Theater der Zeit

Editorial

von Dorte Lena Eilers, Claus Caesar und Harald Müller

Erschienen in: Arbeitsbuch 2013: Dimiter Gotscheff – Dunkel das uns blendet (07/2013)

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Bulgare. Anarchist. Empfindsamer Barbar. Theater der Zeit widmet das Arbeitsbuch 2013 einem der bedeutendsten Regisseure des deutschsprachigen Theaters: Dimiter Gotscheff, einem kongenialen Textarchäologen und Sprachexegeten, dessen Begegnung mit Heiner Müller für ihn und seine Kunst lebensentscheidend war. „Müllers Stücke gingen mir direkt in den Körper und meine Gedärme.“

1943 in Bulgarien geboren, kam Dimiter Gotscheff 1962 nach Ostberlin, wo er Veterinärmedizin studierte, bald aber zur Theaterwissenschaft wechselte und bei Benno Besson und Fritz Marquardt assistierte. Für Aufsehen sorgte er zunächst in der Provinz: an den Bühnen der Stadt Nordhausen, deren Theaterleitung er 1977 mit Heiner Müllers „Weiberkomödie“ konfrontierte. Ein irrer Abend, bei dessen Proben regelmäßig die SED-Kreisleitung zu Gast war, nur mäßig darüber amüsiert, welches Bild sich ihnen da bot: „… und der Parteisekretär (oder war es der Kaderleiter) … rannte nun noch einmal und noch einmal hinter die Ecke zum Onanieren (?), / und all die vielen, vielen Brigademitglieder, die da herumtanzten, / … und das alles ganz WALPURGISNACHTMÄSSIG …“, erinnert sich Lothar Trolle in diesem Buch.

Dem Theatergott sei Dank: Der Voodoo ging trotzdem weiter. In Sofia, wieder mit Müller, erlebte Gotscheff seinen Durchbruch. 1982 inszenierte er dort am Dramatischen Theater Müllers „Philoktet“. Nachts, vor leeren Rängen – die Zuschauer seitlich auf der Bühne platziert. Eine Aufführung, die zum Mythos wurde; eine Tragödie, die ganz Gegenwart war: „Die gähnende Weite, die Geräusche der Nacht, das Wandern der Ratten – die Ägäis, die Insel Lemnos die Drehbühne. Disposition eines sich durch Verbannung sichernden, die Gesellschaft ihrer Kräfte beraubenden, sich selbst entleerenden Machtapparates“, schreibt Wolfgang Storch. Das Publikum war wie hypnotisiert – auch der Autor selbst. „In der Körpersprache Eurer Aufführung (…) habe ich diese Übersetzung von Text in Theater gesehen, die Transformation der Fabel vom Stellplatz der Widersprüche zur Zerreißprobe für die Beteiligten, den Widerstand der Körper gegen die Notzucht durch den Sachzwang der Ideen“, heißt es in dem berühmten Brief Heiner Müllers an Dimiter Gotscheff. Sätze, die viele Theaterleiter neugierig machten, dieses „finstere Balkansubjekt“ (Gotscheff über Gotscheff) endlich kennenzulernen. Also auf nach Sofia! – Auch Klaus Pierwoß war dabei und lud ihn für „Quartett“ sogleich an sein Kölner Theater ein. Fast über Nacht wurde Gotscheff dadurch berühmt. Er habe mit „Quartett“, schreibt Pierwoß, in das mitteleuropäische Theater eine neue Phantasie eingebracht, „mit der dem Stücktext im Darstellerischen neue Dimensionen hinzugewonnen wurden, die sich bei aller Strenge und Stringenz in der Regieführung durch spielerische Intensität auszeichneten“. Eine bereits von Müller umrissene Theaterkunstauffassung, an deren Ausdifferenzierung der Regisseur bis heute arbeitet.

Vier Jahrzehnte Gotscheff-Theater! Eine Ära, in deren Verästelungen dieses Arbeitsbuch hemmungslos wildert. Sechs Referenzinszenierungen werden in Erinnerung gerufen, einzigartige Theaterabende zwischen 1977 und 2013, begleitet von Texten, die Kollegen und Mitstreiter „für Mitko“ schrieben, beginnend bei Bibiana Beglau, Margit Bendokat und Josef Bierbichler und nicht endend bei Valery Tscheplanowa und Patrycia Ziółkowska. Profunde Essays steuern Stefanie Carp, Frank Raddatz, Ulrike Haß und Till Briegleb bei, während Gotscheffs Chef-Bühnenbildner Katrin Brack und Mark Lammert ihren ganz eigenen Blick auf das Theatergenie präsentieren. Dem Buch beigegeben ist die Film-DVD „homo ludens“ – ein Gotscheff-Porträt von Ivan Panteleev.

Da aber der Kunst, „die aus den Abgründen der Existenz selbst sich erhebt, kaum damit gedient sein kann, dass man ihr den Mantel der Seriosität umhängt“, wie Frank Raddatz schreibt, haben wir Wolfram Koch gebeten, Gotscheffs Lieblingswitze zu erzählen. Und der Rest? Nun ja – ist Schweigen. Oder?

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