Theater der Zeit

Applied Theatre: Theater der Intervention

von Julius Heinicke, Janina Möbius, Natascha Siouzouli, Joy Kristin Kalu und Matthias Warstat

Erschienen in: Recherchen 121: Theater als Intervention – Politiken ästhetischer Praxis (11/2015)

Assoziationen: Wissenschaft

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Unter dem Schlagwort social turn wird in den Geisteswissenschaften seit einigen Jahren wieder vermehrt über das Gesellschaftliche und das Politische der Künste nachgedacht. Zwei jüngere Veröffentlichungen von Shannon Jackson (Social Works: Performing Art, Supporting Publics, London/New York 2011) und Claire Bishop (Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London 2012) stehen prägnant für diese Tendenz. Zum einen gelingt ihnen mühelos der Brückenschlag zwischen bildender Kunst, Fotografie, Performancekunst und Theater, d. h., politische Kunst wird nicht mehr strikt nach Gattungen differenziert, sondern in ihrer Interdisziplinarität erfasst.1 Zum anderen ergeben sich politische Wirkungen für beide Autorinnen gerade daraus, dass Kunstwerke bzw. Aufführungen eine Reflexion über ihre materiellen und institutionellen Voraussetzungen in Gang setzen. Bevorzugt besprochen werden von Jackson und Bishop solche Arbeiten, die ihre eigene Infrastruktur, Produktionsbedingungen und Finanzierungsformen zum Thema machen. Und schließlich gewinnt man in beiden Büchern den Eindruck, dass eher integrative als konfrontative Strategien zur Debatte stehen. Das Zauberwort, vor allem in Bishops Argumentation, lautet ‚Partizipation‘ – und zwar in dem Sinne, dass soziale Gruppen, die in der Öffentlichkeit sonst wenig wahrgenommen werden, eine Bühne, einen Ausstellungsraum oder ein anderes sichtbares Forum geboten bekommen sollen.2

Im Kontext dieser Art sozial engagierter Kunst gilt es, den Blick auf ein Theater zu richten, das meist außerhalb der Kunstsphäre situiert wird und das sich in Deutschland – anders als in Großbritannien und den USA – bisher weitgehend jenseits des Interesses der Theaterwissenschaft entwickelt hat. Im Englischen dient der Begriff applied theatre als Sammelbezeichnung für Theaterprojekte mit expliziter politischer, pädagogischer oder therapeutischer Intention.3 Es handelt sich um Projekte, die sich an klar definierte Zielgruppen richten: Dorfgemeinschaften, Stadtteilgruppen, Patienten, Klientinnen, Häftlinge, Betriebsbelegschaften, Angehörige genau eingegrenzter sozialer Milieus, jedenfalls Gruppen, die explizit benannte soziale Merkmale teilen. Da diese Art von funktional bestimmtem Theater in verschiedenen Formen existiert – vom Dokumentarstück über das Improvisationstheater bis hin zum Psychodrama –, fällt es schwer, anhand eines einzelnen Beispiels die Besonderheiten solcher Projekte zu verdeutlichen. Auf Schwierigkeiten stoßen auch Versuche einer Übertragung des englischen Begriffs ins Deutsche. Wörtlich müsste man applied theatre mit ‚angewandtes Theater‘ übersetzen, aber dieser Begriff kann zwei falsche Assoziationen wecken: Einerseits ist im Deutschen ‚Angewandte Theaterwissenschaft‘ eine etablierte Bezeichnung; sie steht für das an der Universität Gießen entwickelte Modell eines zugleich wissenschaftlich-theoretisch und künstlerisch-praktisch ausgerichteten Studiums, in dessen Zentrum jedoch nicht die Beschäftigung mit applied theatre steht.4 Andererseits klingt ‚angewandtes Theater‘ ähnlich wie ‚angewandte Kunst‘, aber auch diese Assoziation trifft das Phänomen nicht optimal – zumindest nicht bei einem Verständnis von angewandter Kunst, das diese mit Design oder kunstgewerblichen Produkten gleichsetzt. Zwar teilen beide Felder eine manifeste Zweckgebundenheit, doch ist angewandtes Theater kein Designphänomen; es verschreibt sich nicht der Gestaltung von Objekten oder der Inszenierung von Oberflächen, sondern zielt auf Intervention, die gezielte Unterbrechung und Veränderung gesellschaftlicher Prozesse – diese Beobachtung ist Ausgangspunkt des vorliegenden Buches.5

