Auftritt
Hamburg: Tierischer Überlebensmodus
Schauspielhaus Hamburg: „Die Stadt der Blinden” nach dem Roman von José Saramago in einer Fassung von Kay Voges, Bastian Lomsché und Matthias Seier. Regie Kay Voges
Erschienen in: Theater der Zeit: Berliner Theatertreffen: Unendliches Spiel – Der Schauspieler André Jung (05/2019)
Assoziationen: Schauspielhaus Hamburg
So viel Werktreue auf deutschen Bühnen ist selten. Das klingt erst einmal überraschend, wenn es um die Adaption eines Romans für die Bühne geht, auch wenn dieser Roman sich zugleich als Essay, als Versuchsanordnung und philosophische Erzählung versteht, also eine reflexive und hypothetische Anlage wie einen Regietheateransatz in seinem Textkorpus birgt.
Wie Werktreue in Zeiten filmischer Mittel auf der Bühne, mit Bezügen auf den Filmkanon aussehen kann, das ist in Kay Voges’ Inszenierung von „Die Stadt der Blinden” nach dem Roman von José Saramago am Hamburger Schauspielhaus zu sehen: Sie sieht in großen Teilen so aus wie Fernando Meirelles’ Verfilmung von 2008. Nur dass das leider nicht im Programmheft steht.
Saramagos dystopischer Roman ist eine Allegorie auf den modernen Menschen, führt vor, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, wie schnell wir unsere Wert- oder Moralvorstellungen unter Extrembedingungen aufgeben, um zu überleben.
Der Autor lässt in einer namenlosen Großstadt Menschen an einer mysteriösen, milchig-weißen Blindheit erkranken, dem „weißen Übel”, das scheinbar ansteckend ist. Da immer mehr Menschen erkranken, für Panik und Chaos sorgen, stellt die Regierung diese unter Quarantäne, zum Beispiel in einer leer stehenden Irrenanstalt, streng bewacht von Soldaten, isoliert, sich selbst überlassen. Diese Vorgeschichte lässt Kay Voges sehr effizient in einem schnell geschnittenen Video-Einspieler mit Nachrichtenschnipseln abzurren, um nun mit den 21 Darstellern in die eigentliche Geschichte der Entmenschlichung einzusteigen. Von der Seitenbühne her ziehen, unsicher ihren Weg suchend, die ersten Erblindeten in das zweistöckige, vielleicht um 1900 erbaute Irrenhaus ein, das Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert hinter einem hohen Absperrzaun zentral auf die Drehbühne gesetzt hat. Saramago interessiert nicht der zoologische Blick auf diese hilflos umhertapernde Gemeinschaft. Er schleust die nichterkrankte Ehefrau eines erblindeten Arztes ein, als einzig Sehende unter den Blinden. Sie wird stellvertretend zur Zeugin einer fortschreitenden Eskalation unter den Internierten, die mit der Sehkraft auch die Kontrolle über die einfachsten Alltagsverrichtungen verlieren. Ohne medizinische und andere Hilfe von außen, versorgt mit spärlichen Essensrationen und trotz Ordnungsambitionen ist die Vermüllung und hygienische Degeneration nicht aufzuhalten. Meirelles’ Film zeigt die Verwahrlosung in krassen Bildern, Voges bringt das mit seinem Ensemble in schonungslosem Filmrealismus auf die Bühne: die kotverschmierten Wände, Kleider und Gesichter, die ungewaschenen nackten Körper, infizierten Wunden, den Kampf um Lebensmittel, die Vereinzelung von Menschen, die aus der gegenseitigen Wahrnehmung herausfallen, umherirren und irre werden. Und zwar in Nahaufnahme. Denn wie oft bei Voges folgt eine Live-Kamera den Schauspielern, durch die Gänge und Zimmer, werden die Bilder auf Projektionswände übertragen.
Sandra Gerling als sehende Ehefrau ist die „unsichtbar” helfende Hand. Allein mit den Bildern des Elends, ist sie die letzte Zeugin, sieht die zunehmende Verrohung, das tierische Not-Programm des bedrängten Menschen, der im Überlebensmodus auch wieder das Recht des Stärkeren durchsetzt, mit Gewalt. Ähnlich wie Julianne Moore im Film läuft sie stoisch durch die Szenerie, wischt die Scheiße vom Boden, sieht sich schon bald als Marienerscheinung im Spiegel, teilt das Leid, indem sie sich wie die anderen Frauen für Essensrationen vergewaltigen lässt, über die eine Gruppe von Blinden Kontrolle erlangt hat. Bis sie es doch nicht mehr erträgt und einen Mord vielleicht im Namen der Menschlichkeit oder der Rache begeht.
Voges gelingt eine ästhetisch und dramaturgisch absolut stimmige und gut gebaute Inszenierung – nicht zuletzt, weil das Ensemble schauspielerisch viel leistet, wie auch die Video-Crew. Doch erst als die ganze Welt erblindet ist, also auch die bewachenden Soldaten, und die Insassen „frei” durch das Chaos der Stadt ziehen, findet Voges eine eigene Bildsprache, die die Verfilmung hinter sich lässt. Vor einer grell aufleuchtenden und ins Dunkel zurückfallenden Lichtwand arrangiert er seine Darsteller zu fast scherenschnittartigen Tableaus, die wie Nachbilder auf der Netzhaut hängenbleiben. Die Sehende wird zur Erzählerin der Katastrophe. Und sie sieht: „Der Himmel ist ein undurchdringliches, grelles Weiß. ” Man könnte auch sagen: leer. Saramago schrieb eine Dystopie auf Probe. Am Ende können alle wieder sehen, was aber nicht heißt „erkennen”. //