Theater der Zeit

IV Bertolt Brecht/Kurt Weill

»Ändere die Welt, sie braucht es.«

Rede auf Peter Konwitschny, den Antichristen der Freunde der toten Oper, zum Antritt der Bertolt Brecht Gastprofessur der Stadt Leipzig

von Günther Heeg

Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)

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»Ändere die Welt, sie braucht es« ist Titel und Devise des Chors in Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme. Der Appell zur Veränderung der Welt klingt heute naiv-verwegen angesichts des brutalen Scheiterns der kommunistischen Bewegung. Die in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts angetreten waren, mit der Frische und dem Pathos von Aufbruch und Neuanfang die Welt zu verändern, sahen ihre Hoffnungen enttäuscht und die Bewegung enden in stalinistischer Gewaltherrschaft und Massenmord, später in der Agonie eines müde verwalteten autoritären Systems des Staatssozialismus. Alternativlos scheint seit dem Fall der Mauer 1989 die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaftsordnung weltweit zu sein. Aber die vorgeblich alternativlose Welt versinkt in Bürgerkriegen, Hungersnöten und Klimakatastrophen, wird erschüttert von den waghalsigen Zügen von geflüchteten Menschen rund um den Erdball, von rasch aufflammenden Ausbrüchen von Xenophobie, Demokratiefeindlichkeit und Antisemitismus. Angesichts dessen ist der Aufruf Brechts aus einer anderen Zeit »Ändere die Welt, sie braucht es« erneut wieder an der Zeit und seinerseits alternativlos. »Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie«, unter diesem Motto sind viele unterschiedliche Menschen, Gruppen und Bewegungen angetreten, Brechts Aufforderung zur Weltveränderung in unserer Zeit jeweils an ihrem gesellschaftlichen Ort zu folgen. Peter Konwitschny ist einer von ihnen. Das Feld, auf dem er dieses Ziel verfolgt, ist ausgerechnet die als besonders konservativ verschriene Oper. Aber Peter Konwitschny weiß die Institution Oper von dem Gehalt der Werke zu unterscheiden. So sehr er die allein auf die Affirmation des Bestehenden ausgerichtete kulinarische Oper als Institution verurteilt, so sehr arbeitet er daran, das kritische Potential der einzelnen Opern in seiner Arbeit an einem zeitgenössischen Musiktheater wieder zu entdecken und sie in der Perspektive auf die Veränderung der Welt, so wie sie ist. In beiden Haltungen zur Oper weiß Konwitschny sich mit Brecht einig. Von ihm hat er, vermittelt über Ruth Berghaus, in seinen Anfängen am Berliner Ensemble, die Grundideen eines in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreifenden Musiktheaters sich angeeignet und seitdem in über zweihundert Inszenierungen in über vierzig Jahren weltweit weiterentwickelt.

Brechts Kritik der kulinarischen Oper ist aktueller denn je in einer Zeit, die zunehmend von der kommerziellen Eventisierung des Musiktheaters geprägt ist. Peter Konwitschny, der einen tapferen Kampf gegen diese Entwicklung kämpft, ist hier ganz an der Seite Brechts. Konwitschny weiß genau um das Gespenstische dieses Opernbetriebs und derer, die ihm anhängen. Nicht umsonst und nicht ohne Ironie zeichnet er deshalb in der Signatur seiner Mails als »Antichrist der Freunde der toten Oper«.

