Auftritt
Theaterhaus Hildesheim: Kennen Können Beherrschen
„SO TUN“ von und mit VOLL:MILCH – Bühne und Kostüm Anne Ferber
von Theresa Schütz
Assoziationen: Theaterkritiken Niedersachsen VOLL:MILCH Theaterhaus Hildesheim
Nicht nur zur Vorhersage möglicher zukünftiger Ereignisse, auch für die Einübung bestimmter Fähigkeiten kommen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen vielfach Szenariotechniken zur Anwendung. Konsultiert man die lateinische Wortherkunft von „Szenarium“, stößt man auf die Wendung eines „Ortes, wo die Bühne errichtet wird“. Und Theaterliebhaber:innen kennen den Begriff vielleicht auch noch als dasjenige Verzeichnis, das sämtliche Vorgänge vom Requisiteneinsatz, Kostüm- oder Bühnenbildwechsel bis zum Schauspieler:innen-Auftritt festhält. Was vielen allerdings weniger bekannt sein mag, ist die enge Verflechtung von Theater und Militär, die sich historisch verbürgt am Szenario und seinen immersiven Praktiken körperlichen Probehandelns aufzeigen lässt.
Eben hierzu hat das Hildesheimer Theaterkollektiv VOLL:MILCH, bestehend aus Stephan Mahn, Sebastian Rest, Birk Schindler und Ekaterina Trachsel, in enger Zusammenarbeit mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anne Ferber eine zweiteilige Arbeit mit den sprechenden Titeln „ALS OB“ und „SO TUN“ erdacht, die zeitversetzt am Theaterhaus Hildesheim Premiere feierte. Die Kollektivmitglieder von VOLL:MILCH haben sich während ihres Studiums der Szenischen Künste bzw. Inszenierung der Künste und Medien in Hildesheim kennengelernt und interessieren sich in ihrer Zusammenarbeit seit 2011 insbesondere für ästhetische Prozesse der De-Montage. Zwischen Theorie und Praxis verortet, verwenden sie wissenschaftliche wie auch künstlerische Recherchetechniken, deren Ergebnisse sie in szenischen Instellationen mit ihren Publika barrierearm teilen. Im Herbst 2023 widmeten sie sich gesellschaftlichen Bühnen, die zu Kriegsschauplätzen werden (ALS OB) und diesen Oktober dem komplementären Verhältnis von Krieg und Körper (SO TUN). Dafür beschäftigen sie sich nicht nur inhaltlich mit verschiedenen Szenariotechniken aus dem Feld des Militärs, sondern gestalten ihren Theater-Doppelabend auch selbst als Szenario. Als offensichtliche theatrale Realitätskonstruktion mit festgelegten Handlungsanweisungen in Raum und Zeit.
Die Besucher:innen von SO TUN versammeln sich zu Aufführungsbeginn an einem Modell des Theaterhauses. Sie werden von den Performer:innen in Anzügen, die liebevoll aus verschiedenen Trainingskleidungsstücken zusammen collagiert wurden, über den nahenden Bewegungsablauf ihrer Körper im Raum in Kenntnis gesetzt. Zudem werden sämtliche Personen vorgestellt, die VOLL:MILCH während der Recherchephase interviewt hat, darunter z.B. Martin Koopmann, Leiter der Polizeireiterstaffel Hannover, oder Kathrin Pfeiffer, Polizistin und Ausbilderin mit Fokus auf Gendersensibilität. Ihren Stimmen werden wir im Verlauf mehrfach begegnen. Und mit ihnen – wie bereits in ALS OB – auch den verschiedenen Arbeitsorten, wo Soldat:innen Szenen eines möglichen Kampfeinsatzes im Als-ob-Modus unter Einsatz von Darsteller:innen, Maske und Requisiten simulieren können.
Im ersten Raum sind wir eingeladen, verschiedene Utensilien wie ballistische Schutzplatten, Munitionshülsen, Handbücher, Trainingspuppen und Tarnmaterial zu begutachten. Parallel dazu werden den Dingen durch montierte Interviewpassagen Anwendungsgeschichten beigegeben (z.B. über die Entstehung von Gruppengefühl, die Erläuterung von Trefferzonen, die bei Schießübungen anvisiert werden oder die Abläufe der Rettungskette bei Verletzungen). In einem zweiten Raum geht es dann vor allem um die verschiedenen körperlichen Techniken, Übungen und Choreografien, die es nach dem Motto „vom Leichten zum Schweren“ in der Militärausbildung zunächst zu kennen, dann zu können und letztlich zu beherrschen gelte. Wie am besten stehen beim Schießen? Wie fallen, wie salutieren, wie am Platze drehen? Wie den eigenen Körper mittels Pflanzen oder auch Müll im öffentlichen Raum tarnen?
Das dritte Setting – im gleichen Raum, aber vor Publikum, das nun immobilisiert auf der Podesterie Platz genommen hat – entfaltet die Kernthese des Abends, die auf Martin Kutz und seinen Forschungen zur Kulturgeschichte des Militärs zurückgeht: dass sich nämlich nicht nur hinsichtlich der Entstehungszeit, sondern auch mit Blick auf die spezifische, an Leistungsgrenzen reichende Disziplinierung des Körpers Ballett und Militär besonders nahe stünden. Auf der Leinwand werden hierfür historische Abbildungen der Schweizergarde mit Ballettelevinnen zusammengestellt und unendlich vervielfältigt, um schließlich von Bildern aus dem Fitness-Bereich – stellvertretend für die jüngste Mainstream-Variante eisernen Körperdrills – komplettiert zu werden. Worauf werden diese entindividualisierten Körper eigentlich vorbereitet? In einem Zitat ist von resilienten Körpern als Abschreckungsmittel die Rede, auch von wehrhaften Bürgern mit Körpern als Maschinen.
Die Themen auf diese Weise zu de-montieren, impliziert eine kritische Haltung zu ihnen. Diese schwingt auch dort mit, wo sich miterzählt, dass die regelmäßige Wiederholung körperlicher Trainingsformen (gerade, wenn sie wie in Militär oder Fitnessindustrie in bestimmte Ideologien gebettet sind) auch Identität und Zugehörigkeitsempfinden formt. Letztlich ist es am Publikum frei zu entscheiden, ob es diese Perspektivierung teilt oder ob uns andere Szenarien einfallen würden, wie Körper auf verschiedenste Zukünfte besser vorbereitet werden könnten.
Erschienen am 14.10.2024