Theater der Zeit

Kapitel 1: Einleitung und Überblick. Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

Ästhetik in der afrikanischen Kritik

von Julius Heinicke

Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)

Assoziationen: Wissenschaft Afrika

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Seit einiger Zeit steht der Begriff der Ästhetik in der Kritik, andere Kultur- und Wahrnehmungstraditionen zu überlagern, zu missverstehen oder schlichtweg nicht zu begreifen. Wieso sollte ein Konstrukt abendländischen Denkens auf performative Praktiken anderer Kulturen bezogen werden, die keinen Autonomieanspruch von Kunst einfordern, sondern explizit gesellschaftliche Wirkungsversprechen formulieren? Oder mag diese Kontextualisierung gerade ratsam sein, da die klassische Kunstästhetik einem Denken entspringt, welches die Kolonisation nicht nur hervorgebracht hat, sondern deren Strukturen stetig untermauert? So kann ebenso der Vorwurf neokolonialen Gebarens laut werden, wenn Theater jenseits Europas und Nordamerikas nicht unter dem Terminus der Ästhetik beleuchtet und so ausgeschlossen wird, zumal Modelle des Ästhetischen – erzwungenermaßen durch die Kolonisation – seit Langem fester Bestandteil gegenwärtigen Kunstschaffens und deren wissenschaftlicher Reflexion in Afrika sind. Auch sollte die Frage in den Vordergrund rücken, ob die westlichen Theoretiker und Philosophen auf dem Feld ästhetischer Diskurse nicht eine Reihe von Impulsen und Ideen aus anderen Kulturen aufgenommen haben. Eine vielleicht gut gemeinte Verbannung der Ästhetik käme dem Akt einer neokolonialen Negation gleich. Neben der Suche nach Entlehnungen aus anderen Kulturen sollte der Blick auf Konzepte außerhalb Europas und Nordamerikas gerichtet werden, welche Theorien der Ästhetik bereits richtungsweisend überarbeitet haben, wie es beispielsweise im postkolonialen Afrika der Fall ist.

In der Betrachtung rezenter Forschungen der afrikanischen Theaterwissenschaft springt zunächst die Kritik am zwanghaften Dichotomisieren innerhalb abendländisch geprägter Theaterdiskurse ins Auge. Der Vorwurf, dass andere, nicht-abendländische Theatertraditionen im westlichen Kontext als binärer Gegensatz gesetzt werden, erinnert an die Kritik an Hegels Herr-und-Knecht-Metapher. So resümiert der südafrikanische Theaterwissenschaftler Temple Hauptfleisch durchaus selbstkritisch:

Thus the tendency for many Western-trained academics (myself included) to view the most obvious general distinctions between regional theatre systems (African and Western theatre, for instance) as a set of binary opposites (e.g. theatre as religious ritual as opposed to theatre as art, theatre as social ritual as opposed to theatre as entertainment, orality versus literacy, text versus performance, etc.) is perhaps a misreading of the history of performance over the centuries by people who have been trained to look for certain kinds of structures and expecting to find distinguishing signs of difference – and thus, inevitably, finding what they are looking for. Perhaps, if such apparent binaries do exist, then they are not so much binary opposites as two extreme but linked points on a continuum of meaning.34

Kene Igweonu argumentiert in eine ähnliche Richtung und fordert die gegenwärtige Theaterforschung auf, binäre Gegensätze, nach dem Muster afrikanisch-europäisch oder kolonial-indigen gestrickt, weniger in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen: „We have rather endeavoured to move away from the imprecise tendency to construct indigenous and literary theatre traditions and practices in Africa as binaries, and instead offered them as a matrix of African theatre and performance.“35 Auch ich bin während meiner Forschungsaufenthalte im südlichen Afrika für meine Dissertation über Theater in Zimbabwe der zwanghaften Dichotomisierung auf den Leim gegangen. Angeregt von der kritischen Weißseinsforschung, meine Position in anderen Kulturen stets zu hinterfragen, habe ich als reflektierter Wissenschaftler während einer Unterrichtsstunde, die ich über Brecht am Theaterdepartment der Universität in Harare gehalten habe, die Studierenden gefragt, ob nicht die Anwendung von westlich tradierten Theateranalysemethoden im afrikanischen Kontext hinterfragt und differenziert werden müsse. Sie entgegneten mir, dass das eine typische Problemstellung eines Gastwissenschaftlers aus Europa sei und argumentierten, dass diese Techniken – gezwungenermaßen seit der Kolonisation – heutzutage ebenfalls Teil der afrikanischen Theaterkultur sind. Wieso solle hier die Differenz immer wieder betont werden, fragten sie.36 Meine „gut gemeinte“ Trennung von europäischen und afrikanischen Theaterwissenschaften ist kolonialen Ursprungs, auch wenn die Motivation hierzu dies zunächst nicht vermuten lässt. Nichtdestotrotz sollten in internationalen oder interkulturellen Forschungsarbeiten Begriffe und Termini wie „Ästhetik“, deren Entstehungsgeschichte primär einer bestimmten kulturellen Tradition zugeordnet werden, sorgfältig daraufhin überprüft werden, ob ihr Gebrauch sinnvoll ist beziehungsweise inwieweit sie für das jeweilige Untersuchungsfeld weiterentwickelt werden können.

