Theater der Zeit

II Kleist / Abfall der Könige, Fürsten und Väter

Das Guiskard-Fragment

von Ulrike Haß

Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)

Assoziationen: Theatergeschichte

Jean-Jacques Lequeu, in: Johnny Leya, Ici Repose Jean-Jacques Lequeu, De te fabula narratur, Brüssel 2015, S. 122
Jean-Jacques Lequeu, in: Johnny Leya, Ici Repose Jean-Jacques Lequeu, De te fabula narratur, Brüssel 2015, S. 122

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Im Doppelheft April/Mai 1808 wird das Guiskard-Fragment in der von Kleist und Adam Müller herausgegebenen Zeitschrift Phoebus. Ein Journal für die Kunst veröffentlicht. Kleists Kämpfe um dieses Stück, über die er sich brieflich mitteilte und Wielands enthusiastischer Bericht über den Vortrag, den ihm Kleist 1803 aus dem Guiskard machte, haben Vermutungen über „die unausführbare Tragödie“ (Bernhard Greiner)166, aber auch überschwängliche Begeisterung über die „vollendete Unvollständigkeit“ (Thomas Mann)167 dieses Fragments ohne Ende hervorgebracht. Der Abbruch eines Fragments, der ohne Übergang in eine arktische Zone leitet, in der jede Orientierung aussetzt, wird als Zumutung wahrgenommen. Das denkende, lesende Ich fühlt sich zur Gegenwehr aufgerufen und versucht zu ergänzen, zu urteilen oder illusionär zu schließen, was im Abbruch des Fragments mit der Kraft des Zufalls aufklafft in das, was sein kann oder auch nicht sein kann. Daher werden wir, wenn wir es an dieser Stelle mit Roland Reuß halten, der Karl August Böttigers Rezension aus dem Juni 1808 zitiert: „Über das Ganze läßt sich aus dem kein Urtheil fällen, was hier vor uns liegt“168.

Was vor uns liegt, besteht aus einem Bild („Scene“) und 524 Versen. Dazu kommen die Untergliederung in zehn Auftritte sowie Sprecherangaben, Szenenanweisungen und drei Fußnoten zu den historischen Umständen Robert Guiskards. Nach dem Titel: Fragment aus dem Trauerspiel: Robert Guiskard, Herzog der Normänner169 steht das Personenverzeichnis und zeigt, dass der Titel wörtlich zu nehmen ist. Dem Herzog mitsamt namentlich ausgewiesener Kleinfamilie stehen ein Ausschuss von Kriegern und das Volk der Normannen im Plural gegenüber. Diese Gliederung von Protagonisten und Chor wiederholt sich in der Szenenanweisung.

Die „Scene“ als Bild und als Setting

„Cypressen vor einem Hügel, auf welchem das Zelt Guiskard’s steht, im Lager der Normänner vor Constantinopel. Es brennen auf dem Vorplatz einige Feuer, welche von Zeit zu Zeit mit Weihrauch, und andern starkduftenden Kräutern, genährt werden. Im Hintergrund die Flotte.“170

Im Lager der Normänner, ein Hügel, darauf das Zelt: Die dreigliedrige Szenenbeschreibung enthält eine tópos-Ordnung für das einaktige Fragment, auf die sich alle Szenenanweisungen im Text beziehen: Die Stimmen des Volks erheben sich stets aus dem Lager, die Mitglieder der Guiskard-Familie treten grundsätzlich aus dem Zelt auf und wieder dorthin ab. Der Hügel bildet den Bereich zwischen diesen beiden Orten, die Zone der Dialoge, der Augenzeugen und der Auseinandersetzungen. Hier heißt es: „Schaut! Horcht!“ (V. 35) Lager, Hügel und Zelt zitieren deutlich die Dreigliedrigkeit der antiken Bühnenkonstellation mit Orchestra, Proskenium und Bühnenhaus. Das altgriechische Wort skené bedeutet „die Hütte“, „das Zelt“. Die Auseinandersetzungen finden ‚vor dem Palast‘, also vor dem Zelt auf dem Hügel statt, der hier als Proskenium dient. Figuren, die diesen Hügel halb hinauf (wie der Knabe, V. 398) oder halb herab (wie Abälard, V. 338) steigen, geben damit auch so etwas wie eine wortwörtliche Umsetzung der Auf- und Abtritte, die Figuren auf einer modernen Bühne vorgeschrieben werden (und die in der frühen Druckfassung dieses Textes als fast übergroß gesetzte Zwischentitel ausgestellt werden). Diese dreigliedrige Bühnenanlage der „Scene“ ist eingebettet in eine Landschaft. Auch hierin folgt sie dem antiken Muster, das die Einrichtung der Cavea unterhalb einer Hügelkante vorsah, von der aus sich im Regelfall der Blick auf das Meer öffnete. „Im Hintergrund“ liegt hier die Flotte der Normänner „vor Constantinopel“, womit das dem Meer im antiken Muster gegenüberliegende Element der Stadt genannt ist. Bleiben noch die Feuer auf dem Vorplatz mit ihrem Weihrauch, ihren Kräuterdüften, die ebenso ein Zitat der antiken Theateranlage bilden, die einen Opferstein (Thymele) in der Orchestra kannte, deren Rauch- und Duftopfer mit den Göttern kommunizierten.

Mit „Constantinopel“, der erobert werden soll, ist das Formzitat der antiken Theateranlage zwar vollständig, aber zugleich auch gebrochen und transformiert. Denn Kleists „Scene“ gehört nicht zur staatlichen Bühne einer Polis, sondern bildet die quasi temporäre Bühne eines Theaters im Krieg, der stattfindet, weil die nomadisierenden Krieger der Normänner ihr Territorium als zukünftiges allererst suchen. Es handelt sich also um ein Theater, das keinem Staatswesen zugehört, sondern das zwischen Aufbruch (aus Sizilien) und Versprechen des Lehnsherrn im Krieg steht. Das ist der Einsatz, mit dem Kleist die Frage nach der antiken Konstellation um 1800 neu aufwirft: die Staatenlosigkeit, die Bodenlosigkeit, der Krieg. Daraus resultieren auch die Besonderheiten des chorischen Schon-da, das bei Kleist im ersten Wort seiner Szenenbeschreibung auftritt. „Cypressen“ sind im Mittelmeerraum die Totenbäume. Schon-da ist der Tod, der als Pest im Lager der Normänner wütet. Alle sind schon angesteckt und die Parodos des Volks sagt es auch sofort (V. 10). Die szenische Gegenwart ist damit bestimmt als ein Warten, das den Entwicklungen ihres Schon-da gilt. Entsprechend erscheinen die von Kleist relativ genau beschriebenen Gerüche dieser „Scene“ ansteckend wie eine richtungslose Mitteilung, die das Theater in eine Mitteilung vor aller Äußerung verwandelt.

Dieses Setting entrollt ein „Katastrophenbild“171. Juliane Vogel setzt es mit einem Gemälde in Beziehung, das der französische Staat im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons in Auftrag gegeben und mittels Propaganda stark verbreitet hat. Europaweit wurde das Gemälde von Antoine-Jean Gros General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa (1804) als beispielloses Muster der „Bildgattung des großen Mannes“ diskutiert. Es stellt Napoleon im Kreis hässlich gekrümmter, hockender, kniender pestkranker Gestalten dar. Aus ihnen hat sich ein fast entblößter Mann erhoben und steht vor Napoleon, der im Augenblick des Bildes seine Hand auf eine Pestbeule des Kranken legt. Juliane Vogel fasst diese Geste als die Darstellung einer „Wiederbelebung“ von Entkräfteten auf, mit der die Heilkraft vormals geweihter Könige zitiert wird.172 Dazu betont Vogel die auffällige Behandlung der Vertikale im Kontrast zu den in der Horizontalen lagernden Gestalten, die eine Wiedergewinnung der heroischen Vertikale in der Bildmitte bewirke. Die Vertikalisierung wird zusätzlich durch die Säulen betont, die hinter dem Szenario aufragen und hochgeschürzte Ausblicke auf eine Stadtmauer, ein paar Türme dahinter und einen dramatisch gefärbten Himmel bieten. Die charismatische Geste im Bildzentrum kennzeichnet Napoleon als „großen Mann“ und heilsgeschichtlich dimensionierten Erretter, der die Mystik des geweihten Königs beerbt.

