Theater der Zeit

Vorwort

von Frank Hörnigk

Erschienen in: Recherchen 103: Tagebücher 1992 – 2011 (10/2012)

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In seiner Eintragung vom 19.12.2011 notiert Ernst Schumacher, dass Theater der Zeit die „allerletzte hoffnung“ sei, seine späten Tage bücher selbst noch gedruckt in den Händen halten zu können, aber er glaubte nicht mehr recht daran: „… ich vermag mir kaum hoffnung zu machen. l’homme passé.“ Es sind die letzten Sätze der von Ernst Schumacher über Jahrzehnte geführten Tagebuchaufzeichnungen. Er sei endgültig „ein mann der vergangenheit“! Nur wenige Tage vor seinem Tod im Juni 2012 erfährt er, dass das von ihm so sehr Erhoffte doch noch Realität wird: „Ernst Schumacher. Tagebücher 1992 – 2011“ soll im Herbst 2012 in Buchform vorliegen. Er kann die Nachricht noch aufnehmen und ist glücklich darüber.

Ein knappes Jahr zuvor – anlässlich seines 90. Geburtstages – lasen Freunde auf der Probebühne des Berliner Ensemble zum ersten Mal öffentlich in Auszügen aus diesen späten Tagebüchern: Da saß er selbst noch im Publikum. Es sollte jedoch seine letzte Fahrt hin zu jenem Ort werden, an dem seine erste direkte Begegnung mit dem Theater Brechts vor mehr als sechzig Jahren stattfand; eine Erfahrung, die sich in den Jahrzehnten, die darauf folgten, zum wichtigsten Arbeitsfeld seines gesamten Lebens als Wissenschaftler, Publizist und Kritiker erweitern sollte. 

Auch das bezeugen die Aufzeichnungen seiner Tagebücher. Aber sie gewinnen in ihren biografischen Horizonten, über die besondere Beziehung zu seinem wissenschaftlichen Gegenstand „Brecht“ hinaus, entscheidend erweiterte Einsichten über das eigene Leben. Denn Ernst Schumacher schreibt in seiner eigenen Person selbst Geschichte. Als große autobiografische Erzählung über die historischen Verwerfungen eines ganzen Jahrhunderts angelegt, eröffnen die von ihm hinterlassenen Erinnerungen sowohl einen sehr eindringlichen und persönlichen poetischen Raum als auch, hierin verbunden, einen gleichermaßen immer um Objektivität bemühten Maßstab des eigenen Denkens, der sich in seinen späten Jahren nicht zuletzt in der verstärkten Kritik und Selbstkritik eines dogmatisch erstarrten Marxismus-Begriffs als fatale Epochenbilanz auch seines eigenen Lebens ausweist. 

Die Themenfelder seiner Aufzeichnungen vor diesem Hintergrund sind weit gefächert: Durchgehend werden die andauernden Mühen, zum Teil auch die Qualen und Altersblockaden des eigenen Forschens und Nachdenkens benannt. Im Zusammenhang mit den Betrachtungen über die politischen und Machtverhältnisse in einer globalisierten Welt des Kapitals und den daraus unmittelbar abgeleiteten Fragen auch der deutschen Teilung und Wiedervereinigung nach vierzig Jahren steht immer wieder die Krisenerfahrung und das Ende des sozialistischen Experiments im Raum. Dennoch bekennt sich Ernst Schumacher – bis zuletzt und trotz der historischen wie individuellen Erfahrung dieses Scheiterns – zu dessen ursprünglichem Entwurf. 

