Institution
Im besten Fall bin ich ein Veränderter
André Benndorff, Melanie Lüninghöner, Martin Weigel und Christoph Frick über Spezialisten, Stadtrecherchen und die Öffnung des Schauspielerberufs im Gespräch mit Bodo Blitz
von Martin Weigel, Christoph Frick, Bodo Blitz, André Benndorff und Melanie Lüninghöner
Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)
Assoziationen: Schauspiel Baden-Württemberg
Christoph Frick: Während der Intendanz von Barbara Mundel hat sich das Theater Freiburg sehr intensiv und konkret mit der Stadt und deren Bewohnern, auch mit spezifischen Orten auseinandergesetzt. Inwiefern spielt das eine Rolle für euch als Schauspieler?
Melanie Lüninghöner: Mein erstes Engagement hier in Freiburg bekam ich direkt nach der Schauspielschule. Von Anfang an forderte das hiesige Theater den Schritt hinaus in die Welt, was ich total spannend fand. Es ging damals darum, infrage zu stellen, was der Schauspielerberuf ist, ihn vielleicht zu erweitern, zu öffnen: Was können Schauspielerei und Theater sein in einer Stadt? Man war gefordert, sich mit der Stadt auseinanderzusetzen. Es gab ein großes Interesse, Projekte mit Laien zu machen und Menschen mit ihren je eigenen Geschichten, Fähigkeiten und Kenntnissen als Spezialisten ins Theater zu holen. Das war spannend. Irgendwann kam allerdings bei mir der Punkt, an dem ich auf einmal das Gefühl hatte: Jetzt wird mein Beruf gerade derart infrage gestellt, dass es anfängt, mir Angst zu machen. Als würde mein Beruf aufgelöst. Deswegen verließ ich nach dreijährigem Engagement das Haus. Manchmal muss man weggehen, um zu erfahren, was man hatte. Über die Erfahrung des Weggehens begriff ich: Wenn ich weiter Theater machen will, dann kann es nicht in einem elitären Raum stattfinden. Das bedeutete aber auch, dass ich mich in der Art und Weise, wie ich auf der Bühne agiere, verändern muss. Als ich 2012 wieder nach Freiburg zurückkehrte, hatte ich die Verbindung zwischen beidem gefunden: Es kam etwas zusammen und war ab da größer als das, was es vorher war.
Martin Weigel: Die Erfahrung der einzelnen Arbeiten ist schauspielerisch extrem wichtig, weil sie einen Effekt ausübt auf das, was danach kommt. Und diese Erfahrung ist hier in Freiburg ausgesprochen vielfältig gewesen. Nicht nur in der Zusammenarbeit mit Laien, sondern auch durch unsere ortsspezifischen Projekte außerhalb des Theaters, zum Beispiel im Finkenschlag, einer leer stehenden Kneipe im Stadtteil Haslach. Das waren alles Versuche, die in den besten Fällen immer etwas herausfinden wollten. Ich bin als Schauspieler aber auch an einen Punkt gekommen, an dem ich mich gefragt habe: Wie komme ich jetzt hier noch vor? Das hat für mich etwas damit zu tun, dass es in der Theaterlandschaft immer auch um die Sichtbarkeit eines Theaters geht. Was macht uns hier in Freiburg besonders, was ist unser Aushängeschild? Deshalb kann es für mich nicht darum gehen, möglichst viele partizipative Projekte mit Nicht-Profis zu machen. Das wäre mir als Künstler zu wenig. Mich interessiert die künstlerische Unbedingtheit, etwas nur auf eine einzige Art tun zu können. Mit Nicht-Profis oder ohne. Wenn das gelingt, bin ich begeistert. Es muss um die künstlerische Relevanz einer Produktion gehen.