Die Bezeichnung hätte auch auf Brecht gepasst. Denn der »Antichrist der Freunde der toten Oper« will die Oper nicht abschaffen, sondern ihr einen anderen Weg weisen. Das hat Brecht mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, mit der Dreigroschenoper, mit Das Verhör des Lukullus und einer Reihe anderer Opernprojekte getan. Sie sind keine Randerscheinung in seinem Schaffen, im Gegenteil. Man kann mit Recht feststellen: Die Oper ist das Modell für Brechts Theater. Denn von der Oper, der barocken Opera seria, hat Brecht das Prinzip der Unterbrechung der Handlung durch die Arie übernommen. Wie in der Barockarie die Handlung sich in der Auslegung eines dem Geschehen zu Grunde liegenden Zustands der Gefühle verdichtet und vertieft, so arbeitet Brecht an einem Theater der Zustände, die die vermeintliche Notwendigkeit und Atemlosigkeit einer fortlaufenden Handlung unterbrechen. »Denn wie man sich bettet, so liegt man« weiß Jenny in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – das ist der Lauf der Welt und die dabei auf der Strecke bleiben, sieht man nicht. Im Zustand, der Aussetzung der Handlung, die Brechts Theater anstrebt, sehen wir dagegen den Lauf der Welt mit fremden Augen. Fremden Augen, die uns anblicken und die uns, so erblickt, selbst in die Lage von Fremden versetzen. In den Arien, den Songs, den Liedern und Gedichten, die die Handlung bei Brecht unterbrechen, trifft uns die Erfahrung, dass was geschieht, nicht natürlich und selbstverständlich ist, sondern zutiefst fremd, mit emotionaler Wucht. »Nur die Nacht, nur die Nacht darf nicht aufhören« – der Schrei des Jimmy Mahonney vor seiner Hinrichtung am Morgen in eben dieser Oper, lässt mit einem Mal erfahren, dass eine Welt, in der einem vor dem Morgen graut, falsch eingerichtet ist und der Änderung bedarf. Das Fremdwerden dessen, was täglich geschieht, das Fremdwerden unserer Hinnahme dieses Geschehens und die Erfahrung der Änderungsbedürftigkeit des Weltzustands durch die ebenso reflektierte wie affektiv aufgeladene Komposition von szenischen Zuständen ist eine Alternative zur toten Oper. Das ist in nuce Brechts Programm eines anderen Musiktheaters, das Peter Konwitschny fortführt. Man kann sagen: Die Musiktheaterarbeit ist die eigenständige Übersetzung von Brechts Ideen in unsere Zeit.

3. Dezember 2017, Staatsoper Stuttgart. Premiere der Oper Medea von Luigi Cherubini, Regie Peter Konwitschny, Bühne und Kostüme Johannes Leiacker, Dramaturgie Bettina Bartz. Zu Beginn des 3. Akts sitzt Medea vor dem geschlossenen Vorhang, der eine mit Sehnsucht besetzte Meerlandschaft zeigt, auf der Spitze eines Dreiecks, das ins Proszenium ragt. Sie sitzt und kaut einen Apfel. Nichts weiter. Nur das Vorspiel zum 3. Akt, ein gewaltiges musikalisches Gewitter, entlädt sich über der Szene. Und Medea kaut den Apfel. Die Diskrepanz zwischen ihrer äußeren Ruhe und dem Sturm des Orchesters, das mit dem in ihrem Inneren korrespondiert, ohne ihn zu illustrieren, ist schwer auszuhalten. Denn er konfrontiert die Zuschauenden mit einer Fülle von Überlegungen und widerstreitenden Gefühlen angesichts dessen, was unvermeidlich kommt, der Mord an den Kindern. Diese Gefühle sind nicht auf eine Linie, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wer erwartet hat, dass er Aufschluss darüber bekommt, was er angesichts dieser Situation zu denken und zu fühlen hätte, dem wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Das exakt ist der Sinn des Zustands im Musiktheater: Er setzt uns der Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Fremdheit der äußeren und inneren Welt aus und fordert dazu auf, sie anzunehmen und mit ihnen zu leben. In einer Zeit, in der vielerorts populistisch-unterkomplexe Lösungen für komplexe Zusammenhänge angeboten werden – »Fremde raus!« – ist das Lebenlernen, das Lebenkönnen mit Vieldeutigkeit, Diversität und Fremdheit ein erster Schritt zur Änderung der Welt, so wie sie ist.