Erwarten die Pestkranken in Kleists „Scene“ das Erscheinen ihres Feldherrn, der sich als seines „Volkes Abgott“ (V. 269) bezeichnet, auf ähnliche Weise? Vogel weist auf eine Stelle hin, in der Guiskard auf die Bitte hin, sich vorzusehen, direkt auf die Legende des Propagandabildes von Antoine-Jean Gros anzuspielen scheint, wenn er antwortete: „Kein Leichtsinn ist’s, wenn ich Berührung nicht / Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr, / Wenn’s ungestraft geschieht.“ (V. 477 ff.) Darüber hinaus würde Kleists Fragment den „großen Mann“ jedoch auseinandernehmen. Vor allem der spektakuläre Auftritt Guiskards demontiere den „großen Mann“, indem alles auf seine Entkräftung, Entzauberung und Verkleinerung durch Ridikülisierung ziele. Vogel zufolge verweigert das Fragment durch die „Abwesenheit eines starken Gegenspielers auf Augenhöhe“ die „Gattung der Tragödie“ und ihren „tragischen Verlauf“173, an dessen Stelle bei Kleist die Isolation des Protagonisten und das Fragment tritt. „Statt eines Gegners auf Augenhöhe findet der ‚große Mann‘ des napoleonischen Typus nichts als Leere vor. Indem das Fragment abbricht, wird dem ‚großen Mann‘ das tragische Format verweigert und die weitere Handlungsfähigkeit aberkannt. Die wenigen Szenen, die ihm bleiben, schildern stattdessen den Verlust seiner Glaubwürdigkeit und das Schwinden einer fiktiven Größe.“

Aber in diesem Fragment wird ein tragischer Verlauf nicht nur als Tragödie von Protagonist und Antagonist, sondern überhaupt als Verlauf verweigert. Im Setting der „Scene“ tritt uns das ganze Fragment vollständig entgegen, sodass es schon von daher keinen Verlauf nehmen, sondern nur entrollen kann, was schon da ist. Gehen wir davon aus, dass jedes Bild auch ein Setting ist. Selbst wenn ein Bild die heterogenen Orte, aus denen es sich zusammensetzt, in der Einheit seiner Bildwirkung zu verschmelzen sucht, bleibt von den Bedingungen seines Arrangements etwas Topologisches über. Kleists „Scene“ als Setting macht sie als Topos-Ordnung für das Fragment lesbar. Als dessen Bühnenanordnung im wortwörtlichen Sinn einer Anordnung oder eines Arrangements all seiner Elemente, die nur entborgen werden, aber nicht hinzukommen können. Kleists „Scene“ entwirft ein Theater, das nur unter Beteiligten spielt. Deutlich wird das im anfänglichen Auftritt eines Volks, dessen Verbleib vom Chor widersprüchlich diskutiert wird, das aber gar nicht daran denkt ‚abzugehen‘, sondern dableibt. Die „Scene“ entwirft damit auch ein Theater ohne Zuschauer oder zumindest eine Bühne, die alle versammelt und der kein eigener Zuschauersaal mehr entspricht. Die „Scene“ ordnet an, arrangiert, zitiert und entwirft. Aber sie spielt auch, indem sie sich entfaltet. Im Heerlager Guiskards wütet die Pest wie im Theben von Ödipus Tyrann. Volk und Krieger geben den pestkranken Chor, der aus einer Ansteckung hervorgeht, die, wie jede Infektion, aus unwillkürlichen Austauschprozessen von Körpern und Umgebungen resultiert, aus deren wechselseitiger Unabschließbarkeit. Das verunmöglicht einen tragischen Verlauf und die Tragödie wird zum Trauerspiel. Aber der Grund der Tragödie scheint mit der Pest als Gegenspieler doch berührt und ist darüber hinaus sogar derselbe wie im Ödipus. Auch im Guiskard-Fragment kann sie als Tragödie von Gattungsmenschen begriffen werden, die sich umgebungsvergessen und inklusiv als solche bestimmen und fortsetzen wollen. Die Epidemie tritt als der Gegner dieser Art von Menschenverwandtschaft auf. Ein solcher Gegner agiert niemals auf Augenhöhe. Damit geht es auch der Gattung der Tragödie an den Kragen.

Die Historie des Robert Guiskard

Über die Historie Guiskards war Kleist durch eine Biografie von Karl Wilhelm Ferdinand von Funck unterrichtet, die 1797 in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien. In der Brandenburger Kleist-Ausgabe von Reuß/Staengle wurde sie als „die wohl wichtigste Informationsquelle“174 Kleists erneut abgedruckt. Funcks Biografie erzählt die Geschichte Robert Guiskards als fantasievoll ausgeschmückten historischen Roman, der mitunter das Schauerromantische streift. Im Zentrum steht ein genealogisches Problem nach römischem Zuschnitt: das Drama der überzähligen Söhne.

Robert wird um 1015 als sechster Sohn des Tankred de Hauteville in der Normandie geboren, in das die Normänner aus Norwegen und Dänemark um 800 eingewandert sind. Robert und sein jüngerer Bruder Roger sind Söhne aus einer zweiten Ehe Tankreds und somit Halbbrüder der fünf Söhne Tankreds aus erster Ehe. Der gesamte väterliche Besitz geht 1035 an den ältesten Sohn Gottfried. Die überzähligen Söhne gehen nach Süditalien, wohin Robert ihnen zehn Jahre später, im Jahr 1045, folgt. Der zweitälteste Halbbruder, Wilhelm Eisenarm, ist inzwischen Anführer der apulischen Normannen mit ihrer Zentrale in Melfi geworden. Er stirbt 1046, woraufhin der Drittälteste, Drogo, nachrückt. Da Robert von seinen Halbbrüdern kein Lehen erhält, verdingt er sich zeitweise als Söldner. Als Bandit gelingt es ihm, eine sechzig Mann starke Bande aufzubauen, die jedoch keine Pferde besitzt. Mit ihr gewinnt er 1048 Scribla, eine hölzerne Burg in Nordkalabrien, und erhält die Zusage seiner Halbbrüder, das dazu gehörige Land behalten zu können. 1050 heiratet er, gegen den Widerstand von Drogo, eine gewisse Alberada von Bonauberge, die Tante des normannischen Anführers Girard von Bonauberge, der Robert als Mitgift für die Tante zweihundert Krieger überlässt. 1051 stirbt Drogo durch eine Verschwörung. Der viertälteste Hauteville-Bruder Humfred rückt nach.

Es beginnt ein schwieriges Verhältnis mit Papst Leo IX., der die Normannen als Ungläubige verfolgt und die Interessen Westroms gegen das byzantinische Reich verteidigt, während sich erste Interessen der Normänner in Bezug auf Konstantinopel manifestieren. Es kommt zur Schlacht bei Civitate, bei der Robert zwei Bischofsstädte gewinnt und dadurch in Konkurrenz zu Humfred gerät. 1057 kommt Roberts jüngerer Bruder Roger nach, um mit ihm zu kooperieren. Im selben Jahr stirbt Humfred, der einen zweijährigen Sohn, Abälard, hinterlässt. (Irgendwo in der Erzählung ist der fünftälteste Sohn aus erster Ehe verloren gegangen …) Jetzt entsteht die genealogische Konstellation, die Kleist in seinem Fragment aufgreift: Abälards Mutter ist bereit, die Rechte von Humfreds Sohn bis zu dessen Volljährigkeit zu vertreten. Die Normannen entscheiden sich jedoch nicht für den letzten Sprössling aus der Reihe der erstgeborenen Söhne, sondern für den ersten der zweitgeborenen, für Robert, aufgrund seiner einschlägigen kriegerischen Erfolge. Der Beiname Guiskard ist im Übrigen die altfranzösische Übertragung für das altgermanische „Wißhart“, das bis heute als „Fischart“ und als Synonym für „Schlauberger“ im Süddeutschen bekannt ist. Im Guiskard-Fragment vermerkt Kleist in einer Fußnote: „Guiskard heißt Schlaukopf“ (Fn. zu V. 248).

