Theater der Zeit

Thema: Deutsche Wirklichkeit

Ohne Turbulenzen?

Das 10. GlückAufFest der Neuen Bühne Senftenberg nimmt die Zuschauer mit auf einen Langstreckenflug durch die deutsche Realität

von Theresa Schütz

Erschienen in: Theater der Zeit: Christoph Hein und Ingo Schulze: Rasender Stillstand – Fragen an die deutsche Wirklichkeit (10/2013)

Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken

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Wenn das Theater als Institution ein Flughafen wäre, mit Gewerken und Mitarbeitern als funktionierendem Bodenpersonal, wären die einzelnen Inszenierungen die Flugreisen. Der regieführende Intendant gäbe den Piloten und die Schauspielerinnen und Schauspieler träten als Stewardessen und Stewards auf. Die Reiseziele lüden zum Träumen und Visionieren über der Wolkendecke ein. Und im besten Falle käme der Zuschauer als Passagier am Ende nicht nur an einen anderen Ort, sondern verändert auf den Boden der Wirklichkeit zurück.

Diese Versuchsanordnung umreißt das charmante wie anspruchsvolle Konzept des 10. GlückAufFests, das in diesem Jahr zum letzten Mal unter der Intendanz von Sewan Latchinian an der Neuen Bühne Senftenberg veranstaltet wird. Das gesamte Theaterareal ist dazu zum Flughafen umgestaltet worden, für die Pausen stehen Speisen aus aller Welt bereit. Das Thema des zehneinhalbstündigen Fluges lautet so schlicht wie sinnfällig: Wirklichkeit. Und birgt den Anspruch, dass Theater nicht nur von ihr zu erzählen weiß, sondern auch als eigene Wirklichkeit wirksam zu werden vermag.

Die Auftaktinszenierung von Ingo Schulzes Dresdner Rede „Unsere schönen neuen Kleider“ erreicht dabei leider noch nicht die anvisierte Flughöhe. Schulze übt – vor der Folie von Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ – Kritik an der fortschreitenden Kommerzialisierung und Privatisierung aller Lebensbereiche sowie am Tatbestand kollektiven Selbstbetrugs. Dazu schlüpft er in die Rolle des kleinen Kindes, das wagt, die Wahrheit auszusprechen („Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!“): Wir leben in einer Scheindemokratie, die systemstabilisierend durch „Falschwörter“ ummantelt werde. Und der mündige Bürger habe im Interesse des Gemeinwesens aktiv zu werden, müsse dem (Ver-)Sprechen der Bundeskanzlerin, „marktkonforme Demokratien“ zu stärken, mit der Forderung nach „demokratiekonformen Märkten“ entgegentreten. Auf der Bühne mimt Bernd Färber zunächst offstage den Märchenkaiser, tritt dann vor den Vorhang in seine Garderobe, um sich an die Zuschauer zu richten. Die Absenz einer glaubhaften Motivation des Gesagten wird durch reges Beschäftigtsein, etwa Umkleiden, kompensiert. Dadurch verliert der Text seine Durchschlagskraft und verkommt zur Aneinanderreihung von Fakten. Wenn Färber aus dem Kaiser-Watton ins Merkel-Fatsuit steigt, ist das eine platte Übertragung der Theatermetapher auf das Feld der Politik und in der szenischen Konsequenz (Merkel-Rauten- und Stimmimitation) eine unnötige Verhohnepipelung.

Die von Schulze vorgebrachte Kritik an der Kommerzialisierung von Bildung ist auch Gegenstand des Romans „Weiskerns Nachlass“ von Christoph Hein. Erzählt wird die Geschichte des Kulturwissenschaftlers und Weiskern-Forschers Rüdiger Stolzenburg, eines gebeutelten Endfünfzigers mit halber, unterbezahlter Stelle im Mittelbau der Universität Leipzig. Für seine Forschungsergebnisse findet sich kein Verlag, für eine Professur ist er zu alt, und in der Lehre ist er mit Studentinnen und Studenten konfrontiert, die durch Geld- oder Körpereinsatz ihren Abschluss zu erpressen versuchen. Heins literarische Wirklichkeitsbeschreibung sensibilisiert das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen dem Abbau vermeintlich überflüssiger Kulturgüter wie Bildung, Forschung und Künste und einem allgemeinen gesellschaftlichen Verfall. Ein drängender Stoff angesichts „Kulturinfarkt“-Debatten und fortschreitenden Theatersterbens, der endlich auch das akademische Prekariat thematisiert. Das Publikum begegnet Alexander Wulkes Stolzenburg im Inneren einer Flugzeugkabine auf dem Weg zu einer Vortragsreise. Was folgt, ist ein rasantes Szenenhopping, die chronologische Bebilderung des Romanganzen. Szenen rauschen vorbei, hier und da durch unterhaltsame Regieeinfälle überpinselt. Wulkes Stolzenburg lässt es geschehen, ist er doch aller Möglichkeiten beraubt, die Tiefe seiner Figur angemessen auszuloten.