André Benndorff: Ähnliches habe ich hier vor ein paar Jahren empfunden. Da wurde man als Schauspieler geradezu angegriffen von dramaturgischer Seite: Ihr Schauspieler wollt da nur herumstehen, schön sein und fühlen. Und angehimmelt werden. Mach weniger, spiel das schlanker, das waren dramaturgische Rückmeldungen damals. Wenn du als Schauspieler in diesem Sinne attackiert wirst, dann verunsichert das. Da ging es mir ähnlich wie Melanie. Tatsächlich passiert etwas, wenn man als Schauspieler seinen Schutzraum Bühne verlässt. Dann gibt es keinen Weichzeichner mehr um einen herum. Das Aufeinandertreffen mit der Realität ist viel härter, es macht mich als Spieler auch nervöser. Gleichzeitig macht diese Erfahrung etwas mit einem, das faszinierend ist. Was ich mitnehme nach solchen Prozessen, ist, dass ich die gleiche Nervosität empfinde, wenn ich in eine konventionelle Spielsituation zurückkehre. Ich merke: Wenn ich mich zu wohl auf der Bühne fühle, dann stimmt etwas nicht. Es braucht diese Ecken und Kanten des Verhandelns, die der Zuschauer hautnah mitbekommt.
Bodo Blitz: Nehmen Sie einmal die Begriffe „Irritation“ und „Wahrheit“ mit dazu, wenn Sie das Wechselverhältnis von Innen und Außen, Schutzraum und Realität in der Intendanz Mundel beschreiben. Geht das?
Benndorff: Ich denke, ja. Vor ein paar Jahren sprach ich mit einer Zuschauerin, die auf mich zukam. Sie meinte, das Theater Freiburg habe sie als Zuschauerin verdorben. Geprägt durch verschiedene Stadtteilprojekte, empfinde sie Produktionen auf einer klassischen Guckkastenbühne inzwischen als langweilig. Und zwar deshalb, weil sie nicht als Zuschauerin mitgenommen und nicht genug irritiert werde. Sie merkte, dass sie süchtig geworden sei nach einem Theater, das sie dazu auffordere, teilzuhaben an dem, was passiert, sich unmittelbar wie als zwölfter Mann beim Fußball mit auf die Bühne zu begeben, zumindest gedanklich. Eine mögliche und spannende Funktion des Theaters, wie ich fand.
Weigel: Wir hatten eine sehr interessante Erfahrung in Christophs Inszenierung von „Ein Volksfeind“. Es gibt ja in dieser Inszenierung den Moment, wenn die Zuschauer die normale Sehkonvention verlassen. Wir begeben uns aus der Situation heraus, wo das Publikum unten im Saal sitzt und wir oben auf der Bühne stehen. Wir gehen von der Bühne ab auf die Hinterbühne. Das war sehr irritierend für viele Leute, sich aus diesem Schutzraum, dieser Komfortzone herauszuwagen. Auf einmal gibt es keine klare Rollenverteilung mehr. Das Publikum steht zusammen mit den Schauspielern auf der Hinterbühne und wird in Form einer Bürgerversammlung Teil eines Happenings. Das erlaubt einen sehr viel direkteren Kontakt im Spiel. Die Parameter ändern sich. Die Zuschauer sind jetzt nicht nur Zuschauer, sondern werden automatisch, als Teil einer Bürgerversammlung, auch zu Mitspielern und sind im einen Moment unser Partner und im nächsten Moment unser Gegner. Es gab immer eine Menge Reaktionen. Einmal skandierte eine kleine Gruppe: „Wir wollen unser Wasser trinken!“ Im „Volksfeind“ geht es ja um verseuchtes Wasser. Das kann man sich nicht ausdenken.
Wie empfanden Sie diesen Punkt der Öffnung als Regisseur?
