Unter dem Einfluss der Figur
Die Arbeit der Verschiebung in Jensens Gradiva und Freuds Kommentar
von Friedrich Balke
Erschienen in: Recherchen 171: Nebenfiguren (11/2024)
Figura nach Auerbach
Erich Auerbach zeigt in seinem Figura-Essay, dass »Figura« im exegetischen Kontext des frühen Christentums die Bedeutung von praefiguratio annimmt. Im Kontext der kirchenväterlichen Debatten um das Verhältnis des Alten zum Neuen Testament bezeichnet Figura eine Interpretationsstrategie, die darauf abzielt, »die im Alten Testament auftretenden Personen und Ereignisse als Figuren oder Realprophetien der Heilsgeschichte des Neuen zu deuten«1. Diese Figuraldeutung läuft Gefahr, das Gedeutete zu depotenzieren oder dem Deutungsinteresse unterzuordnen und es nicht in seinem Eigensinn zu würdigen. Die exegetische Strategie verwandelt die Figuren des AT in gewisser Weise zu Nebenfiguren: Sie sind nichts (mehr) aus eigenem Recht, aber werden dennoch gebraucht, denn sie gewinnen ihre Funktion durch ihre Fähigkeit, das eigentliche Geschehen anzukündigen und es mit einer prophetischen Legitimation zu versehen. Deshalb stellt Auerbach in einem Nachsatz fest: »Dabei ist zu beachten, daß Tertullian ausdrücklich es ablehnt, die wörtliche oder geschichtliche Geltung des Alten Testaments durch die Figuraldeutung zu entkräften.«2
Auerbach stellt nun den theologischen Refunktionalisierungen der Figura Überlegungen voran, die die Figura um Aspekte der Figuralität erweitern, die aus theologischer Perspektive nebensächlich erscheinen mögen, aus medienwissenschaftlicher Sicht aber höchst aufschlussreich sind. Auerbach attestiert der antiken und späthellenistischen Figura eine »Expansionsneigung«3,...