Fragt man Peter Konwitschny nach dem Geheimnis, wie er solche verändernden Zustände im Musiktheater herstellt, verweist er nur auf die Werke selbst, in denen alles bereits angelegt ist. Entgegen dem Vorurteil, das ihn zuweilen trifft, er stülpe den tradierten Opern ein willkürliches, aktuelles Regiekonzept über, ist Peter Konwitschny einer der werktreuesten Regisseure, die ich kenne. Werktreu ist er allerdings nicht im Sinne der Fortführung einer fragwürdigen Tradition. »Tradition ist Schlamperei«,2 hat schon Gustav Mahler festgestellt und Peter Konwitschny würde das sicher unterschreiben. Zusammen mit Bettina Bartz liest er die Libretti, die Partituren und die dazu gehörenden Korrespondenzen und Kommentare akribisch immer wieder aufs Neue, um den Zeitkern der Werke freizusetzen, das Momentum, an dem ein Werk von sich aus, ganz ohne aufgesetzte Aktualisierung, unsere Gegenwart trifft. Dafür drei Beispiele in aller Kürze und Verkürzung:

In der (Grazer und Leipziger) Inszenierung von Verdis Aida entdeckt Konwitschny aus dem musikalischen Material das Kammerspiel der Dreiecksbeziehung zwischen Aida, Radames und Amneris, das in der politischen Haupt- und Staatsaktion gerne untergeht. Nun rückt stattdessen der Triumphmarsch an den Rand eines bloßen Fernsehspektakels. Die intime musikalische Befragung der Figuren betrifft auch das Ende der Oper. Aus der melodischen Aufschwungsbewegung im Schlussduett des eingemauerten Paars Aida und Radames hat Konwitschny ein Dementi des tragischen Endes der Oper bei Verdi herausgehört und es als solches inszeniert: Aida und Radames verlassen das Grabgewölbe und tauchen in die Wirklichkeit des Leipziger Hauptbahnhofs ein. Was andernorts auf den ersten Blick als bloßer Einfall des Regisseurs erscheint, ist bei Konwitschny stets durch die Komposition gedeckt. Konwitschnys genaues Hören auf die Musik ist der Grund seiner szenischen Arbeit und die Gewähr dafür, die Werke vor der Konvention in die Gegenwart zu retten.

Als ein weiteres Beispiel wäre Konwitschnys hochgelobte Inszenierung von Wolfgang Rihms Die Eroberung von Mexiko bei den Salzburger Festspielen 2015 zu nennen. Der Konflikt zwischen dem spanischen Eroberer Cortez und dem Aztekenherrscher Montezuma lässt Inszenierungen leicht in die Falle des Exotismus tappen. Dabei geht es in diesem Musiktheaterwerk nicht um geographisch ferne Welten, sondern um das Fremde von Geschlechtern und Geschlecht und den Kolonialismus in Geschlechterkonstellationen. Aus der musikalischen Anordnung von Rihm heraus hat Konwitschny deshalb mit großem Recht den Konflikt zwischen Cortez und Montezuma in Die Eroberung von Mexiko als Kampf der Geschlechter im Horizont des (alltäglichen) Kolonialismus, als eine Ehehölle in einer Ikeawohnwelt gelesen und inszeniert.

