Magazin
Geschichten vom Herrn H.: Das Balkontrauerspiel
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Feier des Absurden – Nürnbergs neuer Schauspielchef Jan Philipp Gloger (12/2018)
„Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!“ Mit diesen Worten wandte sich der SPD-Politiker Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom Balkon des Lesezimmers des Reichstags an die zu seinen Füßen versammelten Massen. Nur kurz darauf trat Karl Liebknecht vom Spartakusbund auf den Balkon des Berliner Schlosses: „In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.“ Bekanntlich wurde die Äußerung Scheidemanns Realität. Und Liebknecht wenige Monate später ermordet in den Landwehrkanal geworfen, zusammen mit Rosa Luxemburg. Was also ist die Bedingung, dass aus der einen Balkonrede eine Staatswirklichkeit wurde – und aus der anderen nicht? Damals war es eine Frage der materiellen Gewalt: Die Niederschlagung von Novemberrevolution, Dezemberkämpfen und Spartakusaufstand waren die blutigen Wegsteine zur Weimarer Republik. Die Worte von den Balkonen waren Teil eines großen gesellschaftlichen Konflikts – und wurden auch als solche verstanden.
Denn sagen kann man bekanntlich viel, nur wird nicht alles als allgemeingültig anerkannt werden – das unterscheidet eine standesamtliche Trauung von einer Sandkastenhochzeit. Das sollte man auch in Bezug auf die Ausrufung einer Republik im Blick behalten. Auf die Ereignisse von vor hundert Jahren bezieht sich das von der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und dem Schriftsteller Robert Menasse zusammen mit dem Theatermacher Milo...