Theater der Zeit

Thema: Die Schaustörer – Spiel und Widerstand

Ver-Dichtung

Über den sehenden Blinden Don Quijote

von Miriam Goldschmidt

Erschienen in: Theater der Zeit: Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen (11/2013)

Assoziationen: Akteure

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Vieles an Miriam Goldschmidt ist einzigartig. Zum Beispiel, dass sie – 1947 geboren – in einem Kinderheim in Frankfurt am Main aufwuchs. Dass ihr Weg sie nach Paris führte, wo sie bei Jacques Lecoq studierte. Dass sie mit Regisseuren wie Fritz Kortner, Peter Zadek, Peter Stein, Matthias Langhoff arbeitete. Oder dass sie sich 1971 – wieder in Paris – Zugang zu einer Probe von Peter Brook verschaffte. Ihre Antwort auf seine Frage, wer der Eindringling sei, lautete: „Me!“ Ihre Antwort auf seine Frage, wen sie suche: „You!“ Brook lächelnd: „Sit down!“ Aus dieser Situation entstand eine Zusammenarbeit, die noch heute, fünfzig Jahre später, anhält. Erst im Mai dieses Jahres stand Miriam Goldschmidt auf der Bühne in Recklinghausen und brachte in der Regie von Brook „Der Verwaiser“, einen Prosatext von Samuel Beckett, zur Premiere. Auf Deutsch. Dass Miriam Goldschmidt nicht nur auf der Bühne ganz singulär mit Worten umzugehen weiß, zeigt der folgende Text über Don Quijote, den Helden, der nicht zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden weiß.

 

Über Don Quijote (2004)

 

Alles ist Puppenspiel. Verpuppung von längst Geschehenem, in allen Gestalten vorrätig, des fetten Engerlings, zum Falter (Schmetterling) oder zur Eintagsfliege ...

Die Weltgeschichte drängelt sich blutend und historisch immer falsch buchstabiert in ständiger Korruption mit den jeweiligen Mächten durch einen lächerlichen Ausschnitt (News).

Daten sind austauschbar und beliebig, leuchten auf wie Wartenummern. Am Rande der Geduld in zum Beispiel Sozialämtern. Don Quijote, das größte Opfer ritterlicher Chronologie, sehender Blinder, Ver-Dichter, immer zu früh oder zu spät mit einem Nummernzettel in der Hand, mit ewig falschen Auftritten gesegnet, sieht sich als Erlöser. Knäuelentwirrer, Brecher offener Türen. An Fäden tänzelt das Menschengeschlecht. Mondgesichtig, Rache fordernd, engelgleich, mörderisch durchtrieben. Vor seinen alten Prismaaugen, in denen sich der Kosmos, was auch immer das heißt, in allen denkbaren Farben bricht. Ja!

Es tritt das Menschengeschlecht mit Insektiziden den Kampf gegen sich selber an. Don Quijote gewährt der Dunkelheit prismatische Verblendung. Die Zauberer (Götter) sind nicht ausrottbar. Sie bringt kein Gift um, sie sind immun. Der arme Puppenspieler, ein Affe diente ihm bislang. Er sah, was ist, der Affe, und nichts voraus. Der arme Puppenspieler streute Futter für einen großen, durch und durch verwirrt-entwirrenden Geist. Verlor seine Existenz.

Alles ist Einbildung, es gibt nichts, was ist. Und das ist schon genug. Außer alles, was ohne unser Zutun Erde beben macht. Ozeane füllt und unablöslich seiner Wege geht. Zu Fuß, zu Pferd, benzingetrieben, elektronisch, internetiglich, und immer unwesentlich von Ohr zu Ohr gehörlos. Nicht fassbar für ein Menschenleben, durch Bücher gedrückt, in Rahmen gepresst und wieder ausgespuckt. Verbrannt, Moden unterworfen und längst entwachsen den lächerlichen Schuhgrößen. Das diese kleine Erfindung Leben (Wer weiß, wem das Patent zuzuschreiben ist?) ausmacht. Seit das Licht auf einen schwer erkälteten Planeten fiel, geschah wenig Neues. Es fiedert und fleddert bereits drei Sekunden oder drei Milliarden Frühlinge lang, nicht mehr, vor allem nicht weniger. Na und? Tät man das alles überleben – geht nicht, sagt die Eintagsfliege. So kann man’s übersterben, sagte die Motte im Kerzenlicht. Da führt kein Weg vorbei. //

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