Bei Betrachtung der Theorie zu afrikanischem Theater fällt zunächst auf, dass der Begriff „Ästhetik“ von den Autoren weniger kritisch gesehen wird als zum Beispiel die Verwendung europäischer Sprachen in afrikanischen Theaterstücken.37 Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Positionen skizzieren. David Kerr vereidigt in einem eher rechtfertigenden Ton die Anwendung westlich geprägter Ästhetik-Terminologie, da sich Theorieschulen, die auf präkoloniale afrikanische Phänomene jenseits westlicher Diskurse rekurrieren, erst im Aufbau befinden:

Eventually Africanists may develop a way of describing pre-colonial performing arts in Africa by reference to indigenous aesthetic terms. Until those terms are researched, agreed upon at a Pan-African level and widely understood, we have to make do with the European terms. This makes my omnibus adjective ‚pre-colonial‘ a necessary, but ahistorical imprecision.38

Osita Okagbue, Tanure Ojaide, Bayo Ogunjimi und Abdul-Rasheed Na’Allah verwenden in ihren Arbeiten zu African Performances dagegen ganz selbstverständlich ästhetische Terminologie.39 Wie bereits erwähnt, greifen afrikanische Kulturen auf ein breites Spektrum performativer Traditionen zurück, die in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten eingesetzt werden. Auffällig ist, dass die Autorinnen und Autoren das Vokabular des Ästhetischen nutzen, um einerseits die Räume und die Handlung der Performance vom alltäglichen Tun abzugrenzen und anhand dieser eine besondere Sphäre beschreiben, in welcher die unterschiedlichen Ebenen afrikanischer Kosmologie wirksam werden. So stellen Ogunjimi und Na’Allah in ihrem Schlusskapitel von Introduction to African Oral Literature and Performance (2005) fest:

Whatever the debate or argument, this situation creates a forum for negating the Eurocentric perceptions of some foreign scholars, who do not accept the functional-aesthetic relevance of African orature. African cultural aesthetics as we argue in Section 1 has generic link with African cosmology. The aesthetic of African orature cannot be discussed without the functionality of the cosmic realm.40

Andererseits wird in dem Zitat offensichtlich, dass soziale, pädagogische und kulturpolitische Aspekte der Performances ebenfalls Teil des Ästhetischen sind. Das hier deutlich werdende breite Anwendungsspektrum zeigt sich bereits in der Verwendung der Pluralform „Aesthetics“, welche all diesen Werken gemein ist.

Okagbue argumentiert ebenfalls, wie eng in afrikanischen Performances soziokulturelle, pädagogische und ästhetische Aspekte miteinander verzahnt sind und sich diese Formen deshalb nicht auf ein einzelnes ästhetisches Konzept reduzieren lassen.41 Sein letzter Satz in African Theatre and Performances verdeutlicht die besondere Funktion des Ästhetischen, sozial-gesellschaftliche Gefüge sowohl zu bewahren als auch zu wandeln: „They all still perform the aesthetic and social functions which they had always provided for their cultures; they have expanded their themes and increase their contexts, absorbed influences to cope with newer and changing realities and, in all this, they have held on to their aesthetic principles.“42 Ästhetik ist dieser Lesart folgend nicht nur als ein Scharnier zwischen Tradition und Neuerung zu verstehen, sondern auch als ein politisch bedeutsamer Raum, der zwischen den Welten agiert.

Dieser Tradition folgend, zeigt Mbembe, inwieweit künstlerisches Handeln in afrikanischen Gesellschaften einerseits tradiertes Wissen erlebbar macht, andererseits dieses aufbricht und neu auslotet:

