RUSSLAND
Bittere Medizin
von Marina Dawydowa
Erschienen in: Recherchen 61: Landvermessungen – Theaterlandschaften in Mittel- und Osteuropa (12/2008)
In den letzten zehn Jahren ist das russische Theater Teil des europäischen geworden. Genauer gesagt, umgekehrt: Eine Flut von europäischen Aufführungen hat die russische Theaterlandschaft stark verändert. Mit seinen vielen Theaterforen hat Moskau in den letzten Jahren alle anderen Haupt- und Großstädte überholt. Da ist beispielsweise das Tschechow-Festival, das Territoria-Festival, das Festival Neues europäisches Theater (NET), das Festival Stanislawski-Saison und viele andere. Der Gastspiel-Boom hat Moskau erreicht und dazu geführt, dass sogar das explizit »nationale« Theaterfestival Die goldene Maske, das gegründet wurde, um dem russischen Theater Unterstützung zukommen zu lassen, sich international geöffnet hat und nun auch Inszenierungen ausländischer Regisseure nach Russland einlädt. Dies hat stark dazu beigetragen, die althergebrachte russische Tendenz zur Isolation zu überwinden. So wurde die neue Generation Theaterschaffender in einem ganz anderen Umfeld ausgebildet als in der Vergangenheit. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich diese Generation zum größten Teil dem widersetzt, was man den Mainstream des russischen Theaterlebens nennen könnte: in aller Ruhe, abgeschirmt von den Problemen der heutigen Welt und von zeitgenössischen ästhetischen Tendenzen in einem theatralen Reservat zu arbeiten, in dem die großen Traditionen der Vergangenheit wie ein Schatz gehütet werden.
Das russische Theater hat die neunziger Jahre in einer Art Ghetto verbracht....