Das Theater und seine Entwicklung nach 1990 sind als immanenter Bestandteil der veränderten Wirklichkeit in solchem Denken unmittelbar aufgehoben und – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – einer fundamentalen Kritik unterzogen. So erscheinen die Theaterkritiken, die er in diesen Jahren an die Feuilletonredaktion der „Berliner Zeitung“ absendet, aber vor allem auch jene, die er zu seinem eigenen Selbstverständnis bis zuletzt in seinen Tagebuchaufzeichnungen unveröffentlicht zurückhält, weit mehr als zuvor aus den allgemeinen politischen Wahrnehmungen zur Zeitgeschichte denn aus einem besonderen Schreibimpuls eher moderater Tageskritik abgeleitet. Die Schärfe seiner Urteile ist dabei gleichwohl eindrucksvoll und weiterführend. Herausragend darüber hinaus die vielen in seine Tagebuchnotizen eingerückten Porträts von Zeitgenossen. In der Mehrzahl im Zusammenhang von bekannt gewordenen Todes nachrichten für sich notiert oder aber auch später veröffentlicht, verweisen diese Nachrufe zunehmend auf das wachsende, nicht mehr zu verdrängende Bewusstsein vom Wegsterben seiner Generation insgesamt. Erwähnenswert und in einem weiteren Sinne mit dieser Erfahrung verbunden ist, dass für Ernst Schumacher zunehmend auch das besondere emotionale Bekenntnis zu seiner alten Heimat Bayern als bleibende und nur schwer zu bewältigende weitere Verlusterfahrung seines Lebens aussprechbar und zugleich als nachhaltig zu zahlender Preis eigenen poli tischen Engagements anerkannt wird. Es ist vor allem das Glück seiner langen und erfüllten Partnerschaft mit seiner Frau Renate, das diese Erfahrung wenn nicht aufzuheben vermoch te, so doch mindestens ausgleichbar erscheinen ließ. Dieses beson dere Glück im Privaten war es auch, das die ebenfalls anhaltend reflektierte politische Infragestellung seiner Person nach 1990 einschließlich des Verlustes ihrer öffentlichen Reputation relativierbarer und letztlich hinnehmbar erscheinen ließ. 

Die von Ernst Schumacher hinterlassenen und nunmehr erstmals einsehbaren Tagebücher nach 1990 zeigen einen Menschen, der mit großer Energie gegen die begrenzte Lebenszeit in diesen ihm noch verbleibenden mehr als zwei Jahrzehnten (!) ankämpfte: um weiterarbeiten zu können an seinem Lebenswerk und dessen Vollendung und um für seine Familie und seine Freunde einstehen zu können – und der allein deshalb den eigenen Tod aus seinem Denken so lange als irgend möglich zu verbannen trachtete. Dass dieser ihn dann doch noch einholte vor der Zeit, als sein jüngster Sohn Raoul im Jahre 2008 erst vierzigjährig verstarb – Ernst Schumacher war da 88 Jahre alt – blieb bis zu seinem eigenen Ende eine nie geschlos sene Wunde, das alles überstrahlende Unglück seiner letzten Jahre. Auch darüber berichtet das Tagebuch mit größter Offenheit und tiefer Trauer. 

2006 erschien im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München- Berlin unter dem Titel „Ernst Schumacher. Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland. Aufzeichnungen des Brechtforschers und Theaterkritikers in der DDR 1945 – 1991“ ein ebenso sorgfältig wie klug edierter erster Band der Tagebücher Ernst Schumachers, herausgegeben von Michael Schwartz. Dessen „einführende Skizze“ trägt die Überschrift „Ein Ci-devant“ und zitiert ausdrücklich das wiederholt formulierte Bekenntnis des Tagebuchschreibers aus dem Jahre 1989, wonach er nunmehr endgültig als „Ehemaliger“ von der Geschichte erkannt und zu Recht als überlebt abgestempelt worden sei – und das nicht nur bezogen auf sein hohes biologisches Alter. Es gehört allerdings zur Ironie dieser besonderen Geschichte einer historischen Einsicht des Augenblicks, dass die große Geschichte dabei nicht mitspielte wie erwartet. Denn Ernst Schumacher überlebte seine Diagnose, bezogen auf seine eigene Person, um mehr als zwei Jahrzehnte: Und wenn die Zeiten gleichwohl auch nicht auf eine solche Veränderung der Welt hinausliefen, „wie sie gebraucht“ würde in den Worten des „Meisters“ – und auch in seinen eigenen – waren es doch keine Jahre „am Ende der Geschichte“! Und daraus allein schon war Hoffnung zu schöpfen – auch für Ernst Schumacher. Deshalb schaute er zunehmend mit wiedererweckter Neugier, wenn schon für sich selbst ohne Hoffnung, so doch aber nicht hoffnungslos nach vorn. Das Bild des „L’homme passé“ hebt das andere Bild des „Ci-devant“ nicht auf, aber es ist ihm nicht gleichzusetzen: Denn jetzt ist es vor allem die Gewissheit, als historischer Zeuge und Vorangegangener mit seinen Einsichten selbst nicht mehr anwesend zu sein, um vielleicht noch gebraucht werden zu können von denen, auf die er bis zuletzt alle seine Hoffnung setzte. Ob diese letzte Negativ-Prognose am Ende seines Lebens richtig oder falsch ist, bleibt vorläufig weiterhin offen und trägt allein schon deshalb Zukunft in sich. Auch nach Ernst Schumacher. Davon will dieser Band Zeugnis ablegen. Frank Hörnigk, im Juli 2012

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