Theater der Zeit

Thema: blackfacing

Unser Problem

von Matthias Dell

Erschienen in: Theater der Zeit: Blackfacing (10/2014)

Assoziationen: Debatte

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Das deutsche Theater weiß mittlerweile zwar, wie man Blackfacing schreibt, schmiert sich aber immer noch schwarze Schminke ins Gesicht

von Matthias Dell

Was waren das für Zeiten! „Wörter, die im Deutschen fehlen: Blackface“, konnte Andrian Kreye, der Leiter des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung, 2009 mit aller Berechtigung in seinem Blog schreiben. Anlass war der Günter-Wallraff-Film „Schwarz auf Weiß“, für den sich der Investigativjournalist Farbe ins Gesicht pinselte, um am eigenen Leib exklusiv herauszufinden, was er afrodeutsche Menschen hätte fragen können. Kreyes Informiertheit erklärt sich aus der Tatsache, dass er lange Zeit in den USA gelebt hat. Den meisten der in Deutschland lebenden weißen Theaterkenner ist der Begriff Blackfacing dagegen erst seit 2012 geläufig, seit den Widerständen gegen die Dieter-Hallervorden-Inszenierung im Berliner Schlosspark Theater und, wenig später, dem Protest gegen Michael Thalheimers Uraufführung von Dea Lohers „Unschuld“ am hauptstädtischen Deutschen Theater. Beim letztjährigen Theatertreffen kochte die Diskussion wegen Sebastian Baumgartens Zürcher Inszenierung von Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ noch einmal hoch.

Eine Folge der Auseinandersetzungen: Kritik und Theater wissen jetzt, dass da etwas sein könnte. Der Begriff Blackfacing ist geläufig, und sei es erst mal nur als Problemmarkierungstechnologie. Deshalb könnte man sich von den beiden Arbeiten, die in diesem Frühjahr herausgekommen sind und in denen im Bewusstsein der Diskussion schwarz geschminkt wird, Auskunft über den Stand der Dinge erwarten. Die beiden Arbeiten sind: Nicolas Stemanns Uraufführung von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, die bei der Mannheimer Ausgabe von Theater der Welt Premiere hatte und seit September im Repertoire des Hamburger Thalia Theaters läuft. Und Johan Simons’ Inszenierung von Jean Genets „Die Neger“ Anfang Juni für die Wiener Festwochen, die in diesem Monat in die Spielpläne von Hamburger Schauspielhaus und Münchner Kammerspielen überwechselt.

Stemanns Inszenierung zeichnet aus, dass sie ungeschlacht ist. Das kann man künstlerisch ein Scheitern nennen – oder als Ausdruck einer Ratlosigkeit nehmen, die es für den Moment nicht besser weiß. Jelineks Text „Die Schutzbefohlenen“ handelt von Flüchtlingspolitik, Kirchenbesetzungen und Migrationsbiografien, von privilegierten Einbürgerungen und strengen Willkommensbürokratien. Und er trifft auf eine EU-europäische, deutsche, Hamburger Realität: Ein Jahr lang hatten Lampedusa-Flüchtlinge bei ihrem Kampf ums Bleiberecht in der St.-Pauli-Kirche der Hansestadt Zuflucht gefunden. Ein paar dieser Flüchtlinge gehören nun zum Chor der Inszenierung, der allerdings weniger geformt, also chorisch ist, sondern eher eine Ansammlung von Einzelleben darstellt, die im Laufe des Abends andeutungsweise erzählt werden. Damit wird etwas nicht Unbedeutendes geleistet – die Verwandlung vom „die“ der Gruppe zum „du“ des Individuums –, auch wenn das für manchen nach Sozialarbeit klingen mag.

Die interessanteste Seite der Inszenierung zeigt sich sowieso an ihren paratheatralen Rändern. Weil Flüchtlinge keine Arbeitserlaubnis haben, ist deren Engagement schon politische Tat und alternative Praxis zur deutschen Einwanderungsbürokratie. Außerdem begreift sich das Thalia explizit als Ventilator des Themas, wenn es nach jeder Vorstellung Gespräche anbieten will, um Begegnungen zu ermöglichen, Raum zu schaffen für Belange, die am einfachsten verdrängt werden. Dass das Mühe kostet, war den sich leicht aneinanderreibenden Statements von Intendant Joachim Lux und Regisseur Stemann anzumerken, die beide unmittelbar nach dem Premierenapplaus auf der Bühne abgaben. Ein Vorteil von Jelineks Text für den Blick aufs Blackfacing ist seine Flächigkeit: Es gibt keine Rollen, nur wechselnde Stimme, er kann von zwei Menschen gesprochen werden oder von tausend, zugleich oder nacheinander. Eine urdemokratische Angelegenheit, die alle Verantwortung der Regie übergibt. Stemann hat sich die naheliegende repräsentationspolitische Frage gestellt, aus der die ungeschlachte Ratlosigkeit der Arbeit resultiert: Was nützt es, wenn professionelle Schauspieler den existenziellen Nöten vor der Haustür ein paar hübsche Jelinek-Sätze aus dem Herzen sprechen, und nach dem Vorhang gehen dann alle moralisch gestärkt und künstlerisch erfüllt zu Drei-Gänge-Menü und dem Spätburgunder von Becker Landgraf über? Also sind die, über die gehandelt wird, mit auf der Bühne. Und das Dilemma der Repräsentation wird, wenn es schon nicht aufgelöst werden kann, zumindest eingestanden in einem triftigen Satz am umorganisierten Schluss. „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen“, sagen die sechs professionellen Schauspieler, da sie von den Flüchtlingen umringt sind.