Frick: Es war immer ein Nervenkitzel dabei, wenn die Zuschauer den Schauspielern auf die Hinterbühne folgten. Als den noch riskanteren Moment empfand ich, wie das dann wieder zurückging. Es war großartig, dass das in diesem Haus auch möglich war. Ich hatte den Eindruck, dass es eine Art Agreement zwischen Schauspielern und Zuschauern gab, die Räumlichkeiten und dieses Haus anders mitzubekommen, die Perspektive wechseln zu können. Für mich war es einer der tollsten Momente, als sich im fünften Akt ein Teil der Zuschauer wieder ins Parkett setzte, um sich den Schluss in der Version von Ibsen anzuschauen, andere hingen in den offenen Türen, und ein weiterer Teil blieb auf der Hinterbühne und verfolgte einen ganz anderen Schluss. Dort hielt die Figur des Bürgermeisters, von uns durch identische Kostüme verdreifacht, eine Rede gegen die Machenschaften des Badearztes. Dieser blieb auf der Vorderbühne schließlich alleine zurück, da die abgespielten Figuren nach und nach zu den drei Bürgermeistern auf die Hinterbühne wechselten. Da wusstest du plötzlich: Den Zuschauern und Schauspielern gehört in diesem Moment das Haus. Wir verhandeln mit unserer Ibsen-Inszenierung Kleinstadtpolitik, und in der großen Kulturinstitution dieser kleinen Stadt konnte man sich in diesem Haus, was ja alle mitbezahlen, auf einmal sehr frei bewegen und sich ganz konkret für eine eigene Perspektive auf das Stück entscheiden.
Komfortzone, Irritation und Wahrheit – wie sieht das bei Ihnen aus?
Lüninghöner: Gestern las ich, dass Performance als eine Art der Auflösung von Regelverhalten zu verstehen sei. Damit konnte ich sehr viel anfangen. Dazu passt folgende Anekdote: Als ich hier wegging aus Freiburg, habe ich an einem anderen Haus während eines Probenprozesses auf der großen Bühne Jacke und irgendwelche Klamotten weggeworfen. Während ich spielte, dachte ich: Wo sind denn jetzt meine Klamotten? Die waren seitlich zum Inspizienten geflo en. Ich bin dann während des Spielens auf die Seitenbühne ab, um meine Klamotten zu holen. Mein Kollege hörte sofort auf zu spielen, weil ich die Bühne verlassen hatte. Das war hochinteressant. Da ist mir klar geworden, dass es viele, sag ich jetzt mal, klassische Theaterregeln gibt, die für mich gar nicht mehr existent sind oder sich verändert haben. Man verhandelt einen Inhalt miteinander, egal wo man steht, und wenn ich zum Inspizienten gehe und mit dem währenddessen rede, bin ich immer noch im Inhalt. Diesen Begriff von Regelauflösung oder von dem, was klassische Schauspielkunst bedeutet, finde ich sehr spannend.
Frick: Mich interessieren als Regisseur natürlich die Auswirkungen auf eure Spielweisen, wenn ihr klassische Stücke spielt oder wenn ihr in diskursiven Projekten, auch mit Laien, arbeitet. Wie bereitet ihr euch etwa für Shake speares „Heinrich IV.“ vor oder für unser Projekt mit Hartz-IV-Empfängern und Obdachlosen, die „Bettleroper“?
Benndorff: Bei den Stücken gibt es ja erst einmal den Text, den es zu knacken gilt. Einerseits kann man sehr dankbar sein, weil man weiß, was man sagt. Andererseits gibt es diesen Moment des Unnatürlichen in der Aneignung: Wie schaffe ich es, mich mit meiner Figur zu reiben und zum Kern der Übernahme dieser Figur zu kommen? Bei Projekten wie „Bettleroper“ steht für mich hingegen der Prozess im Vordergrund, bei dem ich noch gar nicht weiß, wohin sich das Ganze entwickeln wird. Welche Fragen uns in dieser Produktion interessieren, müssen wir erst einmal klären. Man redet deshalb auch viel mehr, man umkreist in einem weiten Zirkel wie ein Hai die Beute, bis man merkt: Das ist es, wo ich zubeißen will, das interessiert uns. Erst wenn das gelungen ist, geht es in einem zweiten Prozess um die Energie, die das erfordert. Wenn ich als Schauspieler mit Laien auf der Bühne stehe, dann gibt es nicht den Idealfall der ähnlichen Energie oder einer gleichen Spielweise. Ich kann auch nicht so tun, als wenn ich ein Laie wäre. Darin liegt eine Herausforderung: Bin ich jetzt Moderator, bin ich Redner, oder bin ich ganz einfach ein Interviewer? Das alles kann möglich sein, auch die Rolle als Privatperson.