Vielleicht am nächsten ist Konwitschny Brecht ausgerechnet in seiner Inszenierung von Fromental Halévys Grand Opéra La Juive, für die er 2016 mit dem deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet wurde. Konwitschny hat die Oper ganz aus der historischen und historistischen Verortung herausgesetzt und als Parabel im Sinn von Brechts Die Rundköpfe und die Spitzköpfe inszeniert. Juden und Christen unterscheiden sich durch die blauen und gelben Handschuhe, die sie tragen. Die Christen haben blaue, die Juden gelbe Hände. So wird der Konflikt der historischen christlich-jüdischen Geschichte entrückt und parabelhaft verallgemeinert als Kampf der Blauhände und Gelbhände. Was auch, ähnlich wie bei Brecht heißt: Kampf der Reichen gegen die Armen, der Privilegierten gegen die Entrechteten. Durch die Abstraktion der Parabel von den konkreten historischen Ereignissen der Verfolgung jüdischer Menschen im mittelalterlichen Konstanz verliert die Inszenierung allerdings den Blick auf die Besonderheit des Antisemitismus, der, fundiert in totalitären Weltverschwörungsszenarien, umfassender und tödlich wirksamer als andere rassistische, religiöse oder xenophobische Ideologien ist. Was durch die Abstraktion und Verallgemeinerung der Parabel verloren geht, gewinnt Konwitschnys Inszenierung auf einer anderen Ebene durch die musikalisch-politische Konkretisierung der Figuren und gegeneinanderstehenden Parteien. Vor der riesigen Rosette eines Doms im Hintergrund, einzige Reminiszenz an die historische Zeit und den Ort, an dem die Handlung der Oper spielt, das Konstanzer Konzil von 1414 (Bühne Johannes Leiacker), arbeitet Konwitschny den spiegelbildlichen Starrsinn der christlichen wie der jüdischen patriarchalischen Vaterfiguren heraus, der die geläufige dramaturgische Gegenüberstellung von Christen und Juden unterläuft. Der patriarchalische Fundamentalismus aber von Brogni und Eléazar3 wird konterkariert von den beiden Frauen, die den christlichen Großfürsten Leopold gleichermaßen lieben: der (vermeintlichen) Jüdin Rachel und der christlichen Prinzessin Eudoxie. Beide kommen sich in Peter Konwitschnys Inszenierung näher, als Eudoxie Rachel im Gefängnis besucht, um ihren Geliebten vor dem Tod zu retten. »Das ist«, sagt Peter Konwitschny im Gespräch, »musikalisch schon vorgegeben. Es sind leicht Offenbach’sche Klänge, mit denen Eudoxie auftritt und sich einlässt mit einer so armen Person, die dazu noch Jüdin ist. Dann haben die beiden ein Duett, in dem sie die gleiche Musik singen.«4 Für einen utopischen Moment verbünden sie sich gegen die von Ideologien beherrschte Welt der Männer. Es ist der Moment, in dem sich Eudoxie und Rachel zusammen die Hände waschen und sich von der Farbe der Ideologien befreien. Es sind utopische Momente wie die Gefängnisszene in La Juive oder das befreite Ende von Aida, die den Lauf der Welt unterbrechen und auf ihre Änderbarkeit weisen.

Noch einmal zurück zu Medea. Wenn sich der Vorhang im 3. Akt von Cherubinis Medea nach dem Gewittersturm hebt, zeigt sich das Dreieck, an dessen Spitze Medea gesessen hat, als Teil einer Insel in einem Meer von Plastikmüll, der unsere Ozeane verstopft. Wenn der Vorhang am Ende dann fällt, liegen die Leichen von Medea und den Kindern am Strand, die Leichen jener Geflüchteten, die keine Aufnahme in Korinth gefunden haben – oder in Lesbos oder an einem anderen Strand. Unaufdringlich, aber überaus treffend verbindet Peter Konwitschny die alte Geschichte mit unserer Zeit, ohne beide einfach gleichzusetzen. Vielmehr schafft er einen musiktheatralen Zustand der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, einen leidenschaftlich bewegten Zustand, in dem sich Fragen stellen, die auf eine zukünftige Antwort warten und der deshalb offen für Zukunft ist. In der Herstellung solcher Zustände liegt die Zukunft des Musiktheaters beschlossen. Peter Konwitschnys Inszenierungen tragen entscheidend zu dieser Zukunft bei – und nicht nur zu der des Musiktheaters. Sie fordern uns auf, es gleichfalls zu tun, jede:r auf je eigene Weise, denn: »Ändere die Welt, sie braucht es«.

Endnoten

  • 1 Peter Konwitschny eröffnete die Gastprofessur der Stadt Leipzig am Centre of Competence for Theatre (CCT) und dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig im Wintersemester 2017/18.
  • 2 Das geflügelte Wort Gustav Mahlers wird vom Bühnenbildner Alfred Roller so überliefert: »Was ihr Theaterleute eure Tradition nennt, das ist eure Bequemlichkeit und Schlamperei.« Roller, Alfred: »Mahler und die Inszenierung«, in: Musikblätter des Anbruch 2 (1920), S. 273; zit. n.: Müller, Karl Josef: Mahler. Leben – Werke – Dokumente, München 1988, S. 316.
  • 3 Zu einer anderen Beurteilung der Figur des Éléazar kommen Jossi Wieler und Sergio Morabito in der Stuttgarter Inszenierung von La Juive 2008. Siehe dazu: Heeg: »Reenacting History«.
  • 4 Aus einem unveröffentlichten Gespräch Peter Konwitschnys mit Studierenden der Leipziger Theaterwissenschaft am Tag nach der Mannheimer Premiere von La Juive am 11. Januar 2016.
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