So viel Werktreue auf deutschen Bühnen ist selten. Das klingt erst einmal überraschend, wenn es um die Adaption eines Romans für die Bühne geht, auch wenn dieser Roman sich zugleich als Essay, als Versuchsanordnung und philosophische Erzählung versteht, also eine reflexive und hypothetische Anlage wie einen Regietheateransatz in seinem Textkorpus birgt.
Wie Werktreue in Zeiten filmischer Mittel auf der Bühne, mit Bezügen auf den Filmkanon aussehen kann, das ist in Kay Voges’ Inszenierung von „Die Stadt der Blinden” nach dem Roman von José Saramago am Hamburger Schauspielhaus zu sehen: Sie sieht in großen Teilen so aus wie Fernando Meirelles’ Verfilmung von 2008. Nur dass das leider nicht im Programmheft steht.
Saramagos dystopischer Roman ist eine Allegorie auf den modernen Menschen, führt vor, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, wie schnell wir unsere Wert- oder Moralvorstellungen unter Extrembedingungen aufgeben, um zu überleben.
Der Autor lässt in einer namenlosen Großstadt Menschen an einer mysteriösen, milchig-weißen Blindheit erkranken, dem „weißen Übel”, das scheinbar ansteckend ist. Da immer mehr Menschen erkranken, für Panik und Chaos sorgen, stellt die Regierung diese unter Quarantäne, zum Beispiel in einer leer stehenden Irrenanstalt, streng bewacht von Soldaten, isoliert, sich selbst überlassen. Diese Vorgeschichte lässt Kay Voges sehr...