1059 wandelt sich unter dem Reformpapst Nikolaus II. die Politik Roms, die nun das Bündnis mit den Normannen sucht, welche per Synode nicht länger als Ungläubige gelten. Aus der Hand des Papstes erhält der überzählige Sohn Robert im Alter von etwa 45 Jahren erstmals Namen und Stand: Er wird als sein Lehnsmann zum Herzog von Apulien und Kalabrien erklärt und kämpft fortan unter päpstlichem Banner um Sizilien, das ab 1072 dazukommt. Die weiterreichenden, militärisch-wirtschaftlichen Interessen des Papstes richten sich indessen auf die Vereinigung von West- und Ostrom. 1074 arrangiert Robert die Verbindung seiner Tochter Helena mit Konstantin, Sohn des oströmischen Kaisers Michael VII. Helena wird dadurch zur Kaiserin von Griechenland. Im Auftrag des Papstes zieht Robert 1081 gegen den byzantinischen Kaiser Alexios. Für den Fall einer gelingenden Einnahme Konstantinopels hatte der Weltvater dem nunmehr siebzigjährigen Robert eine Grabstätte in Jerusalem versprochen. Roberts Kriegszüge werden durch Begleichung militärischer Lehnspflichten und die Notwendigkeit, Aufstände in Süditalien niederzuschlagen, jedoch immer wieder unterbrochen. Erst 1084 zieht er erneut gegen Osten, um eine drohende Absetzung der inzwischen verwitweten Helena zu verhindern und Byzanz zu erobern. Im Juli 1085 hat er die Küste Griechenlands im Ägäischen Meer erreicht. Während der Vorbereitung eines letzten Schlags gegen die Verschwörer im „neuen Rom“ sterben Robert und sein Heer durch „eine tödliche Seuche“ (I.2, S. 97).

Funcks Historie fokussiert das Drama der überzähligen Söhne und buchstabiert es am Beispiel von Guiskard aus. In auffälliger Weise erscheint es mit dem römisch-christlichen Modell einer Generationenfolge liiert, das die Filiation einer Ordnung unterstellt, in der die Möglichkeit zur Nachfolge einseitig vom Vaterrecht her zu eröffnen ist. Aufgrund der eklatanten Asymmetrie von Vater und Sohn ist die Nachfolge hier nicht nur von immenser Fragilität gekennzeichnet, sondern scheitert in praxi an Vätern, die nicht weichen wollen. Die Regeln der römischen successio, kanonisch tradiert, bilden abendländische Übereinkünfte, von denen sich die westliche Welt in Sachen Filiation und Generationenabfolge für lange Zeit leiten ließ. Sie büßen ihre Geltung erst allmählich und auch nur insofern ein, als Geschichte nicht mehr in dem Maße als Souveränitätsgeschichte geschrieben wird, die sich in Sachen Glanz, Größe und Glorie des Gesetzes auf Rom bezieht. In der Historie des Robert Guiskard sind alle wesentlichen Eckpunkte der Problematik von vaterrechtlichen Nachfolgeregelungen versammelt: ein Erbe, ein um die Größe der Vorfahren zentriertes Gesetz, selektive und verhinderte Nachfolge, überflüssige Söhne en gros, Rom, ein Papst als Übervater und schließlich Robert, der sich Stand und Namen zu gewinnen wusste und nun mit der Eroberung eines größeren Roms beauftragt wird, das er nicht gewinnen kann.

Zum Zeitpunkt, als Funcks Historie in den Horen veröffentlicht wird, steht das römisch inaugurierte Modell einer Genealogie, die sich vom Vater auf den Sohn zählen wollte, längst zur Disposition. Man könnte die Risse aufzählen, die ihm seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch die Kriege von Unterworfenen gegen ihre Herren sowie die Erzählungen einer Gegenhistorie beigebracht worden sind, aber darum geht es hier nicht. Das Modell einer Souveränität, die sich auf tausend Wegen immer noch mit der Größe Rom verbunden hatte, gilt im Namen der Französischen Revolution für besiegelt. Die Parole der Revolution forderte Freiheit anstelle von Souveränität, dann Gleichheit anstelle von Geburtsrechten und Ständeorganisation. Die Brüderlichkeit besagt indessen, dass unter allen Menschen, die Brüder werden, keine Väter mehr sind.

Ob sich die Demontage im Guiskard-Fragment auf die Gestalt des ‚großen Mannes‘ napoleonischer Machart bezieht oder auf eine väterliche Instanz, die in Zeiten allgemeiner Brüderlichkeit als Larve identifiziert wird, die von einem ewigen Sohn gegeben wird – es scheint hier um zwei Seiten derselben Medaille zu gehen. In jedem Fall handelt es sich um „das Schwinden einer fiktiven Größe“175, wie Juliane Vogel schreibt. Ihre daran anschließende Frage gilt in mehrdeutigem Sinn dem „Grund, der die Figur zurückfordert“176.

Kleists Räume

Der Bezug auf historische Figuren und Ereignisse macht eine Anmerkung zu Kleists Räumen notwendig, in denen projektive Verhältnisse von Vergangenheit und Gegenwart keinen Platz haben. An deren Stelle tritt die pure Dynamik von Verhältnisnahmen, die von mit- oder niederreißender Kraft sein kann. Kleists Räume liegen nicht als Räume mit bestimmten Einrichtungen vor, sondern entstehen mit der Dynamik der Figuren und der Konstellationen, die sie eingehen, durchqueren und transformieren. Weder bringen Figuren ‚ihren Raum‘ mit, noch kennen sie die räumlichen Bedingungen, unter denen sie auftreten und die erst nachträglich, mit ihnen und durch ihre unterschiedlichen Wege und Konstellationen, beschrieben sein werden. Kleists Räume mögen konkrete Bezeichnungen tragen, aberwesentlich füralle Bauernstuben, Schlosssäle oder Gerichtsstuben ist, dass es sich nicht um Einrichtungen, sondern um Übergangsräume handelt. Übergangsräume verhalten sich wie Schwellen, Flure oder Korridore. Sie schließen nichts ab, ebenso wenig kann etwas in ihnen zu Ende gebracht werden. Übergangsräume sind Verhältnisnahmen, aktuell und virtuell zugleich.

In diesen Räumen ist den Figuren eine immense Offenheit zu eigen, die sie in allen Verstrickungen begleitet, die sie untereinander eingehen. Entsprechend gleichen Kleists Figuren keinen innerlich organisierten Subjekten. Vielmehr verdichten sich in ihnen Affekt- und Wahrnehmungsvermögen, die auf nichts mehr verweisen, was ihnen räumlich, zeitlich oder innerlich vorausginge. Kleist-Figuren sind, wie Deleuze/Guattari unterstreichen, in „ein Milieu der reinen Äußerlichkeit“177 versetzt, das immer außerhalb ihrer selbst ist. Daher rühren ihre enorme Geschwindigkeit, ihre Umbrüche, Entladungen, Überstürzungen. Kleist-Figuren werden von der Gewalt des Affekts mitgerissen und von Eindrücken überwältigt, die zu stark für ein einzelnes Ich sind, sodass sie sich auf der Stelle entsubjektivieren, selbst auf die Gefahr hin, daran zu sterben.

