Thema: Bundestagswahlen
Ein Wahlrecht für alle, überall!
Über die fehlenden zwölf Prozent, das unzeitgemäße Konstrukt der Staatsbürgerschaft und die Grenzen der Menschenrechte
von Luna Ali
Assoziationen: Debatte
Wer deutsch ist, ist wahlberechtigt
Der Vorstellung nach, dass Gemeindevolk nicht gleich Staatsvolk sei, wagten 1989 das Bundesland Schleswig-Holstein und die Hansestadt Hamburg den Versuch, das Kommunalwahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass zu erweitern. Dieses demokratische Vorhaben wurde ihnen vom Bundesverfassungsgericht mit der Begründung untersagt, dass das Grundgesetz mit der Formulierung „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ nur das deutsche Volk meine. Nehmen wir also das deutsche Volk unter die Lupe.
In der Fremde
Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.
Das küsste mich auf deutsch und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum,
Wie gut es klang) das Wort: Ich liebe dich!
Es war ein Traum.
Was nach verkitschter Vaterlandsliebe klingt, wurde 1833 von Heinrich Heine geschrieben und hundert Jahre später 1933 als Titelseite der Prager GOLUS – Zeitschrift für Jüdische Emigration abgedruckt. „Golus“ bedeutet auf Hebräisch Verbannung, Exil.
Wie konnte Heine trotz seiner Verbannung und seiner oftmals zynischen Beschreibungen der deutschen Verhältnisse ein solches Gedicht schreiben? Und wie konnte es sein, dass deutsche Juden und Jüdinnen sich darin widergespiegelt sahen? Es scheint absurd, Sehnsucht nach einer Heimat zu haben, die einen verstoßen hat, ja, danach trachtet, einen zu vernichten. Dennoch gründeten zahlreiche exilierte deutsche Autor:innen in den 1930er/40er Jahren in den Vereinigten Staaten und Lateinamerika Heinrich-Heine-Clubs. Sie sahen in ihm einen Propheten. In ihrer Abschiedsrede vom Heinrich-Heine-Club in Mexiko schrieb Anna Seghers:
„Man möchte für immer so tief wie möglich in allen Herzen das Vermächtnis des Mannes verwurzeln, von dem man daheim gesagt hat: Der große Deutsche und der kranke Jude … Er war der Schutzpatron unserer Gemeinschaft in diesem seltsamen Land, in das wir auf unseren Irrfahrten verschlagen wurden. … Wir haben uns, wenn uns das Heimweh gar zu stark überkam, von seiner spöttischen Trauer trösten lassen: dieselben Sterne werden als Todeslampen über unseren Gräbern schweben, am Rhein oder unter Palmen, auch wenn man kein Requiem betet und kein Kaddisch sagen wird.“
In diesen Worten spiegelt sich der Wunsch wider, die Heimat nicht kampflos verloren zu geben oder wie Seghers selbst schrieb: „Wir haben wie er versucht, an Werten aus unserer Heimat festzuhalten.“ Hier scheint für mich ein Gedanke aufzuleuchten: Könnte die Ambivalenz von Zugehörigkeit und Heimatlosigkeit Teil „deutscher“ Werte sein? Man kann Seghers’ Worte nur nachvollziehen, wenn man Exil als politische Strafe versteht. Die exilierten Autor:innen und die zahlreichen Flüchtlinge von damals wurden zu Grenzgänger:innen, nicht nur von territorialen Grenzen, sondern auch von Begriffen und Konstruktionen. Im Zuge dieser Geschichte scheint die Auslegung des Bundesgerichtshofs, die Interpretation des Konstrukts „Volk“ als „deutsches Volk“, fragwürdig. Die Existenz exilierter deutscher Autor:innen, Künstler:innen, Schauspieler:innen während des Zweiten Weltkriegs zeigt die Fragilität und Fluidität von „Heimat“ und „Exil“ auf oder wie Hannah Arendt sogar behauptete: den Niedergang des Nationalstaats, der Staatsbürgerschaft und damit auch der Menschenrechte. Das ist Teil der Geschichte des deutschen Volkes. Wenn wir also das Wahlrecht verstehen möchten, kommen wir nicht umhin, über die Entstehung von Geflüchteten und Staatenlosen zu sprechen.
