Dekolonisation, Postkoloniale Theorie und Dekolonialität
von Grit Köppen
Erschienen in: Recherchen 173: Dekoloniale Ästhetiken im zeitgenössischen Theater (05/2025)
Der historisch politische Kontext der Dekolonisation steht im engen Zusammenhang mit Widerstandsformen während des transatlantischen Sklavenhandels und der Kolonisation im globalen Süden. Das wissenschaftliche Theoriefeld postkolonialer und dekolonialer Theorien ist allerdings sehr viel später entstanden. Ich werde im Folgenden einzelne Theorieansätze daraus skizzieren, um erste Überlegungen zu Fragen der Ästhetik in Bezug auf zeitgenössische Theatertexte zu entwerfen. Anschließend werde ich den theaterhistorischen Kontext der frankophonen Gegenwartsdramatik umreißen.
Dekolonisation als historischer Prozess und Praxis des Widerstands
Gegenwärtige dekoloniale Bestrebungen in der Kunst stehen in einer jahrhundertealten Traditionslinie individueller und kollektiver Weigerungs-, Widerstands- und Auflehnungspraktiken, politischer Widerstandsbewegungen und Revolten, antikolonialer Ideengeschichten und Kommunikationspraktiken, die kolonialrassistische Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse anprangerten und zu überwinden versuchten. Sie stehen aber auch im Kontext ästhetischer Praktiken des Widerstands, der Subjektivierung und der »Selbstrückgewinnung«73. Ich verstehe dekoloniale Ansätze als Teil einer anhaltenden »Widerstandsgeschichte des dienstbar gemachten Menschen«74 im Kontext profitorientierter global-kapitalistischer kolonial-rassistischer, klassistischer und sexistischer Ausbeutung.
Das Widersetzen von Versklavten gegen die Gewaltanwendung und erzwungene Dienstbarmachung erfolgte, so die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, durch aktiven und passiven Widerstand basierend auf Körperpolitiken und performativen Praktiken.75
Eine der wichtigsten Form der Revolte sieht Därmann in der Praxis, »sich selbst unvermögend zu machen«.76 Und sie merkt dazu...