Diese Offenheit vermag Betrachtende, Lesende unvermittelt zu tangieren. Gerade weil Kleist sich nicht an Personen adressiert, nicht an ein Publikum (was Goethe ihm vorgeworfen hat), schwindet die beobachtende Distanz. Augenblicklich stellt sich eine Berührung ein. Es handelt sich bei Kleists Übergangsräumen um Schwellen einer Zwischenräumlichkeit, die sich polyvalent öffnet und in Kontakt mit etwaig Lesenden/Zuschauenden zu treten vermag. Das Darstellungsgeschehen entfaltet sich über die Verhältnisse von Körpern, Positionierungen, Blicken, Worten, Pausen, Abbrüchen, Leerstellen. Es entfaltet sich über Konstellationen, die auf der Ebene der Figuren spielen und gleichzeitig die Wahrnehmung der Lesenden oder Betrachtenden involvieren. (Das ist ihr Spiel.)

Übergangsräume nehmen ganz unterschiedliche Zeiten in sich auf. Vergangene Gegenwarten überschneiden sich mit je aktuellen und bilden deren variables Vorher, aber nicht deren Geschichte. Ebenso können sie in das Nachher einer noch nicht festgestellten Gegenwart hineinreichen und punktuell zur koexistenten Gegenwart verdichten. Beispielhaft kommt diese Bewegung in einer Rede von Heiner Müller zum Ausdruck, die er aus Anlass der Entgegennahme des Kleist-Preises 1990 unter dem Titel Deutschland ortlos hielt. Das Preußen des Heinrich von Kleist, heißt es darin, sei angesiedelt „auf dem Riss zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Religion oder Ideologie die alten Stammesfeuer neu gezündet werden. Einem Riss, in dem zum Beispiel Polen immer wieder verschwunden ist.“178

Dieser Riss habe das Preußen Kleists in eine „Erdbebenzone“ verwandelt und den Westen und Osten Europas in einem Kalten Krieg getrennt: „Für den Rheinländer Adenauer war die Elbe ein asiatischer Grenzfluss.“ Zum Jahr 1989 heißt es:

„Eine Zeitmauer ist gefallen, und wir alle stehen sozusagen über Nacht in einen Raum mit unbekannten Dimensionen, etwa in der Lage eines Blinden, der auf einer verkehrsreichen Kreuzung die Entdeckung macht, dass sein Leithund nicht mehr sieht, […] jedenfalls in einer kleistischen Situation“.

Zwei Nachfolger

Zwischen der Pest, die durch das Lager geht, und Robert Guiskard, der sich im Zelt verbirgt, findet im Fragment das Drama der Söhne statt, die um die Nachfolge Guiskards konkurrieren. Zwei Prinzen mit asymmetrischen Rechten: Robert, der gleichnamige Sohn Guiskards und Abälard, der Sohn des vierten Hauteville-Sohnes aus erster Ehe, der zwei Jahre alt war, als sich Guiskard an die Spitze der Normannen setzte. Mit Robert Jr. würde eine von Robert Guiskard eröffnete, gleichsam neue dynastische Linie beginnen: „Des Herrschers Sohn, durch Gottes Gunst, bin ich“ (V. 273), sagt der Junior. Mit Abälard würde die alte Linie der erstgeborenen Brüder fortgesetzt werden, die „mit mehr Recht“ (V. 278) und „gekrönt vom Erbgesetz“ (V. 281), wie Abälard sagt, ihn seit dreißig Jahren als legitimen Thronerben anerkennen.179 Die beiden Prinzen treten, „mit einander sprechend“, aus dem Zelt vor „[d]ie Vorigen“ (I.2, 18): das Volk, die Krieger und einen Greis als Chorführer. Das Thema der beiden ist die Mathematik der Erbfolge, die Väter und Söhne wie Ursachen und Wirkungen verrechnet. Die beiden Prinzen tun dies auf eine jeweils signifikant defizitäre Weise. Ihr Versuch, aus Vater-Sohn-Folgen Schlüsse für sich selbst abzuleiten, erinnert an die beiden Söhne des Ödipus, die einen Bruder zum Vater hatten. Hier sind es zwei Väter, die Brüder waren.

Robert Jr. folgert mechanisch, er befiehlt und weist an. Der Greis bittet für die Normannen, Robert Jr. herrscht ihn an: „Lernen mußt du’s doch / Noch, was gehorchen sei, und daß ich es / Dich lehren kann, das höre gleich. […] Und wenn ich jetzt befehle, dass du gehst, / So thust du’s, hoff’ ich, nach der eignen Lehre, / Thust’s augenblicklich, lautlos, thust es gleich!“ (V. 212–220) Das sind Feldherrenworte, die den demütig Flehenden nicht hören, sondern dem Greis das Gehorchen auferlegen: ohne Widerspruch, „augenblicklich“ und „lautlos“. Eine Rede, die sich monokausal und einsilbig auf einen einzigen Satz stützt: „Des Herrschers Sohn bin ich“. Aus dieser Ursache soll für den Junior alles folgen. Sie ist sein einziger Anspruch. Sobald er ihn ausgesprochen hat, wendet er sich „ab ins Zelt“.

Abälard hingegen folgert diskursiv, mit werbender sprachlicher Geste, die jedoch seine Machtgier nur notdürftig bemäntelt. In seiner ersten Replik, in der er dem Junior Fehler aufzeigt, formuliert Abälard seine eigene, mit kaltem Verstand operierende Strategie.

Die „Normannskrone“ ließe sich durch (Erb-)Recht erwerben, vielmehr müsse der Anwärter auf die Krone die Normänner für sich gewinnen:

„Durch Liebe, hör’ es, musst du sie erwerben, / Das Recht giebt sie dir nicht, die Liebe kann’s! / Allein von Guiskard ruht kein Funk’ auf dir / Und diesen Namen [Schlaukopf] mindstens erbst du nicht; / Denn in der Stunde, da es eben gilt, / Schlägst du sie [die Normänner] schnöd’ ins Angesicht, die jetzt / dich auf des Ruhmes Gipfel heben könnten.“ (V. 245–251)

Als Ratschlag an Robert Jr. getarnt, zeigt Abälards Rede einen mit Zweck und Mitteln scharf kalkulierenden, kalten Verstand. Er hält dem Junior strategische Dummheit und eine mangelhafte Vaternachfolge vor, um ihm zu sagen: ‚So wirst du die Krone nie erreichen. Du hast einen beinharten Konkurrenten, der es besser weiß, und das bin ich.‘ Abälard zufolge, ist Guiskard im Besitz eines Herrschaftswissens, das der Junior nicht beherrscht, wohl aber er selbst, Abälard. Anstelle der Befehlsstrategie des Juniors entwickelt der zielstrebig kalkulierende Abälard eine andere Taktik, die das flehende Volk womöglich noch schärfer diffamiert. Es ginge gar nicht um das Erhören, sagt Abälard, noch nicht einmal um das Zuhören, sondern einfach nur darum zu hören: „Zu hören, was der Flehende begehrt, / Ist leicht. Erhörung nicht, das Hören ist’s“ (V. 255 f.). Abälard wendet sich dem Lager zu. Er ist gewillt, über die Parteinahme des Volkes die Nachfolge für sich zu entscheiden. Trickreich und „mit Worten wedelnd“, wie es bei Kleist heißt, entwirft Abälard das Bild vom pestkranken Guiskard, der seine Mission nicht mehr erfüllen kann, während sein Sohn dazu unfähig sei. Als der Junior überraschend das Erscheinen Guiskards ankündigt, wird Abälard von „fliegender Blässe“ (neunter Auftritt) ergriffen.

Marionettentheater

Guiskard im Zelt ist in der Topologie des Fragments anwesend als einer, der weder erscheint noch spricht und dessen Fehlen zum Anlass szenischer Projektionen wird, die so unterschiedlich ausfallen wie die Beteiligten, die hier das Wort ergreifen. Ihre Reden erschaffen den Souverän aus ambivalenten Wünschen, Forderungen, Gerüchten, unsicheren Beobachtungen, Vermutungen, Antizipationen und zirkulieren dabei um eine Leere, in der niemand Platz hat oder nehmen kann. Mit unheimlicher Ambivalenz entsteht eingangs das Bild einer inversen Überhöhung Guiskards. Das Volk nennt ihnen einen „Felsen“ (V. 4), der sich verschließt. Guiskard ist der schlechthin „Unerbittliche“, der „nicht hört“ (V. 50). Der „Jammer dieses ganzes Volks“ soll ihm „in die Ohren“ donnern, „was seine Pflicht sei“, nämlich die Rückführung des Volks aus den Schrecken des „gräulerfüllten Lagerplatzes“ (V. 8 f.). Während die „Sippschaft“ (V. 151) Guiskards auf dem Hügel die Politik der Schönfärberei und der Konventionen betreibt, umstehen die Normannen das Zelt ihres schweigenden Heerführers. Wie ein Maschinist seine Puppe versuchen sie, die in ihrer Hülle verborgene Figur zum Erscheinen zu bewegen, und weichen nicht von der Stelle. Neun Auftritte lang warten sie und setzen alle Hebel in Bewegung.

