Auftritt
Oper Leipzig: Welch Hafen nimmt mich auf…?
„Peter Grimes“ von Benjamin Britten – Regie Kay Link, Dirigat Christoph Gedschold, Chor Thomas Eitler-de Lint, Bühnenbild Dirk Becker, Kostüme Silke Wey, Video Tilman König
von Alexander Keuk
Assoziationen: Musiktheater Theaterkritiken Sachsen Kay Link Oper Leipzig

Bei den Vorbereitungen seiner nun gerade zu Ende gehenden ersten Spielzeit an der Oper Leipzig muss dem Intendanten Tobias Wolff wohl ein mächtiges „Hoppla“ entfahren sein, als sich herausstellte, dass die 1945 in London uraufgeführte Oper „Peter Grimes“ von Benjamin Britten noch kein einziges Mal am Haus gezeigt wurde. Nach 78 Jahren war es nun also soweit, und vielleicht waltete auch aus diesem Grund besondere Sorgfalt in allen Gewerken, denn eigentlich ist eine mit solch abwechslungsreichen Tableaus gespickte Oper wie gemacht für das Leipziger Haus. Am Ende war es ein gelungener Ausflug an die britische Ostküste mit all den von Britten in der Partitur ausgemalten Naturgewalten von Wind und Meer, aber eben auch den schon von Textautor George Crabbe in „The Borough“ dargestellten Eigensinnigkeiten ihrer Bewohner:innen, was kein gutes Ende nimmt.
Dass der Fischer Peter Grimes kein romantisch idealisierter In-die-Ferne-Gucker an der Steilküste ist, wird recht schnell klar, als die ersten Konflikte auftauchen: sein Lehrjunge kam auf mysteriöse Weise ums Leben, Grimes wird beschuldigt, aber der Richter stellt einen Unfall fest. Im Dorf war und ist er ein Außenseiter, das zeigt auch die Figurenzeichnung von Regisseur Kay Link deutlich – nur der Kapitän Balstrode und Ellen Orford finden Kontakt zu ihm, doch in die Dorfgemeinschaft integriert er sich nicht, obwohl er mit einem neuen Lehrjungen eine zweite Chance bekommt. Grimes ist aber derjenige, der menschliche Stärken und Schwächen zeigt und statt des faden Kneipenlebens im Dorf redliche, harte Arbeit setzen will, was ihm unter dem Druck der Masse nicht gelingt. Das Scheitern des Ausgegrenzten zeigt Link vor allem im fein ausgeformten Spiel der Charaktere, und das gelingt gut dank der großartigen Fähigkeiten der Premierenbesetzung, die bis auf Ellen (Martina Welschenbach von der Deutschen Oper Berlin) durch das hauseigene Ensemble bestritten wird.
Der US-amerikanische Tenor Brenden Gunnell brilliert in der Premiere als Peter Grimes mit seiner starken, farbenreichen Stimme, die er so klug einsetzt, dass man ihm spätestens in seiner Sternen-Erzählung im 1. Akt nur noch an den Lippen klebt. Im Interlude des Orchesters (Wahnsinn, was Musikdirektor Christoph Gedschold über den ganzen Abend hinweg zwischen luziden, stillen Bildern und Entfesselung mit dem Gewandhausorchester Leipzig zaubert!) sieht man ihn auf der Videoleinwand tatsächlich an der britischen Küste umherirren. Später wird die Intensität seiner Gestaltung in dem schon weltabgewandtem finalen Monolog Gänsehaut verursachen. Der findet, wie vieles, auf der zumeist kargen Bühne von Dirk Becker statt. Die Kirche wird durch Plastikplanen abgetrennt, Grimes' Hütte hat nicht einmal Wände, Europaletten dienen als Bettstatt. Das einfache Arbeiterdorf ist nicht beschönigt, wird allerdings konterkariert durch die Kneipenszenen, die etwas zu sehr in klassische Chorensembleseligkeiten verrutschen – will man sich diesem schrägen Dorfleben, in dem auch ein weiblicher Sherlock Holmes (Mrs. Sedler, die Grimes per Videoüberwachung stellen will) und Andy Pipkin aus „Little Britain“ (Boles) ihr Unwesen treiben, tatsächlich anschließen?
Auf gar keinen Fall, denn wenn das Dorf zur Lynchjustiz aufruft und sich im 3. Akt gefährlich nah am Publikum zusammenrottet, stellt man fest, dass man zum ersten Mal in seinem Leben Angst vor einem Opernchor bekommen hat, der (Einstudierung Thomas Eitler-de Lint) seine Hauptrolle in diesem Stück mit Ernsthaftigkeit und Können bestreitet und auch einem Kracher wie „Old Joe has gone fishing“ noch einen Hauch Ambivalenz beigibt.
Regisseur Link formt einige Male Interpretationsspielräume, wo eigentlich eine Unzweideutigkeit besser wirken würde, wenngleich seine Betonung sozialer Aspekte erkennbar ist. Die in Andeutungen verbleibende Art zeigt sich etwa, wenn der Lehrjunge John (Jonathan Walldorf) lasziv am Strand liegt und gestisch zwar Annäherungen sowohl zu Ellen als auch Grimes bestehen, Link belässt es aber bei diesen kleinen Hinweisen, obwohl natürlich das Verhältnis zwischen Lehrjunge (Jonathan Walldorf) und Fischer von Britten aus zentral gestaltet ist. Und das Meer ist in dieser Inszenierung ein lediglich an der Seite als Gemälde lehnendes Abbild oder ein waberndes Meeresgrundvideo, auf das sich Grimes zubewegt – die Leinwand nimmt aber nicht einmal ein Viertel der Bühne ein, die visuelle Überwältigung bleibt aus. Natürlich, im Graben wogt und wellt es vortrefflich und das ist allemal besser, als das Kind mit dem Bade auszuschütten – ein Satz, der einem nach dieser Oper eh schwer von der Zunge geht.
Nicht nur Gunnells Grimes sorgt am Ende für Begeisterungsstürme, das gesamte Ensemble, Orchester und sogar das Regieteam heimste lauten Applaus ein. Martina Welschenbachs Ellen war tadellos und klangsinnig gesungen. Weiterhin überzeugten auch Karin Lovelius (Auntie), Dalia Bsprozvany und Shira Patchornik als Nichten, Sven Hjörleifsson (Boles), Randall Jakobsh (Swallow) und Kathrin Göring (Mrs. Sedly), lediglich Tuomas Pursio gab dem Balstrode eine oft bellende Attitüde, was der Intonation und dem Verständnis nicht gut bekam. In weiteren Rollen waren Álvaro Zambrano, Jonathan Michie, Marcel Brunner und Maximilian Grimes (sic!) vertreten. Die Herzlichkeit des Beifalls zeigte letztlich auch das endliche Willkommenheißen des Britten-Meisterwerks in Leipzig, in einer starken, Auseinandersetzung ermöglichenden und dabei ebenso unterhaltenden, immer hochklassigen Produktion.
Erschienen am 22.5.2023