Und worin liegen die Schwierigkeiten in dieser Vermittlerrolle?
Benndorff: Auf die Probe zu gehen, ist mein Beruf, das bereitet mir Spaß. Wenn ich dann von den mitspielenden Laien drei Wochen lang nur „Fick dich“ höre, wie von den Schulverweigerern in „Die Unbeschulbaren“, dann denke ich: Hau doch ab! Es gab da eine Menge Provokationen auf den Proben auszuhalten. Einige dieser Schüler besaßen eine riesige Egozentrik, die einen selbst an den Rand drückt mit allem, was du als Schauspieler machen willst. Dann pushst du im Probenprozess, weil du ja willst, dass irgendwas dabei herauskommt. Es war so undankbar, so frustrierend (lacht). Ich bin mir vorgekommen, als ob ich der Papa wäre von so einem ganz fiesen Kind, und in der Auseinandersetzung mit diesem Kind wie der schlimmste Elternteil, der ich selber nie sein wollte. Tatsächlich wird man da mit seinen dunklen Seiten konfrontiert, wenn man etwa denkt: „Auf der Bühne gebe ich es dir aber zurück!“
Das klingt nach großem Energieverlust. Und nach Ebenen, die man in konventionellen Inszenierungen nicht bedienen muss. Aus dieser Perspektive überrascht das überaus positive Feedback von Zuschauern und Kritikern auf diese Produktion.
Frick: Trotz aller Schwierigkeiten gab es sowohl bei der „Bettleroper“ als auch bei „Die Unbeschulbaren“ immer die Momente, in denen man gemerkt hat, dass die „anderen“ ja selbst extrem präzise Spieler sind. Anstatt von „Laien“ möchte ich deshalb gerne von „Spezialisten“ reden, was ein großer Unterschied ist. Spezialist bedeutet, dass diese Menschen etwas mitbringen, was kein anderer spielen kann. Der Laienbegriff impliziert für mich zudem etwas Gönnerhaftes und erweckt den Eindruck, als führten wir Schauspieler und Künstler eine Art „Beschulung“ durch. Mit Spezialisten ist die Arbeit vielleicht anstrengend, aber bestimmte Projekte gehen eben nur mit ihnen. Rede mal mit einem IT-Spezialisten: Den verstehst du ja zunächst auch nicht.
Wenn Sie als Schauspieler Ihre Erfahrungen in den vielfältigen Prozessen am Theater Freiburg mit solchen Spezialisten abschließend reflektieren – welchen Gewinn sehen Sie, und wie lässt sich dieser Gewinn beschreiben?
Benndorff: Wenn du nach einer „Spezialistenproduktion“ auf die Premierenfeier gehst, dann kommt meist keiner zu dir und sagt: „Ach, die Rolle hast du aber ganz toll gespielt.“ Das empfinde ich als einen total befreienden Zustand. Im Idealfall wird dann inhaltlich gesprochen oder darüber, was die Aufführung mit den Zuschauern gemacht hat. Man lernt als professioneller Schauspieler in solch einer Produktion Bescheidenheit. Es geht gerade nicht um die Mimesis, sondern es geht um etwas ganz anderes. Und das bedeutet einen tollen Zustand: mit einer Gruppe aufzutreten, und etwas rocken zu wollen.
Lüninghöner: Stimmt.