Im Einklang mit der übergeordneten Langstreckendramaturgie erreichen die Zuschauer-Passagiere dann die optimale Höhe: eine szenische Lesung von Rainald Goetz’ Roman „Johann Holtrop“. Sewan Latchinian liest, nein, er ist dieser Holtrop. Im dunkelblauen Nadelstreifenanzug, bebrillt und mit hellbrauner Perücke, sitzt er in einem aufgeschnittenen Holzkubus auf einem silbernen Aktenkoffer. Vor dem inneren Auge der Zuhörer breitet sich das Panorama vom Aufstieg und Fall jenes Vorsitzenden des Medienkonzerns Assperg AG aus, der in seinem „System der Verachtung“ zum Zwecke der Profitmaximierung über Leichen geht. Aus dem Romangefüge herausgehoben, sind das „Zukunftsfreak“- Interview mit der Journalistin Constanze Zegna (gelesen von Anna Kramer) sowie Sequenzen um seine Ehefrau Pia (gelesen von Eva Kammigan). Der formal-ästhetische Clou der Lesung liegt in der Idee, den Kubus, in dem Holtrop agiert, durch Videoprojektionen rechts und links zu verdreifachen. Wobei die beiden aufgezeichneten Würfelbilder sich im unregelmäßigen Abstand um neunzig Grad drehen. Dann beginnt Latchinian sich akrobatisch so umzuarrangieren, dass er in der Videoansicht gerade richtig herum erscheint. Das ist nicht nur ein großer Spaß, sondern auch eine anregende Lesart der Figur: Holtrop als Bluffer, als geschickter Performer von Haltungen, die dem vermittelten Als-ob-Bild gerecht werden wollen und letztlich zur Erschöpfung zwingen.

Der vierte Reiseabschnitt, die Inszenierung von Volker Brauns Erzählung „Die hellen Haufen“, führt mitten in einen deutschen Arbeiteraufstand, der nicht stattgefunden hat. Arbeiter der Kali-Betriebe Bitterode und des Kupferbergbaus Mansfeld AG reagieren auf Fusion und Teilschließung mit Hungerstreik und Hungermarsch. Wessen Welt ist die Welt? Wie steht es um das Recht auf (angemessen entlohnte) Arbeit? Und: Unter welchen Bedingungen wäre der erdachte Aufstand möglich gewesen? Die Bühnenadaption funktioniert weitgehend als Hörstück. Die Spieler in grauer, von Salzstaub bedeckter Arbeitskluft sprechen den Text frontal ins Publikum, während das Erzählte parallel in nachgespielten Filmsequenzen zu verfolgen ist. Starke Wirkung erzielt die Umsetzung der unter Tage abgehaltenen Arbeiterversammlung. Sie evoziert Assoziationen zu Platons Höhlengleichnis und bindet das Geschehen damit an die von Schulze vorgebrachte Anfangsfrage nach dem Verhältnis und der Erkenntnismöglichkeit von Schein und Sein gesellschaftlicher Realitäten zurück. Zum Schluss öffnet sich der eiserne Vorhang und der fiktive, gewaltfrei ausagierte Aufstand findet im Pappbergrelief und durch rhythmische Untermalung zumindest seine szenische Wirklichkeit.

Dann geht’s zum Landeanflug: In der einzigen nicht von Sewan Latchinian inszenierten Uraufführung „Auf dem Flughafen nachts um halb eins“ des Liedermachers Hans-Eckardt Wenzel treffen arbeitslose BER-Fluglotsen, eine alternde Diva, ein Kleinganove, ein Landstreicher und zwei junge Nachwuchsschauspielerinnen in der schäbigen Flughafenkantine „Zum alten Pegasus“ aufeinander. Sie singen von den kleinen und großen Unzulänglichkeiten des Lebens, kritisieren deutschen Tiefsinn, rehabilitieren leichte als wahre Kunst und prahlen damit, sich aufs „Kunstscheißen“ zu verstehen. Und durchaus: Das Ensemble hinterlässt hier wahrlich einen beeindruckend hellen, bunten Haufen Glück.

Aber kann denn dieses heitere Gefühl zum Abschluss gewollt sein? Legt es die schwerwiegenden Gegenwartsstoffe, die es unter erheblichem Einsatz anprobiert hat, lieber wieder ab? Hat es sich überhoben?

Zu einem Langstreckenflug gehören eigentlich Turbulenzen. Wenn Theater nicht nur Literaturvermittler sein, sondern am Entwerfen neuer, anderer Ordnungen mitwirken will, dann sollte es die zu verhandelnden Wirklichkeiten unbedingt ein bisschen mehr durchschütteln. //

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