Auf den folgenden Seiten soll applied theatre als eine weltweit an Bedeutung gewinnende Art von Theater genauer vorgestellt werden. Ein Grundzug dieses Theaters wird dabei im Mittelpunkt stehen: Die Wirkungsversprechen von applied theatre richten sich in der Regel eher an Mitwirkende als an Zuschauer. Anders als manchmal unterstellt wird, hegen die Praktikerinnen und Praktiker dieses Theaters kaum den idealistischen Glauben, schon das einmalige Anschauen einer Aufführung könnte das Leben tief greifend verändern. Ihre Hoffnungen gelten vielmehr dem aktiven Mitwirken und Mitspielen, idealiter über längere Zeiträume. Als Mitwirkender einer Theaterproduktion, so die Annahme, muss man sich mit anderen austauschen, gerät in affektive Relationen, trifft Entscheidungen, erhält Anlass zur Reflexion – und wird in jedem Fall intensive Erfahrungen machen. Solche aktiven Erfahrungen – im Sinne von ‚in der Aktion zu gewinnende Erfahrungen‘ – können Veränderungen initiieren.6 Die meisten Anbieter oder Anleiter von applied theatre meinen nicht im engeren Sinne Aufführungserlebnisse, wenn sie von den Möglichkeiten ihres Theaters berichten. Sie denken an längerfristige Lernprozesse, die die Akteure durchlaufen sollen. Wenn etwa Kinder oder Jugendliche in den Probenprozessen zu einer Theateraufführung Stimm- und Sprechtechniken, mimetische Kompetenzen und Improvisation erlernen, können sie von diesen Fähigkeiten, so die Hoffnung, anschließend auch in anderen Lebensbereichen profitieren.7 Eine scharfe Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren bietet sich in der Beschäftigung mit applied theatre nicht an, denn Theaterformen, die auf die eine oder andere Weise Zuschauer zu Akteuren machen, erfreuen sich auf diesem Gebiet größter Beliebtheit. Es kommt also darauf an, theatrale Relationen zu verstehen, die sich nicht säuberlich in eine Zuschauer- und eine Akteurseite aufgliedern lassen.

In unserer Erkundung dieser Relationen gehen wir von einer Typologie aus, die die gesamte Bandbreite von applied theatre zumindest andeuten soll.

Die wichtigsten Untergruppen sind:
– Theater in der sozialen und sozialtherapeutischen Arbeit
– Theater in Bildung, Erziehung und Schule
– Theaterpädagogische Projekte und Jugendklubs von Theatern
– Dramatherapie, Psychodrama, weitere theatrale Therapieformen
– Gefängnistheater
– Unternehmenstheater
– Theater in der Bearbeitung politischer Krisen und gewaltsamer Konflikte.

Diese vorläufige Liste ist noch unsystematisch, weil sie auf einer Mischung von funktionalen und institutionellen Kriterien beruht. Eine befriedigendere Lösung scheitert daran, dass beide Kriterientypen je für sich das Feld nicht hinreichend sortieren: Eine rein institutionelle Typologie (Theater in Schule, Klinik, Gefängnis, Unternehmen etc.) würde die vielen Projekte nicht erfassen, die jenseits traditioneller Institutionengrenzen in eigens für sie entwickelten Strukturen arbeiten. Eine rein funktionale Typologie brächte wiederum das Problem mit sich, dass viele der implizierten Funktionen (kulturelle Bildung, Konfliktbearbeitung, soziale Integration) auch vom sogenannten Kunsttheater im engeren Sinne übernommen werden können, sodass die Differenz des applied theatre nicht hervortreten würde.

 

Trotz oder gerade wegen seiner diffusen Kontur bedarf das Phänomen gründlicher Untersuchung. International sind Theaterformen auf dem Vormarsch, die unter Begriffen wie social theatre, community theatre oder eben applied theatre einer sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Agenda folgen. Projekte, die sich diesen wechselnden Etiketten zuordnen lassen, verändern in ihrer Massierung die globale Theaterlandschaft: Dort, wo vorher kommerzielle Theatersysteme dominiert haben, schaffen sie einen beträchtlichen Non-Profit-Sektor. Wo hingegen – wie in Deutschland – ein kunstaffines Stadt- und Staatstheater vorherrschend war oder noch ist, bedeuten die neuen Formen eine Herausforderung für das angestammte Autonomie-Ideal, weil sie von explizit definierten Zwecken ausgehen. Den Mitwirkenden sollen Erfahrungen ermöglicht werden, die in direkter, unmittelbarer Weise zu einer Veränderung ihrer Situation beitragen.

