Die Socìetas Raffaello Sanzio ist eine 1981 im norditalienischen Cesena gegründete Theatergruppe, im Kern bestehend aus Chiara Guidi sowie dem Geschwisterpaar Romeo und Claudia Castellucci. Europäische und internationale Bekanntheit erlangte sie vor allem seit den neunziger Jahren mit einer Reihe von Produktionen, die im weitesten Sinn eine kritische Beschäftigung mit dem Arsenal europäischer Theater- und Kulturgeschichte pflegen. Zu denken wäre hierbei etwa an die sich auf Shakespeare-Texte beziehenden Produktionen von Amleto: La veemente esteriorità della morte di un mollusco (Hamlet: Die vehemente Äußerlichkeit des To des einer Molluske, 1992) und Giulio Cesare (Julius Cäsar, 1997), an die Auseinandersetzung mit Christusdarstellung und Nächstenliebe in Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (On the Concept of the Face: Regarding the Son of God, 2010) sowie – nicht zuletzt – an den von der Europäischen Union massiv geförderten elfteiligen Theaterzyklus Tragedia Endogonidia (2002 bis 2004), der im Zentrum meines Beitrags steht.1
Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass die Tragedia Endogonidia in mehrerer Hinsicht als dezidiert ‚europäisches‘ Theater verstanden werden kann: auf Ebene ihrer ökonomisch-politischen Förderung durch die EU, in ihrer Auseinandersetzung mit der Form der Tragödie, in ihren verstreuten Hinweisen auf das Bildarchiv europäischer Geschichte sowie in...