Wie Staatsangehörigkeit Staatenlosigkeit schafft
Für Arendt waren die Flüchtlinge von damals die „Avantgarde ihrer Völker“, weil die Geschichte für sie „kein Buch mit sieben Siegeln“ mehr sei. Für die Flüchtlinge sei offenkundig, was für Staatsbürger:innen unverständlich sei: „Als Flüchtlinge hatten bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner radikalen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen Auffassungen. Mit uns hat sich der Begriff des ‚Flüchtlings‘ gewandelt. ‚Flüchtlinge‘ sind heute jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen und auf die Hilfe von Flüchtlingskomitees angewiesen zu sein.“
Damit rückt sie den Blick weg von den berühmten und romantisch verklärten Exilant:innen hin zur plötzlichen Staatenlosigkeit von Millionen von Menschen. Dieser Umstand zeigt für Arendt, dass die Erklärung der Menschenrechte von der falschen Prämisse ausginge, alle Menschen seien von Geburt an gleich, mehr noch: die Menschenrechte seien als naturgegeben anzusehen: „Gleichheit ist nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns Kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte garantieren.“
Das Erstarken des Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg führte ihrer Meinung nach dazu, dass „nur diejenigen als vollgültige Bürger in den Staatsverband aufgenommen werden sollten, die durch Abstammung und Geburt dem als wesentlich homogen angenommenen Körper der Nation zugehörten. Dadurch aber wurde der Staat bis zu einem gewissen Grade aus einem gesetzgebenden und Gesetzlichkeit schützenden Apparat zu einem Instrument der Nation. Die Nation setzte sich an die Stelle des Gesetzes.“
In diesem Sinne kann die Absage des Bundesgerichtshofs, ausländische Bewohner:innen in Bezug auf das Wahlrecht gleichzustellen, als eine explizite Manifestierung der Ungleichheit gelesen werden. Damit hält der Bundesgerichtshof an einer antiquierten Vorstellung von Nation fest. Das Wort Nation (lt. natio) bedeutet Geburt, trägt aber auch die Bedeutung des Volksstammes in sich, also aller Personen, die aufgrund ihrer Abstammung die gleiche Sprache, Kultur und Sitten teilen. Ein Mensch wird zwar nackt geboren, er wird aber in einen Kontext hinein geboren, eben in diese Sprache, Kultur und Sitten. Ihm diesen Kontext zu entziehen, heißt, ihm den Boden unter den Füßen zu nehmen. Damit wird klar, was Thomas Mann einmal meinte, als er sagte, der Verlust der Heimat komme dem Verlust der bürgerlichen Existenz gleich.
Der Staat wird durch die Idee der Nation, also der Übereinstimmung eines Volkes mit dem Staatsgebiet durch die Abgrenzung nach außen (aber auch nach innen, zum Beispiel gegenüber Minderheiten), als Nation gefestigt, schafft damit aber erst Illegale, Flüchtlinge und Staatenlose. Wer, wenn nicht der deutsche Staat war das Exempel eben dieses Prozesses. Hannah Arendt analysiert am deutschen Staat beispielhaft, wie die Nation die Funktion des Staates als Beschützer seiner Bewohner:innen korrumpiert. Mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft und damit aller Rechte blieb den deutschen Flüchtlingen der Zugang zu den Menschenrechten verwehrt. Damit sind die Menschenrechte nichts weiter als Bürger:innenrechte, damals Reichsbürger:innenrechte. Nur wer Bürger:in ist, also anerkannt gebürtig und vom eigenen Staat (ideologisch und real) nicht verstoßen wird, genießt das Recht, Rechte zu haben (Arendt). Um diesem Dilemma Herr zu werden, hat Giorgio Agamben ganz richtig festgestellt, wird Migration in Lagern lokalisiert. In Frankreich waren es damals die Lager für Ausländer:innen, in denen Hannah Arendt und Walter Benjamin inhaftiert waren, heute sind es Asylbewerber:innenheime.
Von der Ausnahme her denken
Das Paradoxe an dieser Vorgehensweise ist ihre Wechselwirkung: Die Grenze schafft die Identität, die die Grenze schafft. Aber wenn Grenzen Identitäten schaffen, so lässt sich auch festhalten, dass diese im Begriff sind, langsam aufzuweichen. Zugehörigkeit wird mehr und mehr zur Empfindungsfrage. Die Möglichkeit zur Einbürgerung, auch ironischerweise Naturalisierung genannt, wurde im Zuge der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 ausgeweitet: weg vom Blutrecht hin zu einem Geburtsprinzip, eine erstmalige und weitgehende Hinnahme doppelter Staatsbürgerschaft und Lockerungen in der Anspruchseinbürgerung.