Definition
Applied theatre ist keine einzelne Theaterform und kein ausformuliertes Genre, denn ganz unterschiedliche Formen, von der Kontaktimprovisation über das Rollenspiel bis zur Stand-up-Comedy, können als applied theatre praktiziert werden. Der Begriff verweist vielmehr auf verschiedene Anwendungskontexte. Er antwortet auf die Frage, in welchem Rahmen und zu welchem Zweck Theater gespielt wird. Von Theaterspiel soll hier in einem sehr weiten Sinne die Rede sein. Viele einschlägige Projekte setzen auf Formen, die man eher der Performancekunst oder postdramatischen, experimentellen Genres als dem traditionellen dramatischen Theater zurechnen würde. Den Rahmen bildet in der Regel nicht jene Institution, die wir Theater zu nennen gewohnt sind, obwohl auch Stadt- und Staatstheater in gewissem Umfang applied-theatre-Projekte durchführen. Häufiger ist applied theatre aber in andere Institutionen der Gesellschaft eingebettet, etwa in Schulen, Kliniken oder Gefängnisse, oder es wird von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) mit sozialer, pädagogischer, politischer oder therapeutischer Agenda getragen. Applied theatre möchte nicht selten gezielt in gesellschaftliche Kontexte intervenieren. Was das bedeutet und wie insbesondere die Begriffe Gesellschaft und Intervention hier zu verstehen sind, muss im Folgenden noch erläutert werden. Das zweite Kapitel wird sich dem Interventionsbegriff widmen, und noch im weiteren Verlauf dieser Einleitung soll eine Idee von Gesellschaft angedeutet werden, die das Problem der Kontextualität von applied theatre genauer konturieren kann.

Eine Besonderheit von applied theatre liegt darin, dass Zwecke im Voraus explizit formuliert werden. Im Kunstbetrieb vermeiden es die meisten Regisseurinnen, Theatermacher und Performancegruppen tunlichst, vor einer Premiere öffentlich zu erklären, welche Wirkungen sie bei einzelnen Zielgruppen erreichen möchten. Eine explizite Darlegung der eigenen Intentionen ist unüblich, das Werk soll für sich selbst sprechen, zumal eine lautstarke Verkündung von Absichten traditionelle Ideen von Autorschaft über Gebühr betonen würde. Sie wäre auch ungeschickt, denn warum sollte man selbst die Messlatte hochhängen, an der die Inszenierung später gemessen würde? Anders die Anleiterinnen und Anleiter von applied-theatre-Projekten: Für sie ist es selbstverständlich, sich schon in den vorab zu schreibenden Förderanträgen auf konkrete Wirkungen zu verpflichten. Diese Differenz verflüchtigt sich allerdings schleichend, da Legitimationszwänge überall in den Künsten auf dem Vormarsch sind. Je weniger Verständnis in Zeiten schrumpfender öffentlicher Haushalte für die Kunstförderung aufgebracht wird, desto mehr geraten Künstler unter Druck, ihrer Arbeit einen Nutzen für die Gesellschaft zuzuschreiben. Vertreter der Freien Szene, die vor jedem neuen Projekt Förderanträge schreiben müssen, haben mit diesem Druck Erfahrung und kennen die einschlägigen Formulierungen, die einen Förderantrag mit gesellschaftlicher Relevanz ausstatten.

Die Wirkungen, die vom applied theatre versprochen werden, gehen häufig über das hinaus, was traditionell unter ‚ästhetischer Erfahrung‘ verstanden wurde. Der Interventionsbegriff erscheint angemessen, weil mit diesem Theater nicht allein Individuen bestimmte Erfahrungen ermöglicht, sondern komplexe Prozesse und Konstellationen unterbrochen und umgelenkt werden sollen. Mit ‚Intervention‘ sollen hier also Praktiken der Unterbrechung bezeichnet werden, die ein bestehendes politisches, soziales oder kulturelles System anhalten, suspendieren oder sogar vollständig außer Kraft setzen können. Mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ließe sich von ‚gegenhegemonialen‘ Praktiken sprechen, wenn man davon ausginge, dass das betreffende System von bestimmten dominanten Normen bzw. Diskursregeln zusammengehalten wird.8 Die Suche nach dem Weg ins Offene, der geringen Chance des Gegenhegemonialen, dem plötzlichen Ausbruch aus dem System, treibt viele Praktiker um (auch solche, die realiter unter überaus repressiven Rahmenbedingungen arbeiten), und sie schwebt als eher vage, ins Utopische spielende Perspektive über nicht wenigen der Fallbeispiele, die in diesem Buch diskutiert werden.