Weigel: Im besten Falle gehe ich als ein Veränderter aus so einem Prozess heraus und sehe die Welt, die Zusammenhänge, in denen ich oder besser wir leben, aus einer anderen Perspektive, ja. Das ist kein materieller, sondern ein immaterieller Gewinn, der sich vielleicht aber auch auf einen Zuschauer überträgt. Weil sich etwas vermitteln lässt, was ich als professioneller Schauspieler ohne diesen besonderen Spielpartner nicht hätte herstellen können.
Frick: Bei der „Bettleroper“ kann ich mich an folgende Probensituation erinnern: Da standest du, Melanie, mit einem Schild mit der Aufschrift „Existenzangst“ auf der Bühne. Und ich dachte, wie toll, dass du dich das traust. Einerseits spiegelt das ein Thema unserer Produktion wider, andererseits sehe ich dich ganz privat, zumindest habe ich das in die Szene projiziert. Mich würde interessieren: Was macht solch ein Moment mit dir? Denn für mich geht das Spielen mit Spezialisten weit über die Rolle des Vermittlers hinaus, weil ich im Spiel der Schauspieler durch diese Interaktion häufig etwas sehe, was ich sonst nur schwer zu sehen bekomme.
Lüninghöner: Während der Probenzeit an „Bettleroper“ kam auf mich die schon beschriebene Phase des freiberuflichen Arbeitens zu. Das Thema der Produktion hat mich deshalb von Anfang an existenziell erfasst. Deshalb habe ich mich aus den Proben sehr lange herausgehalten und überhaupt nicht viel gesagt. Irgendwann bist du, Christoph, zu mir gekommen und hast gefragt, was denn los sei. Nachdem ich dir meine Sprachlosigkeit geschildert habe, hast du mich ermuntert, damit umzugehen, das zum Thema zu machen. Natürlich ist es erst einmal schwieriger oder beängstigender, als gefühlt private Person dazustehen und zu denken: Was interessiert jetzt die Leute meine Existenzangst? Die Herausforderung besteht darin, in einer solchen Produktion eine theatrale Form zu finden, die eine Allgemeingültigkeit für alle Zuschauer hat.
Beschreiben Sie doch bitte einmal, wie das funktionieren kann.
Lüninghöner: Spannend ist für mich die Erfahrung, wie sehr wenig sehr viel sein kann. Etwa das Aushalten von Pausen oder Schweigen auf der Bühne. Als Schauspieler gibt es schnell diesen Punkt, sich gedrängt zu fühlen weiterzugehen. Im Vergleich dazu ist es befreiend, mit Menschen auf einer Bühne zu sein, die einfach dasitzen und etwas erzählen. Das ist das eine. Und das andere betrifft die Ausdrucksformen, eine Mischung aus Sprache, Körper, Mimik, allem Möglichen. Bei unserer Produktion über die EU – „Europäische Verfassung“ – erinnere ich mich bis heute an einen grandiosen Moment: Ein Schauspieler steht unglaublich lange vor diesem Exit-Schild und schaut einfach drauf (lacht). Oder alle Schauspieler lehnen an einer Stelle mit der Stirn an einer Wand und versuchen, diese Wand wegzudrücken. Beides Bilder, die Humor besitzen und gleichzeitig so tief sind, wie es Sprache und Körper allein nicht sein könnten. Eben eine Mischung aus mehreren Dingen. Wenn ich über Performance oder Schauspiel nachdenke, dann ist das für mich inzwischen eins. Und diese Mischung beider Begriffe sorgt für den besonderen Moment, dafür, dass etwas fühlbar wird auf mehreren Ebenen, für eine Form der Ganzheitlichkeit.
