Koch stellt fest: Freies Kindertheater in Europa ist heute als education in the arts und education through the arts wesentlicher Faktor der kulturellen Bildung, deren grundlegende gesellschaftliche Bedeutung die UNESCO und europäische Aktionsprogramme betonen. Sie zeigt die enormen kreativen Möglichkeiten und die Breite der Gestaltungsweisen Formen des Kindertheaters auf, setzt dann dagegen die absolute finanzielle Unterversorgung besonders der Freien Gruppen. Die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages hebt hervor, dass Förderleistungen für den Erhalt kultureller Vielfalt und hochwertiger kultureller Bildungseinrichtungen im öffentlichen Interesse, doch nun werde es Zeit, dem Taten folgen zu lassen, in ganz Europa. Den letzten Abschnitt ihrer Untersuchung überschreibt sie: Wider die freimarktwirtschaftliche Vereinnahmung von Kunst und Kultur!

Joachim Fiebach

Manfred Brauneck und das ITI Zentrum Deutschland (Hg): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik. (transcript) Theater, Bielefeld 2016.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Das Ding mit dem Körper. Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater
Theaterregisseur Yair Shermann