Theater der Zeit

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Auftritt

Landestheater Eisenach: Spiele mit Grenzen

„Die Grüne Bande“, Wandertheater-Performance nach einer Idee von Julia Brettschneider und Christoph Macha – Regie und Ausstattung Robert Neumann, Jan Schroeder und Laura Mirjam Walter (Kollektiv:Proton) sowie Linda Glanz

von Michael Helbing

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Landestheater Eisenach

Alexander Müßig als Klangklang mit Elisabeth Rasch als Cäpt’n Elster in der „Grünen Bande“, links im Hintergrund Friederike Fink als Inpetto. Dorothea Brandt/Landestheater Eisenach
Alexander Müßig als Klangklang mit Elisabeth Rasch als Cäpt’n Elster in der „Grünen Bande“, links im Hintergrund Friederike Fink als Inpetto.Foto: Dorothea Brandt/Landestheater Eisenach

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Ein früher Sommerabend mitten im Grünen. Die Wiesen blühen, die Vögel zwitschern. Wald in Sichtweite, ein längeres Stück hoher rostiger Grenzzaun ebenfalls. Hier, am Baumkreuz zu Ifta, einer Naturskulptur aus 140 Eschen und Linden nordwestlich des kleinen Ortes im Wartburgkreis, findet an jenem Samstag im Juni zweimal Theater statt. „Die Grüne Bande“ hat eingeladen, sich bei freiem Eintritt unter freiem Himmel buchstäblich um sie herum zu versammeln, an einem Ort, der mal das Ende der Welt bedeutete. Es sind die letzten von siebzehn Aufführungen, mit denen man binnen drei Wochen an sechs Schauplätzen dieser Region über 1.200 sehr junges bis recht altes Publikum erreichte. Es sind die (vorerst) letzten dieses in den vergangenen Monaten entwickelten Stückes sowie auch die letzten einer kleinen Sparte am Landestheater Eisenach, die sich nach insgesamt zwei Jahrzehnten transformiert, die sich personell verändert und programmatisch weitet: Aus dem Jungen Schauspiel vornehmlich für Kinder- und Jugendtheater, aber auch mit Querschnittsaufgaben im Abendspielplan, wird ein leicht vergrößertes Schauspiel mit noch vereinzelten Positionen für Kinder.

„Es ist mal so gewesen. Und jetzt ist es eben so“, heißt es in diesem Stück einmal, das sehr spielerisch und mit einfachsten Mitteln von einer sich permanent verändernden Welt erzählt. Das Leben: so unbeständig wie das Wetter. An diesem Abend bei Ifta schieben sich zwischenzeitlich Regenwolken vor die Sonne, es bleibt aber trocken, ein Regenbogen zeichnet sich am Horizont dennoch ab.

„Die Grüne Bande“ erzählt auch von Trennungsschmerzen. Die spürte man im Jungen Schauspiel wohl ebenfalls, obschon drei von sechs Darstellern bleiben und fünf neue Kollegen begrüßen werden. Aber „Die Grüne Bande“ markiert eben einen Punkt, an dem etwas endet, das der alles in allem längeren, aber nicht gerade von besonderer Kontinuität geprägten Geschichte der Sparte zum Trotz gerade erst begann: ein künstlerisches Profil zu entwickeln und sichtbar zu machen.

Diese „Wandertheater-Performance“ genannte Stückentwicklung war eines von aktuell 26 Projekten, die von der Bundeskulturstiftung aus dem Fonds „Jupiter - Darstellende Künste für junges Publikum“ gefördert wurden. Der gilt öffentlich getragenem Kinder- und Jugendtheater, das mit Festivals, freien Gruppen, Einzelkünstlern und/oder Ausbildungsstätten kooperiert. Für knapp 100.000 Euro begegnete in Eisenach das Landestheater dem in Berlin ansässigen, im Brandenburgischen aktiven Kollektiv:Proton sowie dem Studiengang Regie an der Hochschule Ernst Busch. Das hat sich, anders als zum Beispiel „Bauernkriegspanorama – eine Re-Komposition“ als Projekt zwischen dem Theater Eisleben, cobratheater.cobra und der Hochschule Merseburg, nicht nur soziokulturell, sondern auch künstlerisch ausgezahlt. Freies traf städtisches Theater auf die fruchtbarste Weise zwecks gemeinsamer Grenzerfahrungen mit Bevölkerung und Publikum.

Obschon beide Begriffe im Stück gar nicht vorkommen und während der Entwicklung wohl verloren gingen, verweist „Die Grüne Bande“ im Titel dabei auf „Das Grüne Band“: jenes noch im November 1989, also kurz nach Mauerfall, von Bund Naturschutz unterm Motto „Vom Todesstreifen zur Lebenslinie“ ausgerufene Projekt, welches die Kulturministerkonferenz Ende vergangenen Jahres auf die deutsche Vorschlagsliste fürs Weltnaturerbe setzte. Halbwegs unbehelligt von äußeren Einflüssen, hatte sich nämlich an der mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen gesicherten sowie Maschinengewehren bewachten DDR-Staatsgrenze zur Bundesrepublik Deutschland eine seltene Artenvielfalt in Flora und Fauna erhalten beziehungsweise entwickeln können.