Der Weg dahin führt nur leider über einen, vorsichtig gesagt, ziemlich dämlichen Umweg. Denn die Frage nach Repräsentation dekliniert Stemann in einer Hierarchie durch, die das Repräsentationsdilemma eben rassistisch denkt. Das Binnenspiel um Jelineks Text herum erzählt von drei weißen Männern (Sebastian Rudolph, Felix Knopp, Daniel Lommatzsch), die zu Beginn den Text aufsagen und zu denen sich im Laufe des Abends drei weitere Schauspieler gesellen, von denen zwei afrodeutsch (Ernest Allan Hausmann und Thelma Buabeng) und zwei weiblich (Buabeng und Barbara Nüsse) sind. Das kann man natürlich als „kritisch“ etikettieren, also hoffend unterstellen, dass Stemann damit dem Publikum radikal aufklärerisch den Spiegel vorhält. Es macht nur keinen Sinn. Der Konflikt des Theaters verläuft zwischen echtem Leben und Rollenspiel, zwischen Flüchtlingen, die in unklaren Verhältnissen leben, und Schauspielern, die, selbst wenn sie Flüchtlinge spielen, dafür bezahlt werden und am Abend nach Hause gehen in ihre gesicherte Existenz. Hausmann und Buabeng haben mit den Flüchtlingen so viel zu tun wie Lux und Stemann, und Hautfarbe ist kein Charakteristikum von Flüchtlingen. Wieso kommt dann ein weißer Regisseur bei einem Jelinek-Stück über Flüchtlingspolitik auf die Idee, zwei afrodeutsche Schauspieler zu engagieren (was denen freilich immer zu wünschen ist), nicht aber bei einem Jelinek-Stück über die, sagen wir, Finanzkrise oder einen Liederzyklus von Schubert?

Auf diese Weise verbaut Stemann ohne Not den Blick auf das tatsächliche Dilemma von „Die Schutzbefohlenen“ mit dem Gerüst seiner Vorurteile. Das stiftet Anlass, sich noch mal „kritisch“ schwarze Farbe ins Gesicht zu malen, wenn Knopp sich von Hausmann – why? – verdrängt fühlt. Die Fremdheitsproduktion hat sich damit lange noch nicht erschöpft, es wird sogar eigens der Jelinek-Text angehalten, damit die drei Weißen den Schwarzen auf Englisch ansprechen können. Weil der auf Deutsch antwortet, wäre, wenn diese Aktion je eine Pointe gehabt hätte, spätestens nach der ersten Antwort Schluss. „Die Schutzbefohlenen“ zieht die Nummer, bei der sich die drei Weißen zwischendurch immer wieder beraten, wie sie die deutschen Sätze (sic) als englische Wörter (sic) missverstehen könnten, aber ungerührt durch. Das ist schon künstlerisch ein Graus: Eine Inszenierung, die allein von den Namen (Nobelpreisträgerinnendrama, hochdekorierter Regisseur, Schauspieler-des-Jahres-Cast) und dem Thema (politisch aktuellst) her ein Kandidat für eine Theatertreffen-Nominierung oder anderweitige Saisonauszeichnungen wäre, benimmt sich plötzlich wie ein Schülertheater vor zwanzig Jahren, das für ein Straßenfest was gegen Diskriminierung einstudieren will.

Immerhin, Stemann ist mit seinem guten Willen, der grundlos schlechtes Gestern aufruft, nicht allein. Zu seiner Inszenierung von Genets „Les Nègres“ erklärte Johan Simons etwa, dass er den Paternalismus gegenüber Afrika aus den eigenen Kindertagen heute kritisch sehe. Leider ist es ihm nicht gelungen, kritisch zu sehen, dass er bei der Textverteilung auf der Bühne die Verhältnisse der Kindertage, sprich: der fünfziger Jahre, verlängert hat – die wenigen tragenden, textreichen schwarzen Rollen wurden schon damals von angemalten Weißen gegeben, was sich etwa in den im Frühjahr erschienenen Lebenserinnerungen von Theodor Michael nachlesen lässt („Deutsch sein und schwarz dazu“). Bei Simons wird 2014 die Rolle des einzigen schwarzen Akteurs (Felix Burleson), der von der bei Genet mal durchgängig schwarzen Besetzung übrig geblieben ist – verdoppelt. Also sitzt Burlesons Archibald die meiste Zeit stumm, während Stefan Hunsteins Archibald durchs Programm führt – mit einer völlig grotesken, Burlesons Gesicht imitierenden Maske. Wie man solches Blackfacing als „kritisch“ erklärt bekommt, ist ein Rätsel; deshalb hat es auch keine Kritik bislang versucht.