Der Systembegriff ist hier jedoch nicht auf einer Makro-Ebene anzusetzen, d. h., es geht nicht zwangsläufig um ganze Gesellschaften, Klassen oder gar ‚politische Systeme‘. Gemeint sind eher konkrete Mikrokosmen bzw. Kontexte, denen sich die Macher von applied theatre zuwenden: ein Dorf, ein Stadtteil, eine Familie, ein Gefängnis, ein Unternehmen, eine Therapiegruppe, eine Abteilung, eine Schulklasse, eine Clique. Im englischsprachigen applied-theatre-Diskurs findet man für solche systemischen Einheiten den Begriff ‚community‘, der nicht mit dem deutschen Gemeinschaftsbegriff verwechselt werden darf. Community meint in diesem Sinne nämlich keine homogene, traditionelle, affektiv gestützte Einheit (à la Tönnies)9, sondern ein spezifisches Milieu von Menschen, die tagtäglich aufeinandertreffen und Aspekte ihres Alltags (gewollt oder ungewollt) gemeinsam zu bewältigen haben. In solche Alltagsstrukturen interveniert applied theatre – mal mit (erwarteten oder unerwarteten) Folgen, mal ganz folgenlos und vergeblich, hier akribisch kalkuliert, dort völlig erratisch und nicht selten auf fast tragische Weise kontraproduktiv. Unser Buch möchte das Schicksal solcher Interventionen beleuchten.

 

Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive verbindet der Interventionsbegriff das Forschungsfeld applied theatre zum einen mit älteren Debatten um politisches Theater, zum anderen mit einer zentralen Denkfigur der Avantgarden. In der Diskussion um das Politische im Theater wurde verschiedentlich reklamiert, dass vom Politischen nur dort die Rede sein könne, wo es dem Theater gelinge, die dominanten medialen Diskurse der Politik nicht einfach fortzusetzen und um weitere Positionen zu ergänzen, sondern mit ästhetischen Mitteln zu unterbrechen. Dabei spielt auch der Gedanke der Selbstunterbrechung eine Rolle: Wenn das politische Leben in einer Mediendemokratie bereits in sich durch und durch theatral konstituiert ist, kann das Theater die dominanten Diskurse eigentlich nur dann unterbrechen, wenn es auch seine eigene Theatralität in Frage zu stellen bereit ist. Aus einem solchen Blickwinkel sind heute vor allem metatheatrale Theaterformen politisch, also solche Inszenierungen, die sich reflexiv und distanziert zu ihrem eigenen Inszenierungscharakter verhalten. Unterbrechung wird zur Selbstunterbrechung: Das Theater unterbricht sich selbst in seinen theatralen und inszenatorischen Prinzipien, um die Theatralität der dominanten politischen Diskurse selbstbewusst reflektieren zu können.10 In Forschungen zur historischen Theater- und Tanzavantgarde hat der Gedanke der Unterbrechung bzw. der Zäsur ebenfalls einen hohen Stellenwert; hier kann Unterbrechung auch in einem rhythmischen Sinne gemeint sein und zum Beispiel die moderne, künsteübergreifende Form der Synkope oder die kontrastiven Zäsuren zwischen Bildern in einschlägigen Montagetechniken bezeichnen.11