Dem thüringisch-hessischen Teilstück dieser innerdeutschen Grenze vor den Toren Eisenachs widmeten sich die Theatermacher zunächst derart, dass sie dorthin auf Recherchereise gingen, wohinein bis vor 35 Jahren ohne Passierschein kein Weg führte: in die damalige Fünf-Kilometer-Sperrzone. Zwecks „Feldforschung“ war man in Kindergärten und Schulen unterwegs, in Vereinen und Kirchgemeinden, Alters- und Flüchtlingsheimen. Spontane Gespräche auf der Straße offenbarten „ein krasses Mitteilungsbedürfnis“ der Leute, berichteten die Beteiligten anschließend.

Dass daraus ein poetisches, fantasievolles Clownstheater mit vier Darstellern und einem Musiker zwar ohne rote Nasen, aber mit kindlicher Naivität und Spielwut wurde – aufgeführt auch in Eisenach selbst sowie in den ehemaligen Grenzorten Treffurt, Vacha, Gerstungen und Herleshausen/Lauchröden – ist ebenfalls diesen Recherchen geschuldet. Ein Kindergarten hatte die Theaterleute mit dem Ruf „Die Clowns sind da!“ empfangen. Das wirkte sichtbar auf die Ästhetik ein.

Auf Holzleitern hocken vier wild kostümierte Figuren im Rund ihrer Manege, schauen durch Papprohre in weite Fernen und werfen sich kunstvoll unsichtbare Gegenstände zu: Klangklang (Alexander Müßig), Glückwunsch (Christoph Rabeneck), Inpetto (Friederike Fink) und Cäpt‘n Elster (Elisabeth Rasch). Sie beschwören einen „Star“, der ihnen etwas erzählt hat: eine Imagination, in der all die Gespräche mit Menschen, deren Erinnerungen das Stück grundierten, kulminieren.

Doch bevor Menschen ins Spiel kommen, ziehen sie auch anhand hoher Holzrahmen, die sich mit Scharnieren zu ein- und abgrenzenden Objekten verbinden lassen, für ihre Landschaft von Verlust und Trennung, Begegnung und Vereinigung den erdgeschichtlichen Horizont auf. Thetys, das Urmeer, taucht auf und wieder ab, um dem Wald Platz zu machen, der mithilfe des Publikums geräuschvoll entsteht und plötzlich einen Riss erfährt. Kein grünes, aber blaues Band ziehen sie durch die Szene, das einen Fluss bedeutet: Die Werra trennt das Land, das Brücken wieder verbindet, bevor Grenzzäune hochgezogen werden. Durch die wird der eine oder die andere gleichwohl noch schlüpfen können und dabei Wunden und Narben auf der eigenen Seele ebenso hinterlassen wie auf denen derjenigen, die er ohne Vorwarnung zurückließ.

„Manche Menschen schreiben Briefe, um ihre Tränen zu beruhigen“, beginnt dann eine Textstelle. „Manche Menschen schreiben Briefe, die bei anderen Menschen zu noch mehr Tränen führen. Manche Briefe werden nie geschrieben. Manche Briefe werden nie gelesen. Manche Briefe werden hunderte Male gelesen.“ Oder: „Den Brief musste ich jahrelang verstecken. Vor mir.“ Nach der Aufführung erklärt eine alte Zuschauerin in Ifta ihren Bekannten kurz und trocken, sie selbst hüte noch einen solchen Brief, der erst dann entdeckt werden würde, wenn sie nicht mehr da sei.

Dieses einstündige Theater verfügt über ausufernden Witz und einhegende Konzentration genug, um Kinder ab fünf Jahren, für die es konzipiert wurde, ebenso zu erreichen, wie Erwachsene, die abstrakte Spielebenen mit konkreter Erfahrung kurzschließen können. Das ist weder als Geschichtsunterricht noch als Sozial- oder Heimatkunde angelegt, inkludiert dergleichen aber in seine unmittelbar berührende Erzählung entlang der Kanten zwischen Natur- und Kulturlandschaft.

Sie feiern ausgelassen Wieder- und Neubegegnungen mit Menschen und Umständen nach dem Mauerfall, pflegen ihren phantomschmerzgeplagten Kater an den Tagen und Jahren danach, hadern mit Verlusten und entdecken Gewinn darin, ins Offene und Unbekannte zu laufen. Dieses insofern politische Clownstheater verwandelt sich danach noch in Stände als Spielstationen nicht nur für Kinder und reißt derart erneut eine Grenze ein: zwischen Akteuren und Zuschauern.

Weitere Aufführungen in ehemals realen sowie aktuell metaphorischen Grenzregionen plant man, jenseits des Landestheaters, jetzt fürs kommende Jahr.

Erschienen am 2.7.2024

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