Benndorff: Ich schließe mich da gerne an. Als du über die Macht einfacher Bilder gesprochen hast, habe ich gemerkt, wie groß meine Sehnsucht nach einer Schnörkellosigkeit durch die Arbeit mit Spezialisten geworden ist. Die glückliche Erfahrung, jemanden berühren zu können, ohne dass ich vorher zehn Minuten lang eine Magie anatmen musste. Etwa so: Ich starte einfach von hier, stehe von meinem Stuhl auf und komme vorne zum Stehen. Wenn ich dabei etwas zu erzählen habe, dann kann das berührend sei. Solche beglückenden Erfahrungen bringe ich umgekehrt wieder in klassische Stücke mit ein. Zu versuchen, auch dort ein Bild oder ein Gefühl relativ schnörkellos zu erzeugen.
Um diese Öffnung auszuhalten, braucht es Vertrauen. Lässt sich euer Ensemble mit dieser Vokabel beschreiben?
Weigel: Wir sind über die Jahre an- und miteinander gewachsen. Wir sind inzwischen durchdrungen von gemeinsamen Erlebnissen und Erfahrungen. Deren Summe bildet vielleicht einen Ensemble-Spirit. Damit meine ich ein Vertrauen, das ohne große Worte auskommt, wenn wir uns auf der Bühne begegnen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass es einen gemeinsamen Spielstil gibt. Aber es gibt ein gemeinsames Nachdenken und gemeinsame Erfahrungen, die uns verbinden.
Benndorff: Das würde ich unterstreichen. Obwohl ich dieses Wort Forschen am Theater nicht mag, muss ich doch feststellen, dass der gemeinsame inhaltliche Entwicklungsprozess hier in Freiburg am wichtigsten ist. Das beinhaltet auch, dass man scheitern darf. Dieses Gefühl gibt mir Freiheiten, mit allem Leistungsdruck umzugehen und mich in Spielprozesse hineinzustürzen. Zudem besitzen wir im Ensemble – was wichtig ist – Eigenhumor. So kann ich mich auf der Probe zum Beispiel fünf Minuten gegen die Wand werfen, heulen und weinen. Dann schauen mich alle an und fragen: „Was machst du denn da?“ Und dann lachen wir alle herzlich darüber. Tatsächlich gibt es bei uns so etwas wie eine peinlichkeitsfreie Zone in den Proben. Wir können uns zudem auch streiten, ohne jemandem etwas nachzutragen. Was ebenfalls wichtig ist.
Das klingt nach einer großen Gleichrangigkeit, was eine Vokabel ist, die mit dem traditionellen Theaterbetrieb, sehr hierarchisch strukturiert, eher selten verbunden wird.
Lüninghöner: Hier in Freiburg bin ich nicht nur als Schauspieler, sondern als Schaffender, als Mensch gefordert, in meiner ganzen Widersprüchlichkeit. Mit allen Gedanken, allen Möglichkeiten und Formen, die ich habe. Das ist auch der Grund, warum ich damals wiedergekommen bin.
Weigel: Ich empfinde es als großes Vertrauen der künstlerischen Leitung, uns diesen Ensemble-Samstag zu ermöglichen, also den probenfreien Samstagvormittag. Einen Zeitraum, den wir Schauspieler in Eigenverantwortung so nutzen können, wie jeder denkt, dass er es braucht. Wir haben an diesem Samstag Raum für eigenverantwortliches Arbeiten und künstlerischen Austausch. Wenn ich ausschlafen muss oder meine Kinder sehen will oder einfach ein Buch lesen möchte, dann ist das auch möglich.
Frick: Als ich das hörte, dachte ich zunächst: Hat euch der Blitz getroffen? Als Regisseur schaust du auf den Probenplan und stellst fest: In der Probenwoche werden die Tage schon durch Feiertage weniger. Wenn dann auch noch der Ensemble-Samstag kommt, frage ich mich schon manchmal, ob wir mit den Proben durchkommen. Tatsächlich habt ihr euch diesen Ensemble-Samstag regelrecht erstritten. Das Problem der Entfremdung war vor drei Jahren ja ziemlich stark. Das Freiburger Projekt hatte eine Außenwirkung entwickelt, aber ihr kamt darin nicht wirklich vor. Insofern war es wichtig, dass ihr euch als Ensemble auch über diesen Samstag neu erfunden, neu definiert habt.
