Theater der Zeit

Auftritt

Hamburg: Unter Blinden

Deutsches Schauspielhaus: „Am Königsweg“ (UA) von Elfriede Jelinek Regie Falk Richter Bühne Katrin Hoffmann Kostüme Andy Besuch

von Jakob Hayner

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater ist kein Wettrennen – Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich (01/2018)

Assoziationen: Schauspielhaus Hamburg

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Wir sind alle blind. Auch die Autorin. Ilse Ritter eröffnet den Abend als eben jene. Oder ist sie doch die Einäugige unter den Blinden? Ja? Nein. Alle blind. Schon in der nächsten Szene sind es die Schauspieler, die gerade noch um einen Tisch sitzend Elfriede Jelineks endlosmäandernden Text gesprochen haben, die mit Binden um den Kopf über die Bühne stolpern, tastend, hilflos, während Blut aus den Augenhöhlen die Gesichter herunterläuft. Hier sind wirklich alle mit Blindheit geschlagen. Man denkt an Ödipus, den Vatermörder und Mutterbeischläfer, der zunächst blind ist für seine eigene Schuld – und als er sie erkennt, sich blendet. Oder an den blinden Seher Teiresias, der zwar von Ödipus’ Verhängnis weiß, aber nur in Rätseln spricht. Vielleicht hat man auch noch José Saramagos „Stadt der Blinden“ im Gedächtnis, in dem Blindheit zur Metapher der gesellschaftlichen und nicht nur individuellen Unfähigkeit zur Erkenntnis wird. Ist Blindheit aber tatsächlich das Bild, mit dem die Gegenwart treffend beschrieben ist? Sehen wir nicht, was wir tun? Oder müsste man es zuspitzen: Wir sehen, was wir tun, aber wir ziehen keine Konsequenzen aus dem, was wir sehen? Wir wissen nicht, was wir gleichzeitig doch wissen? In Bezug auf die Natur, die Arbeit, die Politik, das Leben schlechthin: Glauben wir wirklich noch, dass man jemanden die Augen öffnen müsste? Glauben wir wirklich, dass die katastrophische politische Entwicklung mit einem Mangel an Informationen zu erklären sei? Müsste man nicht eher von einem selektiven Bildausschnitt sprechen, in dem eine jede und ein jeder handelt, ohne sich um die gesellschaftlichen Konsequenzen des individuellen Verhaltens tatsächlich – wenn überhaupt – zu interessieren? Doch mit der Blindheit hat die von Falk Richter inszenierte Uraufführung von Jelineks „Am Königsweg“, das Stück zur Stunde, ein durch den Abend tragendes Bild gefunden.

Und man muss wirklich froh sein, dass einem über die dreieinhalb Stunden Spiellänge überhaupt etwas wie ein Motiv begleitet. Denn angesichts der schieren Fülle reichlich unzusammenhängender Vorgänge auf der Bühne stellt sich etwas wie das Gefühl des Erblindens nach dem visuellen Urknall ein. An der Bühnenrückwand läuft eine schnell geschnittene Fotoshow, die Trump, Lukaschenko, Porno, Gewalt und Urlaubsbilder in einer Weise vermengt, dass man den Begriff media information overload wieder mit einer Anschauung verbinden kann. Auf der Bühne spielt sich irgendetwas zwischen Sesamstraße, ironischer Inszenierung von im Wohnwagen lebendem white trash, Musical und irritierenden Tanzeinlagen zu einer von Pathos und Heroismus evozierenden, basslastigen Musik ab. Dazu schrille Klamotten und vielerlei Accessoires. Um es vorwegzunehmen: Erkenntnisgewinn und Kostüm- und Bühnenbildaufwand verhielten sich an dem Abend umgekehrt proportional. Zwischendrin lieferte Benny Claessens als tyrannisch-tuckiger König eine Show ab, die man von ihm auch schon in Ersan Mondtags „Ödipus und Antigone“ am Berliner Maxim Gorki Theater sehen konnte. Vorgeführte Prunksucht, wie man sie von Trumps Familienfoto kennt – inklusive dem Plüschlöwen für den Millionen-Dollar-Nachwuchs. Lustig? Eher weniger. Unterboten wurde das aber noch von den Zwischenspielen von Idil Baydar, die im Goldglitzerjogginganzug mit der Aufschrift cute but psycho als der von ihr kreierte Youtube-Charakter Jilet Ayse, eine 18-jährige Kreuzberger Türkin, auftrat. Die Figur Jilet Ayse würde man wohl am ehesten unter dem Genre der postrassistischen Ironie fassen (oder des postironischen Rassismus?), ihre Ausführungen über das Verhältnis von „Kanacken“ und „Kartoffels“ bildet einen Sozialtypus ab, der den Weg sicher selten ins Deutsche Schauspielhaus findet, warum das aber dem dort versammelten bürgerlichen Publikum zur Erheiterung vorgeführt wurde – und was das außer „Isch schwöre“ à la „Fack Ju Jählinek“ zu dem Text beitragen sollte –, blieb mehr als fragwürdig. Die durchaus ernst zu nehmenden Momente über die Abstiegsängste der Mittelklasse und den Modus der Projektion gingen im Gelächter unter. Und nebenbei konnte man dann erfahren, dass Sozialsatire in Zeiten von sogenanntem Unterschichtenfernsehen eigenartig daneben wirkt.

Manch eine Schwäche der Inszenierung mag auch dem inzwischen abgegriffenen Muster Jelinek’scher Sprachspiele geschuldet sein. Wenn sich Genialität auf Genitalität reimt und auch sonst die Sprache nur auf Iteration und Variation, also letztlich auf sich selbst verweist, verwundert die Klage über den Weltverlust der Sprache weniger, scheint er doch zunächst dem Verlust ihrer Bezeichnungsfunktion zu folgen. Man ertappt sich, dass man lieber noch einmal Jelineks „Die Ausgesperrten“ zur Hand genommen hätte; dieser Roman ist zwar schon 37 Jahre alt, aber weit weniger abgestanden. Und wenn es im Stück einmal interessant wird, wird das von der Regie nicht aufgegriffen. Mehrfach kapriziert der Text auf den Zusammenhang von Banken, Schulden, Immobilienblase und Politik. Dass der politische Fatalismus, wie er in der Wahl von Trump seinen Ausdruck gefunden hat, eine Auswirkung des blinden schuldengetriebenen Finanzkapitalismus sein könnte, ist ja ein durchaus interessanter Gedanke – nur wurde er nicht ausgespielt. Am Rande wurde auch noch der Verlust der Arbeiterklasse beklagt. Es gäbe nur noch angry young white men stattdessen. Und mit der Revolution ist’s deswegen auch nichts. Und da fällt einem eine andere Geschichte zur Blindheit ein: Simson, der den Aufstand gegen die Philister anführte, wurde einst von diesen gefangen genommen, und man stach ihm die Augen aus. Blind diente er den Herrschern zur Belustigung – quasi Trash-TV. Doch eines Tages, denn seine Stärke hatte er nicht verloren, brachte er den Tempel der Philister zum Einsturz, Tausende wurden darunter begraben. Heute ist eine Welt am Einstürzen. Doch das ist bei allem kalauernden Klamauk an diesem Abend nicht zu spüren. //

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