Ein anderes, gern bemühtes Alibi für die Notwendigkeit, sich mit tradierten rassistischen Theatermitteln nicht zu befassen, ist die Kunst. Dass deren Freiheit nicht grenzenlos ist, führt die Geschichte von Genets Stück und seiner Aktualisierung allerdings vor Augen. Es gab nämlich Simons’ Versuch, im Bewusstsein des überholten Titels das Stück umzubenennen in „Die Weißen“. Was daran scheiterte, dass der deutsche Übersetzer der Spielfassung von Genets „Les Nègres“ sein Einverständnis verweigerte. Diese Weigerung vermittelt einen Eindruck von dem sakralen Kunstbegriff, der in solchen Fällen gepflegt wird: Die einmal zu Papier gebrachte Überlieferung steht da, als sei sie vom Herrgott persönlich empfangen und in Stein gemeißelt worden.

Interessant wird die ausdrückliche Weigerung des Übersetzers Peter Stein aber erst, wenn man in der deutschen Inszenierungsgeschichte von Genets Stück auf die Schaubühnen-Premiere von 1983 stößt. Für die holte sich derselbe Peter Stein – was Berichte noch heute leicht heroisch kolportieren – „eigens“ bei Genet die Erlaubnis, das Stück, in dessen Regieanweisung es heißt, es sei nur von schwarzen Schauspielern zu spielen, mit weißen Darstellern zu inszenieren. Und das geht dann munter zusammen: Die Freiheit der Kunst ist eine Laune von Peter Stein, dessen eigene Worte nur unverändert wiedergegeben werden dürfen, während er dem Stück von Genet (man fragt sich schon, wieso der sich auf diesen Handel eingelassen hat) mal eben den ganzen kritischen Gehalt streichen kann: Dass sich ein bürgerliches weißes Theaterpublikum nur schwarzen Schauspielern gegenübersieht, war der repräsentationspolitische Clou von Genets Werk.

Und das wäre es auch heute noch. Ibsen, Shakespeare, Schiller einfach nicht nach Hautfarbe und trotzdem nicht nur weiß besetzen – das würde das traditionelle Publikum viel stärker irritieren in seinen Wahrnehmungen, das wäre der viel größere Spiegel als jeder Versuch, das Schwarz-Anmalen „ironisch“ und „kritisch“ legitimieren zu wollen – und sei es dadurch, dass sich, wie bei Stemann, zur Sicherheit dann alle bunt schminken müssen. Wenn es eng wird, büxt man einfach in den Universalismus aus: Wir sind doch alle Menschen. Wer Bilanz zieht nach zwei, zumindest den äußeren Umständen nach, hochkarätigen Theaterarbeiten zum Thema, der stellt fest, dass die Auseinandersetzung der deutschen Bühne mit den eigenen Rassismen bei der Repräsentation auch im Jahr 2014 auf der Stelle tritt. Man kennt zwar das Wort Blackfacing, aber man weiß nicht so recht, was das bedeutet. Was auch ein Problem der Kritik ist, die in diesem Punkt zumeist nicht als Korrektiv fungiert, sondern Unbedenklichkeitspflaster aufklebt („kritischer Darstellungsrassismus“, lobte Theater heute bei Stemann) – weil sie es auch nicht besser weiß und hofft, dass die von ihr prämierten Leute es schon richtig machen werden. In den lustigen und erhellenden Nachtkritik.de-Diagrammen „Gemein und nutzlos“ (Untertitel: „Für alle halbseidenen Beobachtungen, die in Theaterkritiken aus guten Gründen keinen Platz finden, gibt es auch eine Verwendung: die manchmal gemeinen, aber stets nutzlosen Diagramme, Grafiken und Listen“) müsste man sich ein Tortendiagramm unter der Überschrift „Was weiße Theaterkritiker und -macherinnen bei dem Wort ‚Blackfacing‘ denken“ wohl ungefähr wie folgt vorstellen: 5 Prozent: Damit sollte man sich mal ausführlicher befassen. 19 Prozent: Das kommt von diesen Minstrel Shows. 76 Prozent: Geh mir aus der Sonne mit diesem Randgruppen-Quatsch!

Insofern wäre es eine Herausforderung, in der nächsten Zeit folgender Feststellung die Berechtigung abzutrainieren – Dinge, mit denen sich das deutsche Theater auseinandersetzen sollte: Blackfacing.

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