Wenn es um Guiskard geht, kommen Marionetten ins Spiel, dinghafte Wesen ohne Schwerkraft. Ein Normanne beschreibt das „eingemummte Ding“ (V. 156), das er nachts beim Zelt beobachtete, genauer als einen „Nagelstift“ (V. 161), an dem „Mantel, Stiefel[ ], Pickelhaube / Hieng“ (V. 160). Er habe diesem Ding schließlich, „schon von Ahndungen beklemmt […] das Angesicht / In’s Mondlicht“ (V. 162 f.) gedreht. „Und nun erkenn’ ich – wen?“, fragt er wie ein geübter Puppenspieler. Es sei Jeronimus, der Leibarzt Guiskards gewesen. Sein Publikum hält Ausrufe des Entsetzens zurück und erschauert. An einer anderen Stelle wird Guiskard als puppengleiches Ding geschildert, das allein durch seine Stiefel, seine Handschuhe und sein Hemd die Kraft hat, das Unmögliche zu vollbringen – und in Byzanz einzurücken (vgl. die Rede, mit der Abalard seinen Konkurrenten schmäht, V. 382 ff.). Schließlich öffnet sich das Zelt. Es erfolgt Guiskards requisitenstarke Aufrüstung zum ‚großen Mann‘ (Vogel) und seine Auratisierung mit den Mitteln des Theaterplunders. Der Greis fragt einen Knaben, ob er Guiskard schon sehen würde. Der Knabe daraufhin:

Wohl, Vater, seh’ ich ihn!

Frei in des Zeltes Mitte seh’ ich ihn!

Der hohen Brust legt er den Panzer um!

Dem breiten Schulternpaar das Gnadenkettlein!

Dem weitgewölbten Haupt drückt er, mit Kraft,

Den mächtig-wankend-hohen Helmbusch auf!

Jetzt seht, o seht doch her! – Da ist er selbst! (V. 399–406)

Der folgende Auftritt Guiskards ist reines Schmierentheater. Er führt sich vor, führt sich auf: „Ob ich wie Einer ausseh’, der die Pest hat?“ (V. 438) Er streckt sich, zeigt seine Glieder und verweist auf seine tadellose Stimme – ein „Geläut der Glocken“ (V. 442). Sekundiert vom Greis nimmt diese Selbstvorführung Guiskards fast achtzig Zeilen des Fragments in Anspruch, bevor es endlich heißt: „Zur Sache jetzt!“ (V. 486) Eben in diesem Moment kann sich Guiskard nicht mehr halten und beginnt zu wanken. Die Kaiserin zieht eine „große Heerpauke“ herbei und schiebt sie hinter Guiskard, der sich „sanft“ darauf niederlässt.

Der Tod im Marionettentheater ist eine Groteske. Dennoch vermag sich der komische Tod, der nach dem fallenden Herrscher auf der Heerpauke greift, im Theater Kleists mit dem Tod, der „auferstehungslos“ (V. 505) im Lager wütet, zu berühren. Sie berühren sich als Übertreibung oder Untertreibung in einem Theater, in dem die Zusammenhänge nicht mehr durch Instanzen verbürgt werden und nicht mehr durch Figuren hergestellt werden können und in dem, wie Reuß sagt, insgesamt die „Krankheit mitteilungsloser Sprache“ (I.2, S. 8) grassiert. An die Stelle von Instanzen, Figuren und Mitteilungen tritt ein „Grund, der die Figur zurückfordert“ (Vogel) in Erscheinung. Eine „Erdbebenzone“ (Müller), ein aufgewühltes Feld voller Geheimhaltungen, voller Leerstellen, voller sprunghafter Dinge. Ein Feld, das jeder Entfaltung eines protagonistischen Agenten entgegenwirkt und den zentralen Protagonisten verbirgt, der noch im Moment seines Auftritts fällt. Keine Zentralperspektive, kein Tafelbild, kein Guiskard und nichts von dem, wofür ein ‚großer Mann‘ hier noch stehen könnte.

Stattdessen gehen namenlose Aktivitäten Beziehungen ein. Sie spielen unter Attributen, die wie von Geisterhand animiert erscheinen: Dinge, Requisiten und Ausstattungen werden selbstständig. Sie setzen sich in Bewegung und führen sich auf, als wäre niemand sonst da. Und es ist auch niemand da, kein Halt. Nur eine Ohnmacht, die irgendjemandem (es ist Guiskard) als Sprung über eine Leerstelle dient. Auch der Tod erscheint nur als ein Effekt, nur als eine böse, momentane Verdichtung innerhalb von Geflechten, in denen Bakterien und Viren ihren nächsten Wirt suchen. Pest ist eine Metapher für das unmögliche Gemeinsame, verkittet durch Ansteckung und zirkulierende Gifte. Im aufgewühlten Feld eines Grundes, der sich nicht länger in der vermeintlichen Tiefe von Figuren verbirgt, sondern der sich veräußerlicht und frei auf Oberflächen spielt, bilden einerseits Animationen und andererseits Ansteckungen die beiden wesentlichen Sphären a-signifikanter Verknüpfungen. Wiederbelebungen wie von Geisterhand bringen Partikel in den unwahrscheinlichsten Kombinationen zur Erscheinung, während zirkulierende Gifte Partikel herauslösen und ausfallen lassen. Animation und Ansteckung spielen auch in dem großen Bild eine Rolle, mit dem sich der Greis ein letztes Mal an Guiskard richtet. Das Bild des Greises beschwört den magischen Zusammenhang von Volk und König. Es kann ja stimmen, dass du nicht krank bist, sagt er sinngemäß, aber „dein Volk ist, deiner Lenden Mark, / Vergiftet, keiner Thaten fähig mehr“ (V. 501 f.). An dieser Stelle reichen sich der groteske Tod (des Souveräns) und der auferstehungslose Tod (aller) in Kleists Theater die Hand. Das Mark der Lenden, Sitz der Vitalität eines jeden ‚großen Mannes‘, ist sein Volk. Es hat alle Register gezogen, um Guiskard als jenen fetischisierten Teil der Volk- und-König-Maschine wiederzubeleben, die sie gemeinsam bilden: eine Maschine, die sich im Krieg befindet, kurz vor der Schlacht, auf die alles ankommen soll. In diesem Moment tritt der arbiträre Charakter des marionettengleichen Dings am Platz des Königs in Erscheinung. Der mühsam Hervorgerufene, Belebte, Adorierte ist nichts als eine „Helmbusch“, den man auch alleine vorschicken könnte. Es geht nichts mehr, sagt der Greis zu Guiskard, dein Volk ist vergiftet, zu keiner Tat mehr fähig.

