Theater der Zeit

Serie: Blickwechsel #01

Die Toten auf Europas Türschwellen

Ein Abend – zwei Blicke: In der Serie „Blickwechsel“ schreiben zwei Kritiker:innen über eine Inszenierung.

von Yaël Koutouan und Leonard Kaiser

Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Arkadi Zaides Künstlerhaus Mousonturm

Die Performer:innen Arkadi Zaides und Emma Gioia in „NECROPOLIS“ am Künstler:innenhaus Mousonturm Frankfurt.
Die Performer:innen Arkadi Zaides und Emma Gioia in „NECROPOLIS“ am Künstler:innenhaus Mousonturm Frankfurt.Foto: Eike Walkenhorst

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Künstler:innenhaus Mousonturm: „NECROPOLIS“ – Konzept und künstlerische Leitung: Arkadi Zaides, Dramaturgie, Text und Stimme: Igor Dobričić, Performance: Arkadi Zaides, Emma Gioia

Kurzkritik von Yaël Koutouan:

Necropolis ist ein stiller Ort. Er ist still, aber nicht friedlich. Hier liegen die Toten, die Namenlosen, die Ungewollten, die Verstoßenen. Sie ruhen nicht. Sie tanzen nicht. Sie warten. Im Rahmen des Theater- und Diskursfestivals „Claiming Common Spaces“, das in der fünften Ausgabe unter dem Titel „No One’s Land“ künstlerische, wissenschaftliche und aktivistische Perspektiven aus transnationalen Kontexten versammelt, konfrontiert Arkadi Zaides sein Publikum mit Daten zu Personen, die in der Nähe des Aufführungsortes Frankfurt am Main und darüber hinaus tot aufgefunden wurden. Bei allen dokumentierten Todesfällen handelt es sich um Personen, die auf ihrem Weg nach Europa oder an Europas Grenzen starben. Die Daten, die Arkadi Zaides in seiner Performance Necropolis verarbeitet, stammen aus einer öffentlich zugänglichen Liste von UNITED for Intercultural Action, einem europäischen Netzwerk aus antirassistischen Organisationen, das seit 1993 diese Tode dokumentiert. Zudem haben Zaides und sein Team Gräber auf über 600 Friedhöfen lokalisiert und diese Informationen in einer umfangreichen Datenbank gesammelt, die auch Handyvideos der Friedhöfe enthält. Dieser body of data ist Necropolis, ein lebendiges Archiv, das mit der Hilfe von engagierten Menschen stetig aktualisiert und erweitert wird.  

 

„Der Text von Igor Dobričić untermalt und rhythmisiert die Fahrt über die Landkarte. Sein Text zitiert Leviathan, Behemoth und Ziz, Figuren der jüdischen Mythologie und zieht eine ebenso politische, wie poetische Parallele zur Shoa, um das Schicksal der Menschen zu beschreiben, die aus Ländern des Globalen Südens nach Europa fliehen.“

 

Zaides selbst nimmt neben Emma Gioia an einem langen Tisch im vorderen Teil der Bühne Platz. Mit dem Rücken zu den Zuschauer:innen sitzend, steuern Zaides und Gioia die Videoanimation, die auf einer Leinwand im hinteren Teil der Bühne erscheint: Eine Karte, auf der zunächst der Mousonturm von oben zu sehen ist, je weiter Zaides und Gioia aus der Karte herauszoomen, desto mehr Namen werden sichtbar. Die Perfomer:innen präsentieren eine Landkarte, die die Realität in einer Weise abbildet, die keinen Raum für abweichende Interpretationen lässt. Der Text von Igor Dobričić untermalt und rhythmisiert die Fahrt über die Landkarte. Sein Text zitiert Leviathan, Behemoth und Ziz, Figuren der jüdischen Mythologie und zieht eine ebenso politische, wie poetische Parallele zur Shoa, um das Schicksal der Menschen zu beschreiben, die aus Ländern des Globalen Südens nach Europa fliehen. 

Atemlose Stille füllt den Raum, als der erste Name auf der Karte zu lesen ist: Ahmed Ahmad. 

Zoom In: Wir sehen die Koordinaten des, an dem der Leichnam gefunden wurde und das Jahr 2018. Der Name: Ahmed Ahmad, das Alter 26, die Todesumstände. 

Zoom Out: Zaides und Gioia überblicken die Karte und verschieben sie weiter in Richtung Westen. 

Zoom In: Mawda Shawri, 2 Jahre alt 

Was killed by runaway police bullet near Mons (BE) in wild pursuit of migrant vehicle headed for UK. 

Zoom Out 

Zoom In: Jude Nikshan Agusteen, 34 

Committed suicide at the open centre of Lanaken (Belgium). 

Zoom Out 

Das gezielte Hinein- und Hinaustauchen aus diesem blutigen Archiv erzeugt in mir ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Ich verliere allmählich den Überblick über die Karte und es gelingt mir nicht die unbegreifliche Brutalität dieser Tode mit den körperlosen Zahlen in Verbindung zu bringen, die mir präsentiert werden. 

