Gespräch
Wieviel Mitbestimmung brauchen wir?
Der Freiburger Ensemblespieler Martin Weigel spricht mit den Regisseuren Robert Schuster, Heike-M. Goetze und Boris Nikitin über Fragen der Beteiligung an künstlerischen Produktionsprozessen
von Heike M. Goetze, Martin Weigel, Robert Schuster und Boris Nikitin
Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)
Assoziationen: Praxiswissen Baden-Württemberg
Robert Schuster: Es gibt im Falschen kein Richtiges
Martin Weigel: Robert, woher kommt deine Sozialisation als Theatermacher? Die Zeit von 1999 bis 2002 am Theater am Turm (TAT) in Frankfurt, die gemeinsame Intendanz mit Tom Kühnel, interessiert mich da besonders. Was habt ihr anders gemacht?
Robert Schuster: Für uns gab es immer die Überlegung, welche alternativen Arbeitsformen man denken kann und wie das Dispositiv des Apparats bestimmt, was auf der Bühne stattfindet. Das Wort Dispositiv war damals noch nicht so modisch wie heute, aber im Prinzip würde man das so sagen. Wie führt die Produktionsweise zu bestimmten ästhetischen Formen, zu bestimmten Relationen und damit auf der Bühne zu bestimmten Aussagen? Und wie müsste man, wenn man bestimmte Aussagen, bestimmte Formen anstrebt, auch die Produktionsweisen verändern? Für uns waren damals der Begriff der Entfremdung und die Frage, wie man dieser entkommt, sehr viel zentraler, als das heute der Fall ist. Wir haben einen anderen, sicherlich eher marxistisch geprägten Arbeitsbegriff gehabt. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir uns fragen, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen.
Das TAT war ja von all den Versuchen der Selbstbestimmung, die es gab, der kleinste. Und das nicht ganz zufällig. Uns war schon damals klar, dass der Versuch, unentfremdet miteinander zu arbeiten, umso schwieriger wird, je mannigfaltiger die Produktionsverpflichtungen werden. Angetreten sind wir mit dem radikalen Satz „Alles ist zu jeder Zeit von jedem thematisierbar“, der aus der alten Schaubühne stammt. Und wie dort gab es zunächst nur eine Einschränkung, wenn es um die Besetzung ging.
Kannst du beschreiben, warum?
Ein bisschen flapsig gesagt: Die Selbstbestimmung hat am Selbst immer eine Grenze, es überlagern sich verschiedene Strukturen, die sich teilweise auch gegenseitig verdecken. Zum Paradox des Schauspielers gehört das Paradox der Sehnsucht, der große Wunsch, als Auserwählter aus dem Chor herauszutreten, sich selbst diese Rolle zu geben und sich in dieser auch zu sehen. Dafür braucht es aber jemanden, der das auch so sieht.
Am TAT gab es eine Einheitsgage.
Ja, das ist der nächste Schritt, wenn man darüber nachdenkt, wie man unentfremdet miteinander arbeiten kann. Ein egalitäres Verhältnis in der Arbeit kann man nur haben, wenn man ein egalitäres Verdienstverhältnis hat.
Hat die gleiche Bezahlung eure Arbeiten geprägt? Wurde es spürbar, gab es ein anderes Verständnis für künstlerische Prozesse, für Ästhetik, für künstlerische Entscheidungen? Gab es eine andere Form von Verantwortung, von Pflicht?
Dieser Versuch hat erst einmal dazu geführt, dass Transparenz entstanden ist. Ich habe als Intendant nie wieder so schöne Vertragsverhandlungen führen können wie damals, weil ich sagen konnte: Hör zu, ich verdiene hier 5500 DM – das haben wir damals brutto verdient –, und das biete ich auch dir an. Und dann konnten wir zum Inhalt übergehen. Das ist erst mal angenehm – aber dann wird es schwieriger. Eine damit verbundene Hoffnung war, dass diese Situation zu einem größeren Verantwortungsbewusstsein führt. Sie führt auf jeden Fall zu Verbundenheit, aber ob sie mehr Verantwortung produziert, bezweifle ich. Ich stocke jetzt, weil ich das auch traurigen Herzens sage. Aber ich tröste mich mit der trotzkistischen Weisheit, dass es – solange es nicht die Weltrevolution beziehungsweise solange es ein Draußen, solange es einen Markt gibt – ganz schwer ist, im Inneren etwas aufrechtzuerhalten.