Misslingende Invokation

In der Figur Guiskard überschneiden sich die Positionen von Vater, Fürst und König, in denen sich jeweils unterschiedliche Pluralitäten bündeln. Zwei Nachfolger spitzen sich auf die Position des Vaters. Der Fürst befehligt als Heerführer eine Vielzahl normannische Krieger, die von einem zwölfköpfigen „Kriegerausschuss“ vertreten werden: von einem Militärchor, der innerszenisch zu seinem Anführer hält, von dessen militärischem Können und Wissen er abhängig ist. Die Position als König geht nicht aus der Guiskard-Historie hervor, sondern wird von Kleist durch ein Volk jeden Alters und Geschlechts evoziert. Mit diesem unbestimmten Volk ist eine Mannigfaltigkeit bezeichnet, die sich von der Menge der Krieger deutlich unterscheidet. Während letztere in den Zustand einer Formation übergeht, die sich repräsentieren lässt, meint die Formel der Mannigfaltigkeit eine unanschauliche Vielheit, in der jegliche Alter und Geschlechter vorhanden sind, alle. Der undarstellbare Chor einer Chorsphäre, in der sich Vergangenheiten und Zukünftiges ständig berühren und mischen (alle Alter) und in der die Geschlechter ihre binäre Gliederung überwuchern (alle Geschlechter). In der Formel Kleists lässt sich diese Chorsphäre nur grammatisch auf eine Einheit zurückführen, wobei Volk jedoch im Verwirrspiel der Genitivkonstruktion als Subjekt oder Objekt aufgefasst werden kann. Im objektiven Sinn würde die Formel alle Völker aus allen Zeiten und allen Geschlechtern meinen, im subjektiven Sinn alle Alter und Geschlechter in einem unbestimmten Volk als einer Menge mit unscharfen Rändern. Wie auch immer: Kleists Formel evoziert eine undarstellbare Mannigfaltigkeit – alle. Es kann nur hier und da einer oder eine heraustreten und ihr zufälliger Sprecher sein, wie hier der Greis, der einen Knaben an der Hand hält.

Guiskard gegenüber beschwört der Greis eine immer noch heilsgeschichtliche Dimension des Zusammenhangs von König und Volk herauf, die sich jedoch nicht mehr restaurieren lässt. Das ist die „Sache“, um die es gehen soll, als der Greis sich an Guiskard mit den Worten wendet: „Du weißt’s, o Herr!“ (V. 484) Guiskard beginnt zu wanken. Zwei Gedankenstriche führen die Rede des Alten in diesem „entscheidenden Moment, da schon – –“ (V. 486) ins Nichts. Warum tituliert der Greis Guiskard nicht direkt? Warum misslingt die Invokation? Warum setzt sich ein Du weißt‘s davor? Die auffällige Dramaturgie dieses Redeeinsatzes, zumal sie identisch wiederholt wird (V. 490), signalisiert eine Leerstelle, die offenbar das Misslingen der Invokation bewirkt. Ausgespart erscheint ein Referenzpunkt für die Anrufung des Herrn. Es fehlt die bezeichnende Funktion, die den Herrn zu jener Gegebenheit machte, die sich direkt anreden ließe.

Zwischen den beiden Du weißt’s vollzieht sich der Sturz Guiskards, und er fällt gründlich. Die Ballung der Positionen von Vater, Fürst und König überhöht Guiskard zu einer Figur, die gleichzeitig in vaterrechtlichen, kriegerischen und souveränitätsgeschichtlichen Mustern ankert. Die Muster verstärken sich gegenseitig und spielen alle auf einer Achse, die in der Souveränitätsgeschichte mit Vertikalität, Hierarchie, Autorität und divinatorischem Glanz ausgestattet worden ist. Wenn Guiskard zu Boden sinkt, stürzt er dreifach aus der Vertikalen: als Rechtsfall, als Kriegsfall und als Sündenfall.180 Kleist zeigt aber keinen jähen Sturz. Vielmehr zeichnet er mit Versfragmenten einen Vorgang, bei dem das Bild einer brechenden Säule entsteht, die in Zeitlupe fällt: „Willst du – ? / Begehrst du – ? / Fehlt dir? / Gott im Himmel! / Was ist? / Was hast du? / Guiskard! Sprich ein Wort!“ (V. 487 ff.) Es handelt sich nicht um einen spektakulären Sturz. Er geschieht nicht aus höchster Höhe und führt auch nicht in den tiefsten Abgrund, zumal ihn Tochter Helena ausgerechnet mit einer großen Heerpauke abfedert. Der Sturz vollendet sich dadurch nicht wirklich, genauso wie es die Achse, auf der er sich vermeintlich vollzieht und die er mit sich niederreißt, nicht wirklich gibt. Die Szene geht unauffällig in eine allgemeine Ermattung und Erschöpfung über. „Du weißt’s, o Herr!“ (V. 490), setzt der Greis erneut an, während Guiskard und Helena wortlos im Zelt verschwinden. Hier fällt kein mächtiges Ding. Vielmehr treten im Bild der brechenden Säule das Arbiträre und Zusammengestückelte einer Macht zutage, die keinen Grund hat, die keine Einheit bildet, die in keine Totalität eingeht und die nicht angerufen werden kann. An die Stelle des Herrn tritt eine mit Fäden und Drähten bewegte Figur auf, an die Stelle seiner Macht deren bloße Kontingenz.

Im Guiskard-Fragment steht die Pest für diese Kontingenz ein. Der Greis zeichnet ein genau komponiertes Bild dieser indifferenten Macht, die nicht unterscheidet und grundlos trifft. Die Pest kennt keine Geschichte und verheert alle zwischenmenschlichen Bande. Sie richtet sich „gegen Gott und Menschen“ (V. 511). Sie löst das Band der Brüderlichkeit zwischen „dem Freund, dem Bruder“ (V. 513). Sie wütet gegen Stammbäume und familiäre Genealogien von „Vater, Mutter, Kindern“. Zuletzt wird „die Braut selbst“ (V. 515) genannt, mit der im sozialen Gewebe nahezu alles anfängt. Gruppen, familiäre Bande, historische Bedingungen, Ideen und Hoffnungen verschwinden gemeinsam in den Geflechten einer Ansteckung, die nicht auswählt und nicht unterscheidet. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf die Leerstelle einer bezeichnenden Funktion zu verweisen: Sie kann als Niederlage einer väterlichen Referenz gedeutet werden, die am Ende ihrer Geschichte morsch geworden ist und abreißt wie ein alter Faden – das wäre die Variante, die immer noch im Bann einer römisch geordneten Genealogie stünde, die deren Abbruch für unverzeihlich hält und entsprechend beklagt. Sie kann aber auch als Kluft und als Aufklaffen in einem Gemeinsamen begriffen werden, wie es zu den Erfindungen der klassischen griechischen Polis zählt. Mit der Metapher der Pest wechselt das Guiskard-Fragment in dieses Register und thematisiert eine Grundlosigkeit, die jegliches Zusammengehören betrifft. Aus der Entstehungszeit der Polis resultiert indessen auch ein Chor, der an eine a-signifikante Relationalität erinnert, von der sich die ödipalen Verstrickungen und ihr genealogisches Motiv bereits abgewandt haben.

Ähnlichkeiten zwischen Guiskard und Ödipus sind vielfach bemerkt worden. Hier sei nur kurz auf die Stelle des Vaters hingewiesen, die in beiden Geschichten eine Rolle spielt. Im sophokleischen Ödipus berichtet Jokaste von einem Orakel, welches Laios einst prophezeite, dass über ihn „das Schicksal kommen werde, durch den Sohn / zu sterben, der aus mir und ihm entstünde“ (V. 713 f.)181. Die Struktur dieser Formulierung lässt offen, ob damit das Gesetz einer Abfolge benannt ist, der zufolge sich Vätern in ihren Söhnen die eigene Endlichkeit vor Augen stellt und sie daher durch oder in diesen sterben, oder ob sich darin eine Gewalttat des Sohnes gegen den Vater ankündigt. Diese Unentscheidbarkeit in der Prophezeiung (die später entfällt, V. 793) hat mit der Abfolge von Vater und Sohn im Kern zu tun. Der Vater muss den Sohn vorangehen lassen und dafür zurücktreten. Verstellt er ihm indessen den Weg, wird er vom Sohn aus mit Gewalt verdrängt. Genau dies geschieht am Dreiweg in Phokis (V. 715–717). Laios, der fürchtet, „dass er von dem Sohn stürbe“ (V. 723), ist für die mögliche Doppeldeutigkeit des Orakels unempfänglich. Er lässt die Fußgelenke des Säuglings binden und befiehlt, ihn ins „unzugängliche Gebirge“ (V. 719) zu werfen. Die Geste dieses Vaters ist gründlich. Mit dem Sohn wirft er auch den Vater weg. Ein Gründungsfehler, der sich für Ödipus als eine absolute Aussparung darstellt, sodass für ihn die Stelle des Vaters und dann auch die des Königs unausführbar werden. Wie im Bild von Adolph Menzel Die Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generäle vor der Schlacht von Leuthen (1864/65) deutlich wird, heißt dies aber nicht, dass die unausführbare Stelle ohne Umgebung ist.

