Unbehagen an der bürgerlichen Ordnung
Das Moskauer Künstlertheater: Stanislawski
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Das von Konstantin Stanislawski, Sohn reicher Kaufleute und bekannter Darsteller von Liebhaberaufführungen, und dem Stückeschreiber Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko vorbereitete, 1898 eröffnete und mehrere Jahrzehnte geleitete Moskauer Künstlertheater vollendete gleichsam auf höchstem künstlerischem Niveau das Streben des westlichen Theaters nach möglichst illusionistischer Repräsentation der Wirklichkeit. Es war der Rahmen, in dem Stanislawski seine weltweit wirksame Schauspielästhetik entwickelte, nach der das besondere künstlerische Ereignis so zu gestalten sei, dass es, zugespitzt formuliert, als authentisches, wahres Leben erfahren und wahrgenommen werden kann, dass der Schauspieler den von ihm zu zeigenden Charakter, das von ihm konstruierte/gemachte Individuum lebt/erlebt.
Das Künstlertheater, ein Privattheater, sollte dem Verfall des russischen Theaters seit den 1880er Jahren entgegenwirken. Wirtschaftlich nicht zuletzt von Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko und anderen als Aktionären getragen und von reichen Kunstmäzenen unterstützt, erscheint es als erstrangige kulturelle Leistung des sich seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts ökonomisch stürmisch entwickelnden russischen Bürgertums. Nicht nur das, es wurde zu einem wichtigen kulturpolitischen Faktor in den demokratisch-bürgerlichen Bewegungen, die zur ersten russischen Revolution 1904/05 führten. Zum Beginn der Proben am 14. Juni 1898 betonte Stanislawski in einer kurzen Rede, man habe nicht wegen des materiellen Gewinns so lange auf das neu zu eröffnende Theater gewartet, sondern um das prosaische Leben zu...