Gegenüber solchen vorhandenen Lesarten des Interventionsbegriffs in der Theaterwissenschaft fällt im Hinblick auf applied theatre auf, dass die hier zu beschreibenden Interventionen eine besondere Richtung nehmen: Sie verlassen in entschiedener, unerschrockener Weise den Kunst- bzw. Theaterrahmen. Was das im Einzelnen bedeutet, wird in den nachfolgenden Kapiteln genauer betrachtet. Gefängnistheater – eine weltweit erstaunlich breit etablierte Praxis – setzt zum Beispiel voraus, dass sich Theatermacher in einen durch und durch kunstfernen Raum begeben, der auch mit der im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Institution des modernen Theaters trotz eines ähnlichen Entstehungskontextes nur wenig gemeinsam hat. Das Verlassen des Kunstrahmens kann aber auch dadurch zustande kommen, dass europäische Theateraktivisten, beauftragt von global operierenden NGOs, in Länder und Regionen aufbrechen, in denen sich kein Kunstsystem nach den Prinzipien des europäischen ästhetischen Narrativs entwickelt hat, sondern andere Rahmungen von Theater dominieren. So finden sich in vielen afrikanischen Ländern Theaterkulturen, die trotz lang anhaltender kolonialer Einflüsse ästhetische Programme und Kunstideologeme des europäischen Idealismus nicht (oder nur teilweise) übernommen haben.

Das im letzten Beispiel aufscheinende Motiv der Reise bzw. der Überbrückung geografischer Distanzen ist häufig mit den Interventionen des applied theatre verknüpft. Applied theatre hat eine globale Struktur, sodass globalisierungstheoretische Fragen und Positionen der Postcolonial Theory von erheblicher Relevanz für ein tieferes Verständnis des Phänomens sind. Um die hier aufscheinenden Problemstellungen anzudeuten, lässt sich der Zusammenhang von Intervention und Reise folgendermaßen zuspitzen: In vielen Fällen reisen europäische und nordamerikanische Theatermacher in Regionen, in denen sie sich (zumindest anfangs) nicht wirklich auskennen. So sind für applied theatre Interventionen charakteristisch, die eine entschiedene Bewegung über gravierende Distanzen hinweg vollziehen, ohne dass im Verlauf der Bewegung schon klar wäre, in welche Struktur interveniert wird bzw. welche Strukturen eigentlich unterbrochen werden. Solche ‚Interventionen ins Unbekannte‘ werfen einerseits schwierige politische und ethische Fragen auf, entsprechen aber andererseits einem experimentellen, explorativen Gestus, der sich in vielen Bereichen des Gegenwartstheaters etabliert hat.

Um den politischen Ort von applied theatre genauer zu bestimmen, ist eine weitere Ambivalenz in Betracht zu ziehen: Auf der einen Seite handelt es sich bei vielen einschlägigen Projekten im Kern um Programme zur kreativen Selbstoptimierung. Die wesentlichen Wirkungsversprechen von applied theatre beziehen sich auf das handelnde Subjekt als schöpferisches Individuum. Diesem wird in Aussicht gestellt, sein Ausdrucksvermögen zu erweitern, ein besseres Körpergefühl zu entwickeln, Empathiefähigkeit zu stärken, sinnliche Potenziale auszuleben – und vieles mehr.12 Mit solchen Versprechungen stellt sich applied theatre (gewollt oder ungewollt) neoliberalen gesellschaftspolitischen Rezepten an die Seite, die sich eine Verbesserung der gesellschaftlichen Lage dadurch erhoffen, dass der Einzelne seine individuellen Fähigkeiten steigert und sein Verhalten effektiver steuert. Auf der anderen Seite ist applied theatre aber eine kollektive Praxis. Die meisten applied-theatre-Projekte sind als Gruppenarbeit angelegt. Gerade im Vergleich zu anderen künstlerischen Therapieformen wie etwa der Kunst- oder der Musiktherapie steckt in theaternahen Therapieformen wie Drama Therapy oder Psychodrama, aber auch in anderen Anwendungskontexten des applied theatre ein Element kollektivistischer Kulturtradition, das politisierbar sein könnte. Immerhin kommt es in theatralen Prozessen zu Kooperationen unterschiedlicher Art, und aus Kooperationen können politische Energien entstehen. Das Nebeneinander von individualisierender Selbstoptimierungslogik und kollektivistischer Kulturpraxis macht es schwierig, applied theatre im politischen Spektrum eindeutig zu situieren. Man muss aber feststellen: Es finden sich nur wenig applied-theatre-Projekte, die auf fundamentale Systemkritik und radikale gesellschaftliche Veränderung abzielen. Verbreiteter sind Projekte, die sich mit Institutionen der bestehenden Gesellschaftsordnung arrangieren, systemimmanente Veränderungen anstreben und ihrem Selbstverständnis nach eher sozialtechnisch bzw. sozialtherapeutisch als politisch ausgerichtet sind.13 [...].

