Theater der Zeit

Auftritt

Thalia Theater Hamburg: Blau, Blau, Blau ist alles was...

„Drei Schwestern“ von Anton Tschechow – Regie Anne Lenk, Bühne Judith Oswald, Kostüme Sibylle Wallum, Musik Lars Ehrhardt

von Peter Helling

Assoziationen: Theaterkritiken Hamburg Anne Lenk Thalia Theater

Eine wahre Ensembleleistung – Tschechows „Drei Schwestern“ in der Regie von Anne Lenk am Thalia Theater Hamburg.
Eine wahre Ensembleleistung – Tschechows „Drei Schwestern“ in der Regie von Anne Lenk am Thalia Theater Hamburg.Foto: Krafft Angerer

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Die drei Schwestern im Schlummer-Modus: Mit einem Klick geht das Licht an – eine Welle Blau schwappt aus einem Lichtrahmen in den Saal. Und zeigt eine frisch geföhnte Gruppe mit Dauerwellen und in blau eingefärbten Skianzügen der 80er Jahre. Die Frauen eingepackt wie große Bonbons, blaue Stoffschleifen, auf denen die blonden Frisuren ruhen. Ein grelles Bild, ringsum eine Bühnenkiste, von innen bemalt mit Monets „Seerosen“. Blau, immer Blau. Bis sich die Figuren aus ihren Stehposen lösen und zu sprechen beginnen. Die drei Schwestern, elternlos, reich, gelangweilt, übersättigt mit Kultur, sehnen sich aus ihrem provinziellen Garnisonskaff weg. Aber sie kommen nicht weg, so viel ist klar. Tschechows Komödie, die eine Tragödie ist, die wiederum urkomisch ist, ist eine vom menschlichen Stillstand und dem Unvermögen, diesen zu überwinden. Der Militärarzt, Bernd Grawert schön knarzend weltvergessen, liest nur noch Comics, der Lehrer, ein trauriger Sprücheklopfer mit Popperfrisur und Brust-Toupet: Jirka Zett sagt „Chillen“ statt Entspannen, „cringe“ statt peinlich. Die steinalte Kinderfrau Anna (Solomia Kushnir) zittert sich krumm über die Bühne. 

Die jüngste Schwester, im Original Irina, hat Geburtstag! Sie wird hier „Ingrid“ gerufen. Rosa Thormeyer ist umwerfend: Ein Blick von ihr in die Bühnenweite genügt, um die ganze Not, das umsonst pochende Herz der Figur zu zeigen. Der Name aber ist altdeutsch. Olga, die älteste, heißt hier „Ortrud“ – gespielt von Rosa Thormeyers Mutter Oda Thormeyer, die mittlere, Mascha: Cathérine Seifert als „Mechthild“. Mit ihren blonden Mähnen wirken sie wie eine preußische Offiziersfamilie mit einem Hauch „Denver-Clan“ (Kostüme: Sibylle Wallum). Alle russischen Bezüge sind verschwunden. Wer auf den sehnsüchtigen Ausruf „Nach Moskau!“ wartet – Ausdruck des Weltläufigen, Kulturellen, Modernen, wartet vergeblich. Hier sehnt man sich „nach der Heimat“, die ist: Deutschland. Befremdlich? Ja. Aber natürlich macht der russische Angriffskrieg etwas mit der Rezeption russischer Texte. Die Entscheidung von Regisseurin Anne Lenk ist hier konsequent, folgt keinem platten anti-russischen Reflex, sondern legt den Text erst richtig frei. „Moskau“ funktioniert gerade nicht als Metapher für Offenheit. Es wird dauern, bis es das wieder kann. Traurig, aber wahr. 

Ansonsten aber ist das reinster Tschechow, wenn auch im grellen Gewand der 80er Jahre: Sitcom-Tempo, schön gesetzte Pausen, traurige Clowns. Die Konfliktlinien sind fast unsichtbar, aber es gibt sie natürlich, Mechthild liebt einen verheirateten, ehemals stattlichen Offizier: Hans Löw ist großartig als bedröppelte Trauerweide mit heiserem Lachen. Der lachend erzählt, wie sich seine Ehefrau versucht hat umzubringen. Mechthild ist eine wundervoll lodernde Kraftmeierin. Die Langhaarperücke macht sie zur wilden, aufstampfenden Provinz-Brünhild. Lehrerin Ortrud dagegen, ganz Contenance, reine Selbstkontrolle: Das ist irre komisch, wie sie versucht, als Ersatzmutter den blauen Laden zusammen zu halten. Diese  verlorenen Gestalten. Dann haben wir noch Andrej, pardon: Alfred oder „Alf“, den Bruder: Merlin Sandmeyer, natürlich eine Komiker-Klasse für sich, dauerschnarchend am Bühnenportal. Ein welkes Blatt, ausgelaugt, mit dünnem Schnauz. Schließlich Maike Knirsch als perfekt grelle Naomi, Alfreds übergriffige Frau und ganz „Super Mom“. Gruselig-schön, wie sie im lachsrosa Plüschanzug und mit langen Zöpfen den Schwestern Paroli bietet, sie, die sich in der Ödnis als einzige pudelwohl fühlt. 

Echte Gefahr droht vom Hauptmann Jakobi, schneidig verkörpert von Filipp Avdeev, er ist die Störfunktion in diesem föhnigen Spiel. Er hasst den Baron, der sich in Ingrid verliebt hat. Björn Meyer als ein so zart liebender Möchtegern-Romeo, dass er sofort berührt. Aber man spürt, dass hier eine Uhr tickt, langsam, unweigerlich. Es kommt zur Katastrophe, da ist das Blau nach kurzem, klickendem Lichtwechsel wie ausgelöscht, die Seerosen Claude Monets in der Bühne von Judith Oswald haben sich in eine rostbraune hässliche Farbkruste verwandelt, Rauch hängt in der Luft, ein Munitionsdepot ist explodiert. Es sind Brüche wie diese, die Anne Lenks Inszenierung dynamisieren. Sie nutzt die grelle Optik nicht etwa, weil ihr nichts zu den Figuren einfiele. Stattdessen erhöht sie den Druck, die Tragik presst sich durch die Zeilen. Jede Sehnsucht ist vergeblich, keiner und keine lebt das richtige Leben. Es gibt in dieser Welt kein Außen mehr, keinen fernen Sehnsuchtsort. Alles ist aufs Jetzt und Hier reduziert. Zukunft gibt es nicht.  

Das Ensemble spielt nicht einfach, es atmet, lacht, drängt sich ineinander, wie ein einziger Organismus. Ganz groß. Das heisere Lachen von Hans Löw klingt plötzlich wie helle Panik – denn er und die anderen Soldaten sollen in den Krieg ziehen. Irgendeinen, Krieg ist immer. Hier klingt es aber verdammt aktuell. Was an diesem Abend gelingt: Er bringt einen zum Lachen und zum Weinen. So wird dieser Tschechow zu einem Stück über die Atemnot einer Gegenwart, die nicht vor noch zurück weiß. Die nur fürchtet, alles zu verlieren. 

Erschienen am 8.5.2023

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