Zoom In: Wir befinden uns auf einem Friedhof, wir hören Vögel zwitschern und die Schritte der Person, die mit ihrer Handykamera filmt. Wir bleiben vor einem Grab stehen, ohne Stein. 

Zoom Out 

Wieder werden Namen auf der Karte sichtbar. Mittlerweile habe ich aufgegeben, mich geographisch zu orientieren. Ich vermute den Todesort von Roger Kalemba irgendwo in Mitteleuropa. Die Karte ist in meinen Augen verdreht, ich bin es gewohnt von Europa aus auf die Welt zu blicken und ich kann mich ohne meinen ethnozentrischen Blick auf die Weltkarte nur schwer zurechtfinden. Wer ist das Zentrum? Wer bestimmt, wo Norden liegt? 

Zoom In: Wir sind wieder auf einem Friedhof, wir betreten ihn über einen Parkplatz, laufen durch ein Tor über einen Kiesweg, vorbei an einer Jesus-Statue aus weißem Kalkstein, die schützend ihre Arme ausbreitet. Links und rechts von dem Weg, den wir entlanggehen, sehe ich gepflegte Gräber, Grabsteine und beschriftete Steinplatten. Auf der rechten Seite steckt ein Holzkreuz in einem Erdhaufen. Wir bleiben stehen. Auf dem Kreuz steht der Name: Roger Kalemba und das Todesdatum 19. Dezember 2015. 

Commited suicide, in Vottem (BE), about to be repatriated after 15 years of seeking asylum. 

Zoom Out 

How did we end up here? 

Begraben zu werden ist ein Privileg, teilt Igor Dobričić über die Lautsprecher im Saal mit, die wenigsten finden ihren Platz in Necropolis, noch weniger werden überhaupt identifiziert: Banned from existence, they are not dancing, they are not resting, they are still searching, still urging, still burning, still drowning, still screaming without being heard. 

Es muss jetzt passieren, fordert Dobričić. 

Die Forderung bleibt nicht als Appell im Raum stehen, Arkadi erhebt sich von seinem Stuhl und fährt auf einem Wagen gummiartige, menschliche Überreste auf die Bühne, die Arkadi gemeinsam mit Gioia auf einem Tisch zu einer menschlichen Form anordnet: Behutsam, vorsichtig, zärtlich. Die Überreste sind gleichzeitig als Animationen auf der Leinwand zu sehen. Die animierten Körperteile werden in forschender Betrachtung von allen Seiten gezeigt, gedreht und gewendet. Die körperlosen Zahlen bekommen durch diesen abrupten ästhetischen Bruch in der Performance eine brutale Fleischlichkeit.  

Ist das Theater vielleicht der einzige Ort, an dem eine Obduktion dieser Körper stattfindet?  

Wir können sie hören, sagt Igor Dobričić: Ihre Ankunft sei für immer aufgeschoben, aber die Bäume seien ihre Gräber und der Wind ihr Seufzen, das sei ihre Stadt, hört hin. Nehmt sie wahr. 

Listen. 

Beide Performer:innen verlassen schweigend die Bühne. Wenn wir im Theater wären, würde jetzt applaudiert.

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Kurzkritik von Leonard Kaiser:

Name, Alter, Herkunft, Koordinaten des Todesortes, Todesursache. Was bleibt, wenn ein Mensch auf der Flucht nach Europa stirbt und nur sein Körper  ankommt? Wo landet er? Wie können wir ihn erinnern? Diese ‚bodies of data‘ werden in einem Archiv der UNITED for Intercultural Action gesammelt – einem Netzwerk Hunderter antirassistischer Organisationen aus ganz Europa. Arkadi Zaides entwirft in Necropolis einen Ort, an dem die Toten ankommen. Die dokumentarisch-investigative Performance macht die Leichen der Geflüchteten lebendig und ihre Stimmen hörbar.  

Arkadi Zaides ist israelischer Choreograf und bildender Künstler weißrussischer Herkunft. Während der Recherche und als Performer in Necropolis kollaboriert er mit der französisch-argentinischen Tänzerin und Choreografin Emma Gioia. Der narrative Rahmen der Arbeit wird außerdem in Text- und Audiopassagen vom Produktionsdramaturgen Igor Dobricic vermittelt.  

Nekropolen, aus dem Altgriechischen, beschreiben große Grab- und Weihestätten und werden in der Arbeit zum Sinnbild einer fiktiven Stadt, zu der nur Zugang hat, wer auf der Flucht stirbt. Die Karte des Necropolis dehnt sich über die Grenzen von Raum und Zeit aus, die Stimmen ihrer Bewohner:innen sprechen zu uns wie durch das Blätterrascheln im Wind. Die immanente Mystik der Totenstadt verliert in der Arbeit nie ihren Bezug zur Realität. Stattdessen wird das Mittelmeer zum Styx, wenn die Fliehenden nicht nur mit Geld, sondern auch mit ihrem Leben die Überfahrt bezahlen. Die Liste von UNITED for Intercultural Action dokumentiert 48.647 Tode, von denen viele unidentifiziert sind und tausende weitere gar nicht dokumentiert werden konnten.  