1 Dies hat sich in theoretischer Hinsicht als überaus produktiv erwiesen, weil dadurch eine jahrzehntelang wirksame, missliche Diskursschranke überwunden werden konnte: Über viele Jahrzehnte hinweg hat die theaterwissenschaftliche Forschung zum politischen Theater kaum wahrgenommen, wie in kunsthistorischen und kunsttheoretischen Texten über politische Kunst nachgedacht wurde. Diese Ignoranz besteht tendenziell auch in umgekehrter Richtung. So hat sich bis heute nicht in allen Bereichen der Kunstgeschichte herumgesprochen, dass auch in der Theaterwissenschaft über Performance- und Installationskunst geforscht wird.
2 Für eine kritische Sicht auf Partizipationstendenzen in den Künsten: Rogoff, Irit: „Looking Away: Participations in Visual Culture“, in: Butt, Gavin (Hg.): After Criticism. New Responses to Art and Performance, Malden/Oxford 2005, S. 117–134; Pfaller, Robert: „Against Participation“, in: Ders.: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008, S. 308–322.
3 Vgl. etwa die Begriffsverwendung in dem Überblickskapitel bei Balme, Christopher: The Cambridge Introduction to Theatre Studies, Cambridge 2008, S. 179–194. Viel beachtet auch Thompson, James: Applied Theatre. Bewilderment and Beyond, Oxford 2003; Taylor, Philip: Applied Theatre: Creating Transformative Encounters in the Community, Portsmouth, NH 2003; Nicholson, Helen: Applied Drama. The Gift of Theatre, Basingstoke/New York 2005.
4 Vgl. zum Gießener Konzept von Theaterwissenschaft: Matzke, Annemarie/Weiler, Christel/Wortelkamp, Isa (Hg.): Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft, Berlin 2012.
5 Mit Blick auf die skizzierten Übersetzungsprobleme wird in diesem Aufsatz die englische Bezeichnung applied theatre beibehalten.
6 Vgl. Landy, Robert J./Montgomery, David T.: Theatre for Change. Education, Social Action and Therapy, Basingstoke/New York 2012; Jones, Phil: Drama as Therapy: Theatre as Living, London/New York 1996; siehe darin bes. die einleitenden programmatischen Setzungen, S. 1–6.
7 Diese Hoffnung ist grundlegend für programmatische und theoretische Diskurse zum Theater in der Schule, vgl. etwa Liebau, Eckart/Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule, Weinheim/München 2009. Siehe im selben Sinne Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts, Weinheim/Basel 2013, bes. S. 166–180.
8 Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, aus dem Engl. von Michael Hintz und Gerd Vorwallner, Wien 1991, bes. S. 54–57.
9 Vgl. die klassische, besonders die deutschsprachigen Gemeinschaftsdiskurse über Jahrzehnte hinweg prägende Schrift von Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887.
10 Besonders entschieden wird diese Position von Hans-Thies Lehmann vertreten, vgl. etwa Ders.: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002; darin zur Kategorie der Unterbrechung bes. S. 11–37.
11 Zu einer solchen medientheoretisch inspirierten Lesart von Unterbrechung vgl. Brandstetter, Gabriele: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005.
12 Die politischen Implikationen des gegenwärtigen Kreativitätsdispositivs werden derzeit in verschiedenen Fachdisziplinen kritisch reflektiert. Vgl. u. a. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007; Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010; Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a. M. 2012.
13 Wir beziehen uns mit dieser Einschätzung auf ein Politikverständnis, das mit Theoretikern wie Agamben, Badiou, Rancière oder Žižek zwischen dem Administrativen (als der stetig zu verbessernden Verwaltung des Ist-Zustands: la politique) und dem Politischen (als der radikalen Infragestellung des Ist-Zustands: le politique) zu unterscheiden weiß. Von einer ähnlichen Sicht, die das Wesen des Politischen in einem fundamentalen Antagonismus situiert, gelangen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie (siehe Endnote 8) zu einem voraussetzungsreichen Interventionsbegriff: Eine Intervention ist für sie eine wirkliche „Unterbrechung“ diskursiver Prozesse. Es gehe dann nicht mehr um Interpretation, sondern um Intervention: „Mit einer Intervention werden neue diskursive Objekte konstruiert.“ (Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013, S. 301.)

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