Benndorff: Es gab extreme Ensemble-Versammlungen. Als es normal war, die Nadel immer im roten Bereich zu haben, hat bei den Versammlungen niemand ein Blatt vor den Mund genommen, es wurde geheult und geschrien. Aber unsere künstlerische Leitung hat nicht die Machtkeule geschwungen, sondern ging verändert aus den Versammlungen, hat die Kritik ertragen. Das fand ich sehr bewundernswert. Trotz Hierarchie spürte und spürt man ein Wollen und eine Bereitschaft, sich auf die Interessen des Gegenübers einzulassen.
Blitz: Wenn wir schon beim Thema der „Mitsprache“ angelangt sind: Was kann das Ensemble-Netzwerk, das sich ja gegründet hat, um die Position der Schauspielerin, des Schauspielers zu stärken, vom Theater Freiburg lernen? Und was kann das Theater Freiburg umgekehrt vom Ensemble-Netzwerk lernen?
Lüninghöner: Vielleicht kann das Theater Freiburg vom Ensemble-Netzwerk die Art und Weise lernen, auf sich aufzupassen. Gerade bei den diskursiven Projekten. Die erfordern nämlich viel mehr Vorbereitungszeit als das klassische Stück. Bei Projekten wie „Naturzwei“ über unser Verhältnis zur Natur muss ich erst einmal Bücher über Klimawandel und synthetische Biologie lesen, mir Gedanken machen. Das erfordert viel mehr Zeit. Ebenfalls braucht eine Form von Gleichberechtigung mehr Zeit, wenn auf den Proben der Regisseur nicht sagt: „Jetzt machst du das.“ Die Entwicklung eines Stücks in einer Gruppe verlangt ja, dass sich jeder Schauspieler äußert, eine Meinung hat, die es zu diskutieren gilt.
Benndorff: Wichtig ist, dass sich die Schauspieler alle untereinander zusammenschließen, Selbstbewusstsein bekommen und sich selber ernst nehmen in ihren Bedürfnissen, um auch zu formulieren, was nicht geht. Nur wenn man sich selber wirklich ernst nimmt, kann man einer Theaterleitung gegenüber klar auftreten. Das hilft beiden Seiten. Nicht immer ist alles mit Sportlichkeit zu lösen, gefährlich wird es, wenn sich keiner traut, die Selbstüberbietungsspirale zu stoppen, wenn es uncool ist zu sagen: „Ich kann gerade nicht mehr.“
Weigel: Ich hab’ totale Lust, mich zu verschwenden. Für mich ist eher entscheidend, dass ich etwas zurückbekomme in meiner Arbeit. Auf dieser Ebene kann man uns Künstler natürlich sehr leicht ausbeuten, denn wir machen ja Kunst, und das aus Leidenschaft. Aber natürlich sind wir Künstler auch Arbeitnehmer, die bestimmte Rechte haben, die es zu schützen gilt. Wir haben einen Hochschulabschluss und müssen für das, was wir leisten, gerecht bezahlt werden. Außerdem müssen wir stärker an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Für diese Problematiken setzt sich erfolgreich das Ensemble-Netzwerk ein. Der große Schulterschluss einer bundesweiten Solidarisierung von Schauspielerinnen und Schauspielern. Aber ich glaube, dass man dabei die künstlerische Diskussion nicht vergessen darf. Was brauche ich als Künstler? Nicht, wie es so oft heißt: Was braucht die Kunst, also die Institution? Sondern was brauchen wir als Schauspieler, um unsere Arbeit gut zu machen? Am Ensemble-Netzwerk ausschließlich als Anwalt der Arbeitnehmer wäre ich nicht interessiert. Wenn es nur noch darum ginge, Rechte einzuklagen, aber nicht mehr darum, künstlerische Visionen des Zusammenarbeitens zu entwickeln. Ich will beispielsweise nicht auf die Uhr schauen müssen und sagen: „So, es ist zwei, jetzt geh’ ich nach Hause.“ Wenn ich gerade irgendwo dran bin, dann möchte ich das auch gerne bleiben können. Aber ich bin auch keine alleinerziehende Mutter.
