Musik
Vorbild und Auslese
Zum Preisausschreiben „Das Lied des Volkes“
von Siegfried Borris
Erschienen in: Theater der Zeit: Surrealismus und was man dafür hält (12/1946)
Der Aufruf zu einem Liederwettbewerb hat ein über Erwarten großes Echo ausgelöst. Mehr als tausend Einsendungen aus ganz Deutschland beweisen, daß die Dringlichkeit, eine Klärung und Grundlegung für ein neues deutsches Liedgut anzubahnen, erfaßt und bejaht worden ist.
Wer die schöpferischen Kräfte seiner Zeit anregen und fördern will, hat dafür die beiden Wege zur Wahl: den Auftrag an die ‚Bekannten', an die Fachgrößen, die bewährten Meister von heute, oder den Aufruf an die Unbekannten, an die Unerkannten, Strebenden, im Glücksfall an den möglichen Meister von morgen. Das eine sucht Vorbilder, das andere ergibt eine Auslese.
Nun ist es eine alte Erfahrung, daß die ‚Prominenten' fast nie an solchen Wettbewerben teilnehmen. Das Vorbild wächst innerhalb des geschlossenen Lebenswerks eines Komponisten in dem Maße seines Reifens und Hineinwachsens in die Gemeinschaft, die ihn und sein Schaffen trägt. Aber alle Werke der ‚persönlichen Prägung' bedürfen der Stille und haben ihre eigene Zeit.
Um so begrüßenswerter ist eine solche Gelegenheit der Auslese durch Sichtung des reichen sozusagen ‚anonymen' Materials, wie es ein Preisausschreiben ermöglicht. Ganz besonders gegeben erscheint dies bei einem Gebiet, wie es das deutsche Lied mit seiner Sonderstellung innerhalb unseres Musiklebens einnimmt. Und gerade jetzt, im geistigen Wandlungsprozeß unseres Volkes, vermag das...