Es gehört zu den typischen Merkmalen künstlerischen Schaffens, dass sich am Ursprung des Schaffens stets eine gespielte Gewalt, ein gespieltes Sakrileg und eine gespielte Überschreitung finden, von denen man hofft, dass sie das Individuum und die Gemeinschaft aus der Welt, wie sie war und wie sie ist, heraustreten lassen. Diese Hoffnung auf die Freisetzung verborgener und vergessener Energien, die Hoffnung, dass sichtbare und unsichtbare Kräfte am Ende zurückkehren, dieser verborgene Traum einer Wiederauferstehung der Lebewesen und Dinge, genau das ist die anthropologische und politische Grundlage der klassischen schwarzen Kunst. In ihrem Mittelpunkt steht der Körper als wesentlicher Einsatz der Bewegung der Mächte, als privilegierter Ort der Enthüllung dieser Mächte und als Symbol par excellence für jede menschliche Gemeinschaft konstitutiven Schuld, die man erbt, ohne es zu wollen, und die man niemals vollständig abzulösen vermag.43

Auch hier wird dem Ästhetischen eine politische Funktion zugesprochen, indem es unmittelbar mit dem sozialen und metaphysischen Sein verknüpft wird und so eine bedeutende Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Verortung und Reflexion innehat:

Denn für die Gemeinschaften, deren Geschichte so lange von Demütigung und Erniedrigung geprägt war, bildete das religiöse und künstlerische Schaffen oft die letzte Bastion gegen die Kräfte der Entmenschlichung und des Todes. Diese beiden Formen schöpferischer Tätigkeit hatten tief greifenden Einfluss auf die politische Praxis. Im Grunde waren sie stets deren metaphysische und ästhetische Hülle, gehört es doch zu den Funktionen der Kunst und der Religion, die Hoffnung auf einen Ausstieg aus der Welt, wie sie war und ist, zu nähren, dem Leben zu einer Wiedergeburt zu verhelfen und das Fest fortzuführen.44

Okagbue und Mbembe schätzen die westliche Herkunft ästhetischer Terminologie nicht als problematisch ein. Vielmehr verknüpfen sie in ihrer Definition bestimmte künstlerische, soziale, kulturelle, politische und religiöse Ebenen miteinander und geben dem Diskurs neue Impulse. Ästhetik kann besonders in Zeiten großer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse eine bedeutende Rolle spielen, da mit ihr ein Verhandlungsmoment zwischen Traditionen, politischen Bedingungen und sozial-gesellschaftlichen Neuerungen erschaffen werden kann.

Die komplexen Bedeutungsebenen ästhetischen Schaffens in Afrika können für die Analyse von Verhandlung von Vielfalt richtungweisende Impulse geben. Vergegenwärtigt man sich die Theaterproduktionen aus dem Prolog um das Themenfeld Flucht, so scheint eine Erweiterung des Spektrums des Ästhetischen um soziopolitische, kulturelle und pädagogische Aspekte, wie er in der Theorie zum afrikanischen Theater üblich ist, sinnvoll. Gerade im Verhandeln diverser kultureller Hintergründe, Geschichten und Traditionen ist eine Vorstellung von Ästhetik, die metaphysische, spirituelle, politische Ebenen gleichsam beinhaltet wie das Verfremden von Tradiertem, Möglichkeiten der Überschreitung, des Wandels und der Öffnung und Verknüpfen von Gewohntem und Nichtgewohntem, Bekanntem und Nichtbekanntem, vielversprechend. Mit Blick auf das deutsche Theater muss jedoch festgestellt werden, dass dieses Potenzial des Ästhetischen bei Weitem nicht erschöpfend genutzt wird.

34Hauptfleisch, Temple: „Foreword“, in: Kene Igweonu (Hg.): Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance, Amsterdam 2011, S. 13 – 14; Hervorhebungen im Original.

35Igweonu, Kene: „Striding Out: Emergent Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance“, in: Ders. (Hg.): Trends in Twenty-First Century African Theatre and Performance, Amsterdam 2011, S. 31.

36Diese Szene beschreibe ich ebenfalls in meiner Dissertationsschrift, vgl. Heinicke: How to Cook a Country, S. 7.

37So argumentiert Ngũgĩ wa Thiong’o, dass aufgrund der symbolischen und linguistischen Wirkungsmacht Dekolonisierung nur möglich ist, wenn nicht-koloniale, afrikanische Sprachen mit präkolonialem Ursprung in Literatur und Theater verwendet werden. (ũgĩ wa Thiong’o: Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature, London, Portsmouth 1986)

38Kerr, David: African Popular Theatre, London 1995, S. 1.

39Bei Ojaide wird dies bereits im Titel sichtbar: Ojaide, Tanure: Theorizing African Oral Poetic Performance and Aesthetics, Trenton u. a. 2009.

40Ogunjimi, Bayo/Na’Allah, Abdul-Rasheed: Introduction to African Oral Literature and Performance, Trenton, Asmara 2005, S. 242.

41Okagbue, Osita: African Theatre and Performances, London 2007, S. 20.

42Ebd., S. 193.

43Mbembe: Kritik, S. 317, Hervorhebungen im Original.

44Ebd., S. 316, Hervorhebung im Original.

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