Die Reise der Grabtopologie beginnt per Google Earth im vor Ort – im Frankfurter Mousonturm – und wird live auf die Rückwand projiziert. Wir zoomen raus, bis mehrere Marker mit Namen zu sehen sind. Beim Reinzoomen auf die erste Markierung erscheinen zunächst Koordinaten, dann die Daten der gestorbenen Person, deren Grab markiert wird. In der Präzision und Knappheit der Todesursachen liegt eine kalte Poesie, die in falschen Festnahmen und fehlenden Hilfeleistungen die Machtstrukturen zum Vorschein bringt, die zum Tod führten. 

 

„Ganz ohne die ausführliche Ausstellung individueller Schicksale, sondern mit einer Dramaturgie der Grausamkeit, öffnet die Arbeit einen Raum der Imagination über die tausenden einzelnen Geschichten, die auf der Flucht beendet wurden und gar nicht abgeschlossen werden konnten –  weil die Körper schlichtweg nicht identifiziert [...] werden.“

 

Beim Reinzoomen in den zweiten Marker wird die digitale Oberfläche mit einem Amateurvideo überblendet. Im POV laufen wir über einen Friedhof – Vogelgezwitscher, Verkehrsgeräusche und Schritte begleiten das Bild – bis wir vor dem markierten Grab stehen: Einem Haufen Sand inmitten der blumengeschmückten Steingräber mit einem kleinen Schild. Als nächstes Grab irritiert ein Container, bis die Einblendung der Daten „25 bodies“ mehr Schock als Antworten liefert. In Lampedusa besuchen wir – immer noch unter Vogelzwitschern – das Massengrab der 373 Toten, die umkamen, als am 3. Oktober 2013 ein Schiff aus Lybien mit ungefähr 500 Flüchtlingen auf See Feuer fing und zu spät von den italienischen Behörden Hilfe bekam.  

Damit reißt die dokumentarische Konsequenz, die bis dahin eine gewisse Distanziertheit zulässt, endgültig ein und weicht einer schwer aushaltbaren Tragik. Ganz ohne die ausführliche Ausstellung individueller Schicksale, sondern mit einer Dramaturgie der Grausamkeit, öffnet die Arbeit einen Raum der Imagination über die tausenden einzelnen Geschichten, die auf der Flucht beendet wurden und gar nicht abgeschlossen werden konnten –  weil die Körper schlichtweg nicht identifiziert, gar keinen forensischen Untersuchungen unterzogen oder nie gefunden wurden.  

Als Zaides einen Metallwagen mit scheinbar organischen Überresten in den Saal schiebt, bleibt mir kurz die Luft weg. Mit Gioia zusammen legt er die Stücke einzeln ins Scheinwerferlicht auf einen Tisch, während sie von verschieden Perspektiven aus auf die Rückwand projiziert werden. Dieses theatral-forensische Ritual ist behutsam und der Anblick der nun sichtbar werdenden Körperteile führt immer wieder zu Schockmomenten, wenn Hände, Füße oder ein Oberkörper ausgemacht werden – alles aus fleischartigem Latex und im Zustand des Verfalls. Was passiert mit einem Körper, der ein Jahr unter Wasser liegt? Zaides weist auf das Privileg hin, geborgen, untersucht, identifiziert und bestattet zu werden, indem er den Horror sichtbar macht, wenn Menschen dieses scheinbar selbstverständliche Privileg entzogen werden. Als Zaides und Gioia die Körperfragmente anatomisch assemblieren, setzen sich in der Projektion die digital animierten Pendants zum Totentanz zusammen.  

In Angesicht der schieren Groteske des humanoiden Leichenkörpers rückt die schreckliche Realität in den Hintergrund, doch die Performance schafft es, die Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zurückzuholen, indem sie selbst die Frage stellt: Wie kann Theater über die Grenzen der Aufführung wirksam sein? Zaides macht erfahrbar, was nicht repräsentiert werden kann, ohne für die Toten zu sprechen. Kein Applaus beendet die Aufführung, deren Inhalt ebenfalls nicht im Raum des Theaters enden soll. Außerdem ruft die Arbeit selbst zur aktiven Teilnahme am Projekt auf: Wenn man in einer Region die Recherchearbeit unterstützen möchte, erhält man schon vorhandene Daten und kann selbst nach weiteren Informationen suchen, vorhandene korrigieren und das Grab ausfindig machen.  

Was bleibt, ist eine große Bedrücktheit, die gleichzeitig die Tür zur Selbstreflexion öffnet: Welchen Teil habe ich zum Jetzt beigetragen? Und wie kann ich in Zukunft verantwortungsvoll handeln? 

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Erschienen am 24.2.2023

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