Globalisierung, soziale Medien und Deterritorialisierung von Grenzen führen also nicht nur zu einer individuellen Verschiebung, zu einer gefühlten Subjektivierung von Grenzen, sondern auch zu einer strukturellen. Für jemanden mit einem deutschen Pass und einer gewissen wirtschaftlichen Kraft scheinen die Grenzen fast unsichtbar zu sein. Für einen Staatenlosen fangen sie hingegen vor der Haustür an, manchmal verläuft die Grenze auch durch den eigenen Körper. Bevor wir also die Menschenrechte als „Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus“, wie Arendt und zahlreiche Aktivist:innen diverser Kriegsgebiete sie derzeit bezeichnen, abtun, drehen wir die Flüchtlingsfrage zugunsten des Wahlrechts um. Will heißen: Staatenlose, Flüchtlinge, Nicht-Bürger:innen, die circa elf Millionen Ausländer:innen in Deutschland, denen das Recht vorenthalten wird, wie EU-Bürger:innen zumindest auf kommunaler Ebene am politischen Entscheidungsprozess teilzunehmen, sie werden nicht alle verschwinden. Im Gegenteil, solange es einen Nationalstaat gibt, wird es Illegalität, Vorenthaltung von Rechten und Beschränkungen von Mobilität geben. Die einzige Lösung ist, wie sie auch Walter Benjamin einst vorschlug, die Geschichte aus Sicht der Unterdrückten zu betrachten, das heißt, die Ausnahme zur Regel zu machen: Unser Gedankenexperiment wäre demnach, kurzerhand aus allen Staatsbürger:innen Flüchtlinge zu machen.
Wir sind nicht alle – es fehlen die Ausländer:innen
Interessant ist, dass Hannah Arendt schon vor mehr als sechzig Jahren die aktuelle Situation von Flüchtlingen wiedergeben konnte, aber auch eine mögliche Lösung vorschlug, die nun technisch möglich wäre: die Bildung von Gemeinschaften, die nicht territorial festgelegt sind. Wenn wir diesen Gedanken ernst nehmen und ihn weiterdenken, bedeutet er nicht nur, Freizügigkeit für alle Menschen überall zugänglich zu machen, sondern auch politische Rechte. Längst leben unter uns gobal and digital nomads, die sich ihre nationale Zugehörigkeit und damit auch politische Gemeinschaft aussuchen, je nachdem, ob sie zu ihren Bedürfnissen passen. Das Internet und vor allem die sozialen Medien könnten durchaus diesen Prozess emanzipatorisch begleiten. Entscheidungen würden über Ländergrenzen hinweg gefällt werden, gleichzeitig würden lokale Angelegenheiten von Nicht-Bürger:innen mitentschieden werden. Es ist, was bereits durch den Vertrag von Maastricht 1992 für EU-Bürger:innen möglich gemacht wurde: EU-Bürger:innen genießen in der EU eine weitestgehende Freizügigkeit, die freie Wahl des Wohnortes, ein aktives und passives Wahlrecht auf kommunaler Ebene, die gleichen Arbeitsrechte und den Zugang zur Sozialversicherung des jeweiligen Landes. Gerade dieser Umstand macht nur allzu deutlich, dass die Staatsangehörigkeit und das Wahlrecht aneinanderzukoppeln, wie es der Bundesgerichtshof tat, bereits damals eine überholte Vorstellung war.
Wenn die Legitimität einer Demokratie auf dem Wahlrecht beruht, dann erscheint der Ausschluss von zirka zwölf Prozent der Bevölkerung ein klares Demokratiedefizit zu sein. Ausländer:innen machen in den deutschen Städten sogar fast dreißig Prozent der Bevölkerung aus. Aber machen wir uns nichts vor, Teil dieses Demokratiedefizits ist auch die Tatsache, dass seit 2000 mehr als 40 000 Menschen auf der Flucht nach Europa starben. Dass der wirtschaftliche Einfluss Europas Lebensgrundlagen in Afrika und im Nahen Osten zerstört und eine Kolonialgeschichte hat, die ihresgleichen sucht. Wo Menschen noch um das Wahlrecht ringen, ringen sie auch um eine wirtschaftliche und politische Dekolonialisierung.
Wenn es also um ein Wahlrecht für Ausländer:innen geht, kann es nicht nur um jene gehen, die es bereits nach Deutschland geschafft haben. Die Losung kann nur heißen: Ein Wahlrecht für alle, überall! //