Theater der Zeit

Auftritt

von Simone von Büren

Erschienen in: Theater der Zeit: Christoph Hein und Ingo Schulze: Rasender Stillstand – Fragen an die deutsche Wirklichkeit (10/2013)

Assoziationen: Bühnen Bern

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Über die schmutzige Leinwand zieht eine karge Schwarz-Weiß-Landschaft. Darin verliebt sich ein Clown in eine Seiltänzerin und stirbt, als sie weggeht, an gebrochenem Herzen. Er hinterlässt, in schwarzer Tinte gezeichnet, ein Märchen über Zwillinge, die nach der Geburt getrennt in unterschiedlichen Verhältnissen aufwachsen – das Mädchen bei den armen Bauerneltern, der Junge beim unfruchtbaren Königspaar – und sich als Jugendliche wiederbegegnen und ineinander verlieben.

Jahre später findet der Sohn des Clowns – unterdessen selbst Clown mit weißem Hut – dieses Märchen und erzählt es der Welt. Der Schweizer Schauspieler und Regisseur Michael Finger spielt diesen jungen Clown voller Leidenschaft, Hingabe und Ungeduld. Mit seiner bunt aufgestellten Truppe Cirque de Loin gibt er den tragischen Stoff in einer halsbrecherischen Mischung aus feiner Melancholie und grober Komik wieder und bedient sich dabei bei Zirkus, Countrymusik, Schauspiel und Stummfilm.

Die kreideverkritzelte Holzscheibe, mobile Manege, will nicht so recht auf die Stadttheaterbühne passen und ragt in den Zuschauerraum. Umgeben von bürgerlichem Goldstuck und Purpursamt stehen darauf selbstbewusst ein verbeultes blaues Auto, ein wackeliger, mit alten Fotos geschmückter Pavillon, ein Pingpongtisch auf Rädern, heruntergebrannte Kerzen in leeren Weinflaschen. Quer durch den Raum ist ein Seil gespannt, auf dem bei Einlass ein Mädchen balanciert. Die Kartoffeln, die erst als Jonglierbälle dienen, landen in der Suppe, die während der Vorstellung auf der Bühne gekocht und am Ende von der Kompanie gegessen wird, wozu auch das Publikum eingeladen ist.

Das Publikum wird überhaupt oft angesprochen, in guter alter Zirkusmanier und im lustvollen Spiel mit der Aufführungssituation selbst, mit den dankbaren Komikmomenten des Scheiterns und Schummelns, der Pannen und Krisen. Die Kartonkrone rutscht dauernd vom Kopf und wird am Ende als Toilette benutzt. Der klavierspielende Clown läuft mitten im Song davon und outet die Musik als Playback. Und auch sonst geht vieles drunter und drüber bei Cirque de Loin, Sprachen und Körper, Text und Musik. Mit großer Energie und in rasendem Tempo springt das Ensemble von der Geschichte des Clowns zum Märchen über die Zwillinge, vom Geburtsschrei der Bäuerin zum streitenden Königspaar, das sich seinen Thronfolger erkauft, und von der verwackelten Stummfilm-Umarmung zum herzzerreißenden Liebeslied.

Was durch die Kombination dieser verschiedenen Ebenen möglich gewesen wäre, wird nur punktuell sichtbar: etwa wenn der König gleichzeitig wütend ist über die Verweigerungshaltung des Publikums und die Brautwahl seines Adoptivsohns. Oder wenn die Seiltänzerin mit „C’est fini. J’en ai plus envie de jouer“ („Es ist vorbei. Ich habe keine Lust mehr zu spielen“) sowohl die Beziehung mit dem Prinzen beendet als auch ihren Auftritt. Da wird etwas spürbar von der Vermischung von „Realität“ und Spiel, mit der die Kompanie experimentiert, deren Mitglieder seit Probenbeginn als Künstlergemeinschaft zusammengelebt haben – wie im Zirkus eben.

Anders als in Zirkus und Stummfilm wird in „The Fool and the Princesses“, einer Koproduktion des Konzert Theater Bern mit dem Stadttheater Klagenfurt, der Association du Château de Monthelon und dem Musikfestival Bern, viel geredet: auf Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch und Schweizerdeutsch. Es wird gestritten und kommentiert, rezitiert, gebrüllt und erklärt. Klar wird dabei vor allem eins: Mit Worten müsste man ebenso präzise und sorgfältig umgehen wie mit Bewegungen und Noten. Nur dann könnten sie poetisch werden und die aufwühlend rohe Kraft gewinnen, die in „The Fool and the Princesses“ Musik und Akrobatik in den besten Momenten haben, etwa wenn der Prinz seiner seiltanzenden Geliebten nacheifert und dabei immer wieder ausrutscht und auf die verbeulte Motorhaube kracht. Oder wenn dem adoptierten Bauernsohn, jämmerlich fehl am Platz im Königshaus, auf seinen Rollschuhen der Boden unter den Füßen wegrutscht. Das sind die Bilder, die in Erinnerung bleiben, zusammen mit den klagenden Singstimmen, den balancierenden, hängenden, wirbelnden Körpern und dem todtraurigen Clownsgesicht, stumm, auf der schmutzigen Leinwand. //

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