Theater der Zeit

Auftritt

Senftenberg: Fascist Baby, Utopia

Neue Bühne Senftenberg: „Utopia“ von Mikhail Durnenkov in der Übersetzung von Elina Finkel (DEA). Regie Catharina Fillers, Bühne / Kostüme Maria Wolgast, Musik Matthias Bernhold

von Paul Mühlbach

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Brandenburg Neue Bühne Senftenberg

Subversion durch Degeneration: Patrick Gees, Anna Schönberg und Daniel Borgwardt in „Utopia“ von Mikhail Durnenkov in der Regie von Catharina Fillers an der neuen Bühne SenftenbergFoto: Steffen Rasche

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Die Neue Bühne Senftenberg lud unter neuer Intendanz zum „FestSpiel“ ein. Der gebürtige Leverkusener Daniel Ris und sein Team bemühten sich erkennbar um Anschluss an die Bühnenfesttradition der GlückAufFeste, die eine durch den Braunkohletagebau geprägte und veränderte Stadtgesellschaft verhandelten und dabei stets auch die Nähe zum Volksschauspiel herstellten. „Neue Heimat“ als designiertes Thema dieser Festspielausgabe erweist sich dabei selbstredend als dankbares Thema, denn auch über dreißig Jahre nach der Wende durchdringt der Eindruck einer für immer verlorenen, besseren Vergangenheit die Senftenberger Gegenwart. Unweit des sich zwischen Neubaublocks und kargem Fußballplatz befindenden Theaters ist an einer Bushaltestelle „FCK NZS“ eingeritzt, das gegenüberliegende Plakat der Neuen Bühne ist, wenig subtiler, mit „FCK UKRAINE“ versehen. Reichlich Nährboden für spannendes, kluges Theater ist also vorhanden. Die Frucht dieser künstlerischen Anstrengung verfügt aber diesmal bedauerlicherweise über einige madige Stellen.

Nach Begrüßung und Sektempfang auf dem Theatervorplatz, inklusive eines „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ skandierenden Chors aus Senftenberger ­Jugendlichen, fahren umfunktionierte Li­nien­busse das Premierenpublikum zu ihren jeweiligen Spielstätten zur Gartenstadt ­Marga im Ortsteil Brieske. Neben einem Dokumen­tartheaterabend des Kollektivs WEGWOHIN über die ambivalente Le­bens­bilanz älterer Senftenber­ger:innen, abgehalten in einer leerstehenden Turnhalle, und Miru Miroslava Svolikovas „Gott ist drei Frauen“ in der ­Regie von Sebastian Martin, naheliegend aufgeführt in einer Kirche, ­erwartete das restlos ausverkaufte „Utopia“ in der Regie von Catharina Fillers seine ­Zuschauer im ­Zechenhaus der ehemaligen Brikettfabrik. Der äußerst reduzierte Bühnenraum und, damit einhergehend, die stark begrenzte Spielfläche dieser verlassenen, vor langer Zeit so bedeutsamen Hallen, ist eine brillante Idee. Immerhin verhandelt der ukrainische Dramatiker Mikhail Durnenkov mit einfachen, aber nicht minder bedeutsamen Worten ­subtil die lebenszersetzende und so letztendlich todbringende Nostalgie des post­sowjetischen Russland. Kafkaesk taucht eines Tages bei dem zerrütteten Ehepaar Ljöscha und Nadja der „Boss“ auf. Dieser fordert von ihnen für viel Geld die Rückkehr der Vergangenheit: Die Bar Utopia seiner Studienzeit soll wieder öffnen – und dabei ein genaues Replikat seiner alten Utopie sein, mitsamt dem schalen Bier und der unironisch hoffnungsvollen, aber eben des­wegen auch hoffnungslos durchschnittlichen Popmusik. Dass dieser Vergangenheit immer auch schon die Degeneration innewohnte – Papas Alkoholismus und die damit verbundenen Gewaltexzesse, Mamas religiöser Wahn und die damit einhergehenden Er­lösungsfantasien –, wird nicht zuletzt an der eigentlichen Hauptfigur, Sohn Jura, beeindruckend ausgestellt. Intensiv von Patrick Gees verkörpert, ist der psychopathische, rauschgiftsüchtige, homosexuelle und vaterlandsverachtende Jura einerseits der Albtraum der russischen Generation Putin, andererseits entspringt er ihr aber auch, und durch seine vermeintliche Abnormität entlarvt und überwindet er sie. Subversion durch Degeneration. Er kommt am Ende des Stücks als einziges Familienmitglied in den Wirren der Katastrophe davon, seine Mutter Nadja entfacht ein Fegefeuer, welches ihren Mann und sie und damit auch das Utopia verschlingt. Das Spiel aller Darsteller ist ein betont körperliches, es wird viel geschrien und gerannt, kurz vor Schluss wird sogar ­Patrick Gees derartig heftig gegen die harten Fabrikwände geschleudert, dass die Aufführung wegen einer so entstandenen Kopf­wunde für einige Minuten unterbrochen werden muss. Doch die Härte des Spiels passt zur drama­tischen Vorlage, wenn auch Pathos nicht ­gemieden wird. Leider kann das Werk trotz seiner Stärke seine volle Wirkung so in Senftenberg nicht entfalten. Damit erinnert es nicht zuletzt an Andrei Swjaginzews ­„Leviathan“, ein Filmdrama von immenser Bedeutung für die russische Zivilgesellschaft, welches allerdings im deutschen Feuilleton als klischeehafte Putin-Parabel rezipiert wurde.

Der Dramatisierung von Juli Zehs ­Roman „Über Menschen“ im zweiten Teil des Premierenabends kann leider noch weniger Feingefühl zugestanden werden, obwohl sie dies in einer Bühnenfassung von Dramaturgin Karoline Felsmann unter der Regie von Elina Finkel ständig für sich beansprucht. Im Stil französischer Integrationskomödien der nuller Jahre wird die Bin­senweisheit „Wir sind doch alle Menschen“ im großen Theatersaal der Neuen Bühne Senftenberg ad ­absurdum geführt. Die depressive Dora aus Berlin-Mitte zieht nach Trennung und Lebenskrise ins fiktive Brandenburger Dorf Bracken. Dort trifft sie auf Knallchargen wie einen vorbestraften Neonazi als Nachbarn, ein schwules AfD wäh­lendes Paar und eine ausländerfeindliche ­Alleinerziehende. Doch ihnen allen gesteht man keine Fallhöhe zu; stets wird erklärt, statt sie einem Publikum wirklich einmal als Figuren zuzumuten. Der Neonazi ist nämlich todkrank, und schon sein Vater hat ihn ja nach Rostock-Lichtenhagen mitgeschleppt, und die alleinerziehende Mutter ist nach­vollziehbarerweise chronisch übermüdet und damit nach Setzung der Inszenierung politisch überfordert. Politisch mündige Individuen scheinen schon in der Romanvorlage nicht denkbar. Das Ende des Politischen ist das Zeitalter der Psychologen. Praktischerweise stirbt der Neonazi am Ende durch die eigene Hand. Die bürgerliche Gesellschaft ist so pünktlich zum Applaus wiederher­gestellt.

Dennoch löst sich das revolutionäre Festspielversprechen in Senftenberg ein, wenn auch jenseits der Theaterbühne. Auf der anschließenden Premierenparty kommen fremde Menschen ins Gespräch, man trinkt gemeinsam Bier und diskutiert aus verschiedensten Perspektiven über die bevorstehende Wahl wie auch über die Vergangenheit. Und, wie Ernst Bloch es einst eindrücklich über Heimat als Verheißung formulierte: „So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ //

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