Chor – Umgebung

Wie im Fall des von Menzel ausgesparten Königs ist an seiner Stelle nicht einfach nichts. Es gibt da die grundierte Leinwand, zusätzlich von einigen Kreidespuren bedeckt, von unausgeführten und unausführbaren Skizzen und den Spuren einer Hand, die zu Menzel gehörte. Etwas, das sich als Fleck, als Kreidespur oder in einer offenen Parenthese indefiniert, gibt etwas anderem Raum. Es handelt sich nicht nur um Gesten eines Scheiterns, sondern auch um solche der Einräumung. Wird dem König der Anspruch auf die Hauptrolle entzogen, tritt die Komposition mit ihren vielfachen und vielfältigen Mitspielern hervor. In gleicher Weise lässt der als Schmierentheater gescheiterte und durch eine Schwäche abgebrochene Auftritt Guiskards den Hintergrund hervortreten und erlaubt, die Aufmerksamkeit auf jenes größere Theater zu richten, dessen Topologie Kleist in der Szenenanweisung mit leichter Hand skizziert.

Dieses größere Theater gehört im Guiskard-Fragment dem Lager mit einem pestkranken Chor. Der Ausschuss von zwölf Kriegern (V. 43) wird von einem unbestimmten Volk jeden Alters und Geschlechts begleitet. Bei Kleist wird dieses Volk nicht einfach zu einem Publikum, sondern zu einer größeren, unausführbaren Chormasse, der gleichwohl die erste Rede gehört. Sie wird die gesamte Zeit über dableiben in diesem Theater, das keinen Extra-Raum für die Zuschauer vorsieht. Ob dieses Volk bleibt, wird im zweiten Auftritt diskutiert: Der Greis will es nicht auf der Szene. Was sollen Frauen und Kinder hier, fragt er (V. 41 f.). Ein Anderer, Ein Dritter, Ein Normann usw. diskutieren und entscheiden: Der Greis soll „die Stimme führen“ (V. 48) und Guiskard den „Jammer dieses ganzen Volks“ (V. 51) in die Ohren donnern. Die Chormasse bleibt also als Schallverstärker der Stimme ihres Sprechers, mithin in derselben medialen Funktion wie die stufenförmig aufsteigende Cavea der antiken Theateranlage.

Im Eingangslied wird die Pest als „Scheusal“ (V. 28) beschrieben, das deutlich an die Sphinx erinnert, die zur Zeit des Sophokles als geflügelter Löwe und zum ersten Mal, abweichend von der ägyptischen Tradition, mit dem Kopf einer Frau dargestellt wurde. Dieses „Scheusal“ wird zum Emblem eines Fluchs: Wenn Guiskard nicht umkehrte, würde Konstantinopel ihm zum „prächt’gen Leichenstein“ (V. 30). Auf diesem Stein würde sich „statt des Seegens unserer Kinder“ (V. 31) deren Fluch niederlassen. Der Kinder Fluch, als „Missgestalt“ (V. 32) auf dem Grabstein thronend, würde Verwünschungen gegen Guiskard als den „Verderber ihrer Väter“ (V. 34) ausstoßen. Mit „hörnern Klauen“ (V. 35) würde diese „Missgestalt“ die Erde des Grabs umdrehen und den Leichnam des Feldherrn in seiner Rüstung („das silberne Gebein“, V. 36) hervorwühlen. Der Chor entwirft das Bild des Fluchs in der Form eines Orakels. Kinder werden Guiskard als denjenigen verfluchen, der ihre Väter vernichtet haben wird. Ihr Fluch wird ihn im Grab nicht ruhen lassen. Als Volk ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel spricht der Chor von „unseren Kindern“.

Kleist zeichnet die Pest als jene Sphinx, die einst den Weg des Ödipus in die Stadt Theben säumte. Wird ihr Geheimnis im Umkreis der genealogischen Problematik situiert, sagt das auch etwas über den aus, der ihr Geheimnis durchdringt und die Antwort weiß. Sie lautet: der Mensch in seiner unbegrenzten männlichen Form, das heißt im Singular. In der Konstellation von Sphinx und Ödipus verschwistert sich der Mensch mit dem neuen Stadtstaat, besteigt Thron und Königin (die vor ihm in Theben da war), zeugt neues menschliches Leben und will seinen Eintrag in die Sukzession. Er will das spérma sehen, den „Stamm“ (Schadewaldt), den „Ursprung“ (Steinmann), den „Samen“ (Hölderlin), der ihn ‚gepflanzt‘ hat. Die ganze Terminologie der agropastoralen Ordnung geht auf die Seite des Mannes über, während die chtonischen und ozeanischen Kräfte mit ihren Göttern in die Sphäre von Gaia/Themis verbannt werden. Dorthin rettet sich auch die Sphinx, nachdem sie die Antwort des Ödipus gehört hat. Um sich als Ursache zu behaupten, muss sich die männliche Zeugung gegen die weibliche Linie verschließen, muss ihr Frau-Werden bestreiten, muss ihre Abstammung gegen die Epidemie verteidigen und ihre Vererbung gegen die Ansteckung. Mit einem Wort, sie muss sich gegen eine unabsehbare Pluralität auf molekularer Ebene ebenso panzern, wie gegen die Sphäre der transhumanen Symbiosen, für die im selben Zug das Wort cháos eingesetzt wird, das für gewöhnlich mit „Abgrund“ übertragen wird. In diesem Moment, der sich hinzieht, tritt die Pest auf.

Die Pest ist damit ausgewiesen als Zitat einer bestimmten Konstellation. Im Guiskard-Fragment erscheint sie als ausgebreiteter Saum, der alles erfasst. Wie ein Untergrund, der zur Oberfläche aufsteigt, wirkt die Seuche als gründliche Verheerung sozialer-familialer Ordnung. Andersherum ließe sich jedoch auch sagen: Die Seuche macht mit ihrem Prinzip der Ansteckung da keinen Unterschied, wo eine Ordnung unterscheidet, die sich auf die Binarität der Geschlechter und die Produktion durch Filiation stützt und die von da ausgehend das gesamte soziale Feld rastert und hierarchisiert (Frauen – Männer, Junge – Alte, familiärer Stand, sozialer Status usw.). Soziale Ordnungen liegen jeweils nur als bestimmte vor (und andere sind denkbar). Jene Ordnung, die der Greis im Guiskard-Fragment nennt (V. 511–515), bildet das Resultat einseitiger Unterscheidungen, die Vermengungen mit heterogenen Umgebungen abwehren und sich gegen einen ‚Abgrund‘ schlechthin unbestimmter Lebewesen zu profilieren suchen. Doch umgekehrt verriegeln sich diese Umgebungen ihrerseits nicht. Heterogene Populationen schalten sich ein, wuchern in den umgebungsvergessenen sozialen Ordnungen autoritärer oder despotischer Provenienz und überziehen sie mit den Wirkungen ihres Vergessens. Jedwede Herkunft reicht unabsehbar über irgendeine paternale Referenz hinaus, deren Behauptung Ödipus auch deshalb so viel Pein verursacht, weil sie einen künstlichen Ausschnitt aus einer Mannigfaltigkeit von Werdenskräften darstellt. Eine mögliche Kommunikation mit ihrem unanschaulichen Gewimmel verschließt sich im Protagonisten, hinterlässt jedoch umgekehrt Spuren in den Chorsphären. So auch bei Kleist.

