Auftritt und Interaktion
Zu Lessings Minna von Barnhelm
von Joel B. Lande
Erschienen in: Recherchen 115: Auftreten – Wege auf die Bühne (11/2014)
I.
In Gotthold Ephraim Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm erschließt das Auftreten eine Welt.470 Zugleich wird diese Welt jedoch durch die Bedingungen des Auftretens begrenzt. Denn als Lessing im Jahr 1767 sein Stück veröffentlichte, erachteten die Konventionen des europäischen Dramas nicht jeden Gegenstand in der externen Wirklichkeit als angemessen für die Darstellung auf der Bühne. Vielmehr beschränkten eine Reihe semantischer und formaler Distinktionen den Bereich dessen, was als zulässig für die Darstellung in einem bestimmten Drama galt. Zum Beispiel bezieht sich die umstrittene Unterscheidung von Trauerspiel und Lustspiel, die eine besondere Virulenz seit den 1730er Jahren erhielt, auf alle Aspekte dessen, was die Rhetoriken herkömmlich decorum nannten: was gesagt wird, wie es gesagt wird, worauf es sich bezieht, in welcher Situation gesprochen wird.471 Wie Lessing sehr wohl wusste, ermöglichte es der Begriff des decorum seit der griechischen und römischen Antike, Unterscheidungen zwischen Dichtkunst und Malkunst, aber auch innerhalb der dichterischen Gattungen zu treffen. Es ging in der Debatte um generische Differenzierung um mehr als die verbale Formulierung und theatrale Aufführung.472 Die poetologischen Debatten, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzten, beschäftigten sich auch mit der für die künstliche Ordnung des Dramas angemessenen Form. Zu diesem...