Jenny Patschovsky: Herr Kluge, in Ihrem Buch „Zirkus Kommentar“ stellen Sie akademische Abgehobenheit und praktische Bodenständigkeit gegenüber, indem Sie den Zirkus als Metapher benutzen. Könnte Zirkus auch als Brücke zwischen diesen beiden Seiten fungieren?
Alexander Kluge: Der Zirkus hat zwei Ebenen, die über das, was ein Theater darstellen kann, hinausgehen. Das eine sind die Artisten in der Zirkuskuppel, sind die Allmachtsgefühle des Menschen, die schon seit Gründung des Zirkus in der Französischen Revolution ein Antrieb sind. Das ist nicht nur ein Antrieb, nicht nur Sensationslust, sondern es ist auch eine Selbstbestätigung, was der Mensch alles kann. Und dieses Prinzip, das gibt es, wenn man Tiere dressiert in der Manege. Und wenn man sozusagen Menschen zum Fliegen bringt, obwohl sie keine Flugzeuge sind, in der Zirkuskuppel, dann ist das Artistik. Das ist die eine Seite.
Und die andere Seite, die Bodenhaftung, das ist das, dass die Tiere ja nun wirklich nach ihrer Herkunft, also aus der Evolution heraus, nicht gehorchen. Dass sie im Grunde eigentlich nicht tyrannisierbar sind für den Menschen, dass sie einen Eigenwillen haben. Das ist etwas, was mich natürlich am Zirkus fasziniert: dass diese Gegenwelt der Tiere, das, was nicht zähmbar ist, was nicht dressierbar ist, uns dauernd vor Augen geführt wird. Und so ist der Zirkus eigentlich eine ganz großartige Brücke. Oder eine Öffentlichkeit, eine plebejische, also volkstümliche Öffentlichkeit, die uns zeigt, was der Mensch alles nicht kann, und was er kann, und was an Respekt von ihm eigentlich gefordert wird für das, was er gar nicht erst versteht. Der Zirkus hat auch etwas von Wunderbarem und von Zauberei. Und das deutet an, dass es etwas gibt, was der Mensch eben nicht kann.
Jenny Patschovsky: Die Tiere sind ja heutzutage nicht mehr so präsent im Zirkus. Kann man das, was Sie sagen, auch beziehen auf die Apparate und Objekte, mit denen die Artisten arbeiten? Als die unzähmbare Natur von Objekten und Zuständen?
Alexander Kluge: Ich würde sagen: mit dem Unbekannten umgehen, das ist Sache des Zirkus. Und in dem Sinne hat der Zirkus seine Möglichkeiten noch gar nicht ausgeschöpft. Warum soll der Zirkus nicht ein Ort sein, wo man sich in besonderem Maße nicht nur wie in der Sternwarte mit der Objektivität der Sterne, sondern mit dem Kosmos als unserem Gegenüber befasst?
Eine Nahtstelle zwischen dem, was dem Menschen unbekannt ist, was ihm fremd ist. Im normalen Alltag, da nimmt er das Gewohnte. In der Oper und im Zirkus, also mit der Musik und mit diesem Zelt, dem Provisorium, da kann er mit dem Unbekannten verkehren. Und unsere Seelenkräfte brauchen das, denn sie sind genauso Horizontwanderer wie sie Zentralisten sind.
„Ratlos ist kein negatives Attribut. Ratlosigkeit ist ein Zustand, der Suchbegriffe in Gang setzt. Besser ratlos als tatenlos. Das Wort ratlos zeigt, dass es eine ernste Frage gibt, die ungelöst ist.
Eine solche Frage, die bei mir einen emotionalen Zwiespalt erzeugt, ist bis heute das ,Allmachtsgefühl in uns‘. Sigmund Freud hat es als Höhepunkt der psychischen Entwicklung und zugleich als Absturz beschrieben. Ohne solchen Elan wären wir Menschen der Macht des Faktischen ohnmächtig ausgesetzt. Wir brauchen nicht nur den Mut des Erkennens, sondern auch den zu Handlungen – und dem können wir nicht folgen, ohne uns zu irren.“2
Telefonat mit Alexander Kluge am 26. April 2022
1 Alexander Kluge: Zirkus Kommentar. Suhrkamp, Berlin 2021, S. 25.
2 Ebd., S. 26.