Die Chormenge Volk jeden Alters und Geschlechts wird eingangs als ein Meer „in unruhiger Bewegung“ gezeichnet. Sie gleicht einem Flow, die mit ihrer „Heereswog’“ (V. 5) das Zelt „umsonst umschäumt“ (V. 6) und den Hügel, der in dieser Szene im engeren Sinn für die ‚Bühne um 1800‘ steht, als Friedhof antizipiert. Es gibt vier weitere Chor-Szenen (genauso viele wie im Fall der beiden Prinzen), in denen sich dieser Flow innerszenisch als vielstimmige Figur des Reden-Hörens fortsetzt. Eine Stimme (aus dem Volk), Eine Andere, Eine Dritte, Eine Vierte, Eine Fünfte, Ein Knabe usw. praktizieren ein gleichsam beflügeltes, beiläufiges Sprechen, das aus Wiederholungen, Echos, Dissonanzen, abgebrochener Rede, Ausrufen und Affekten besteht. Es dreht sich in diesen chorischen Partien um die sprachliche Abbildung der metonymischen Figur des Reden-Hörens. Kein Erhören oder Gehorchen, wie es die beiden konkurrierenden Prinzen im Fragment diskutieren. Aber auch kein Horchen auf Indizien und Zeichen, sondern ein Reden-Hören, das zwischen Laut und Bedeutung spielt. Es erscheint, wie Abälard sagt, als bloßes Geräusch der Sprache, „dem Geräusch des Tages“ vergleichbar, „das keiner hört, weil’s stets sich hören lässt“ (V. 225 f.). Abälards „Geräusch des Tages“ beschreibt eine Figur des modernen Reden-Hörens, die heute, technologiegestützt, als permanentes, haltloses Sich-Aussprechen kursiert und mit einer sich vertiefenden Krise des Zuhörens einhergeht. Es bedarf einer Technik, die unbedingt zu den Theatertechniken gehört, um solches Reden-Hören auf ein anderes, implizites Verstehen hin zu öffnen. (In diesem Sinn setzt vor allem Jelinek heute das größere Theater Kleists fort.) Es bedarf einer „Öffnung des Zuhörens auf alle Formen der Polysemie“, wie Roland Barthes ein „Zuhören“ beschreibt, das durch „das Implizite, das Indirekte, das Zusätzliche, das Hinausgezögerte“182 hindurch versucht, auf etwas anderes zu hören. Ein solches Zuhören geht mit einem anderen Verstehen einher. Es ist nicht darauf aus, Ganzheiten und Figuren herzustellen, sondern versteht sich umgekehrt, von einer notwendig unanschaulichen Totalität her, als Teil. Es handelt sich um ein teilweises Verstehen, das sich in wechselseitiger Hervorrufung als ein anderes versteht und das sich im Reden-Hören denkt.

Für diese Szenen eines einander ansteckenden Reden-Hörens entwirft Kleist im Guiskard-Fragment als ein Theater, das nur unter Beteiligten spielt. Es wird deswegen jedoch keineswegs zum „unsichtbaren Theater“183, wie dies Goethe für seine ins Anschauliche verliebte Zeit mit geradezu vernichtender Wirkung für das Kleist’sche Theater befand. Nur eine Auffassung, die sich an der Macht des Signifikanten und am Gesicht orientiert, kann meinen, dass die res extensa auditiver und vokaler Formen sich zwingend unsichtbar vollzieht. Aber diese ausgedehnte Sache trägt sich räumlich, situiert und körperlich zu. Körper teilen sich im Reden-Hören mit und mischen sich präsignifikant ein. Sie färben das Reden nicht weniger als das Hören. Reden-Hören durchquert das Feld des Sichtbaren, löst sich jedoch nicht vollständig von ihm ab. Es unterschreitet den sehenden Weltbezug nur als die erste, maßgebliche Bezugsgröße. Dafür öffnet es sich transkategorialen Zusammenhängen. Die Beweglichkeit des Zuhörens übersteigt das schlichte Ping-Pong personifizierter Rede und schließt etwas in sein Feld ein, das es auftauchen lässt. Zuhören, dieser „anscheinend bescheidene Begriff“184, ist letztlich nicht nur wie ein Theater strukturiert, vielmehr taugt er zur Konzeption eines rückhaltlos öffentlichen Theaters, in dem sich Reden und Hören aufführen wie zwei Sprachen, die miteinander ringen. Werner Hamacher nennt sie „die zwei Sprachen der Philologie“. Wörtlich genommen wären sie zwei Arten einer Liebe zur Sprache, die sich in Hamachers Beschreibung aufführen wie ein Chor. Sie „sprechen mit einander. Aber die zweite kann nur wiederholen, was die erste sagt; die erste nur überholen, was von jener gesagt wird. So sprechen sie einander, sprechen sich auseinander und sprechen ihr Auseinander.“185

166 Bernhard Greiner, „,Die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen‘: Die unausführbare Tragödie Robert Guiskard“, in: Michael Lützeler/David Pan, Kleist Erzählungen und Dramen. Neue Studien, Würzburg 2001, 135–149.

167 Thomas Mann sprach von einem „kolossalen Akt“, der „zu gut“ sei, als daß er überboten werden könnte und weitere vertrüge“, in: Helmut Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Bremen 1967, Nr. 500d.

168 Roland Reuß, „Lautlos“. Kritik der Rede in Kleist „Robert Guiskard“. In: Brandenburger Kleist-Blätter 13. Band I/2 der Brandenburger Kleist-Ausgabe (Robert Guiskard) 2000, 3-11, hier 3.

169 In der Phöbus-Erstveröffentlichung hieß es „Tragödie“ anstelle von „Trauerspiel“. BKA I/2, 7.

170 Alle Zitate aus dem Stück werden mit Versangabe zit. n.: H. v. Kleist, Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle, Band Bd. 1/2, Basel/Frankfurt a. M. 2000.

171 Juliane Vogel, „Kleists Guiskard-Fragment und die Pestkranken von Jaffa“, in: dies., Aus dem Grund, ebd., 208–225, 208.

172 Ebd., 217 f.

173 Ebd., „Das Fragment oder die Verweigerung des tragischen Verlaufs“, 223-225.

174 BKA I.2, 108.

175 Vogel, Aus dem Grund, 225.

176 Ebd., 207.

177 Kleist gehört zu den bevorzugten literarischen Referenzen von Deleuze/Guattari. Hier im Zusammenhang mit der Kriegsmaschine: Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, ebd., 487–489, 489.

178 Heiner Müller, „Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist“. Rede anläßlich der Entgegennahme des Kleist-Preises 1990, in: ders., Jenseits der Nation. Berlin 1991, 61–67, 62 u. 61.

179 Die Phöbus-Ausgabe des Fragments verwendet zur Erläuterung dieser Zusammenhänge eine ausführliche Fußnote (I.2, 23).

180 In Anspielung auf den schönen Titel der Anthologie von: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i. Br. 1994. Der dritte Term dieser Reihe lässt sich auf den Souverän beziehen, der von Gottes (oder Papstes) Gnaden eingesetzt ist.

181 Sophokles: König Ödipus (übers. Kurt Steinmann). Anstelle von Sohn steht im Griechischen das Wort Kind (paios). Durch die letzten vier Worte – emou te kakeinou para – wird konkretisiert, dass dieses Kind aus Zweien kommt (emoute), wörtlich: „mir dir“. Übertragungen unterlegen jedoch stets die Geschlech terdifferenz von männlich und weiblich: „aus mir und ihm“ (Steinmann) oder „mir und ihm“ (Schadewaldt).

182 Roland Barthes, „Zuhören“, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1990, 249–263, hier 262.

183 Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Adam Müller (28.08.1807), in: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hg. von Helmut Sembdner, 4. erw. Aufl., München/Wien 1996, 185.

184 Barthes, „Zuhören“, ebd., S. 262.

185 Werner Hamacher, 95 Thesen zur Philologie, hg. von Urs Engeler, roughbook 008, Frankfurt a. M./Holderbank (SO), Oktober 2010, hier: These 16.

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