Lüninghöner: Meinen Beruf begreife ich als einen Weg, Grenzen auszuloten, über Grenzen zu gehen, sich zu verschwenden. Insofern empfinde ich es als großes Dilemma, als Schauspielerin auch in Situationen zu kommen, Grenzen formulieren zu müssen. Eigentlich will ich das gar nicht. Es ist für mich als Schauspielerin schrecklich, sagen zu müssen: „Ich kann nicht mehr.“ Ich komme aber regelmäßig an diesen Punkt, und es fühlt sich nicht gut an. Was das Ensemble-Netzwerk meiner Meinung nach tut, ist, zu sagen: „Es ist okay, das zu äußern. Zudem geht es nicht nur dir so, sondern vielen anderen Schauspielern in Deutschland ebenso.“ Es geht darum, darüber nachzudenken, was ich verändern kann, um künstlerisch produktiv zu bleiben.
Wie nehmen Sie als Regisseur das Ensemble wahr?
Frick: Es gibt hier eine hohe Kompetenz, mit unterschiedlichen Formaten umzugehen, die ich so an keinem anderen Haus angetroffen habe. Zudem stelle ich eine sehr große Selbstverständlichkeit fest, noch bis zum Schluss ganz grundsätzliche Fragen zu stellen und dementsprechend zu reagieren. Ich genieße zudem das weite Spektrum an Möglichkeiten: Bevor ich hier nach Freiburg kam, habe ich stark getrennt zwischen Projekten, die ich in der freien Szene erarbeite, und klassischen Stücken, welche ich damals eher mit einem Stadttheater verbunden habe. Hier lassen sich ganz unterschiedliche Vermischungen und Spielformen ausprobieren. Die Spannbreite zwischen Projekten wie „Naturzwei“, einem Tanz-Projekt wie „Hochstapler und Falschspieler“ und Tom Lanoyes „Schlachten!“ ist natürlich unglaublich interessant. In Freiburg erlebe ich eine hohe Bereitschaft, Dinge auszuprobieren. Hier habe ich begonnen, Ideen, die ich schlecht finde, erst mal durchzuspielen – auf vorsätzliche Weise. Oft ist es gar nicht so schlecht, das tatsächlich zu versuchen. Dieses Experimentieren ist hier sehr gut möglich. Und natürlich wächst auch ein Regisseur mit dem Ensemble mit.
Wenn Sie jetzt alle Freiburg verlassen – was nehmen Sie mit?
Benndorff: Auf jeden Fall den Ensemble-Gedanken: dass ich Spielpartner haben möchte, mit denen ich in den In-Fight gehen kann. Die mich überraschen und schützen. Zudem die Lust, Formen zu finden, die sich an Inhalten orientieren. Das möchte ich gerne mitnehmen und an einem anderen Ort vielleicht vorleben, wie so einen kleinen Virus, in der Hoffnung, dass er um sich greift.
Lüninghöner: Absolute Konsequenz habe ich hier gelernt. Ich könnte nicht an ein Haus gehen und meine Meinung nicht äußern. Das andere ist, nicht in Resultaten zu denken, sondern in Prozessen. Denn nach einer Premiere geht die Arbeit an der Inszenierung weiter. Das braucht eine Menge Mut. Eine Unbedingtheit bezüglich dessen, was gesagt werden muss. Und zwar für jeden in seiner Art und Weise und in seiner Form.
Weigel: Wir haben hier Kapital angesammelt – jetzt lasst uns damit zocken gehen.