Eingeschlossen in ein Marktgefüge, ist die Freiheit ausgehebelt, weil der, der draußen besser verdient als drinnen, unfrei ist und der, der drinnen mehr Geld verdient als draußen, auch, weil er – nicht im egalitären Verhältnis zum Markt bezahlt – die Freiheit verloren hat, sich wieder auf diesen begeben zu wollen. Das macht die Sache kompliziert. Das egalitäre Arbeitsverhältnis entkoppelt sich zudem von der Leistungsmotivation. Wenn der eine zwei Stunden am Tag beschäftigt ist und der andere zehn Stunden, ist es vielleicht besser, wenn der, der zehn Stunden beschäftigt ist, für diese Leistung besser bezahlt wird als der, der zwei Stunden arbeitet.
Ich würde ja spontan sagen, dass Geld nicht der einzige Gegenwert ist, den ich in einem künstlerischen Prozess bekomme. Ich bin ja jetzt schon relativ lange hier in Freiburg, seit 2008, also neun Jahre. Während dieser Zeit habe ich gemerkt, dass es hier ein großes Vertrauen in der Zusammenarbeit gibt. Ich halte das für einen großen Wert, weil Vertrauen auch wieder Freiräume ermöglicht, ein anderes Risiko zulässt im Arbeiten.
Du hast schon in der Interviewanfrage geschrieben, es gehe um künstlerische Mitbestimmung. An dem Adjektiv merke ich, dass du nicht nur Mitbestimmung meinst, sondern eben künstlerische Mitbestimmung. Und da wird es kompliziert. Jede Diktatur neigt dazu, die Besitzverhältnisse zu verschleiern, und jede Demokratie neigt dazu, die Machtverhältnisse zu verschleiern. Wenn man von künstlerischer Gleichberechtigung spricht, geht es wahrscheinlich nur im Kommunismus, wie auch immer der aussehen könnte.
In der DDR kursierte der schöne Satz, der mich, auch wenn ich nicht in der Partei war, geprägt hat: „Wer im Theater arbeitet, hat das Privileg, den Kommunismus bereits zu leben.“ Die Hoffnung war, dass wir uns im freien Spiel begegnen, im freien Spiel der Gemütsbemühungen, Gleiche unter Gleichen – wenn wir da geschützt im Proberaum in anderen Zusammenhängen arbeiten. Das ist ja der Traum einer Probe, einer gelungenen Probe, dass man sagt: Natürlich haben wir unterschiedliche Positionen, der eine ist Regisseur, der andere ist Schauspieler, es gibt unterschiedliche Künstler, die alle unterschiedliche Sachen machen, aber die schönste Probe ist die, wo es plötzlich fließt, weil es nicht mehr um irgendwelche Ansagen oder Spielchen geht, sondern man frei probiert.
Man könnte auch sagen, man macht Widersprüche produktiv.
Ja, genau. Das Problem ist, dass du diese Utopie eigentlich nur erfahren kannst, wenn man keine Verträge miteinander hat, die belastend sein könnten und so die Frage stellen, wie groß mein Vertrauen in dich ist beziehungsweise wie groß mein Glaube. Wenn wir wirklich Freie unter Freien wären, dann dürften wir beide dafür kein Geld bekommen. Und dann wird es wirklich interessant, denn von welcher Mitbestimmung reden wir dann? Reden wir über Mitbestimmung in dem Sinne, dass wir im Schutz einer gewerkschaftlichen Vereinigung für bestimmte Rechte kämpfen? Ein Opernchor hat zum Beispiel sehr viel mehr Rechte als ein Schauspieler, der in einem NV-Solo-Vertrag ist.
Deswegen setzen wir auch das Adjektiv „künstlerisch“ vor Mitbestimmung. Das ist, glaube ich, auch zurzeit die Suchbewegung im Ensemble-Netzwerk. Ist das eher ein Interessenverband von Arbeitnehmern, der im Sinne eines kapitalistischen Arbeitsbegriffs Arbeitgebern gegenübersteht? Oder folgen wir einem marxistischen Arbeitsbegriff, der davon spricht, sich durch die gemeinschaftliche Arbeit selbst zu entwerfen und sich selbst im Anderen zu begegnen. Da ist es dann nicht die Frage, ob jemand Arbeit bekommt oder gibt, sondern dass er arbeitet.
Das ist auch das, was mich am meisten interessiert: der künstlerische Prozess. Aber das lässt sich natürlich nicht abkoppeln von Rechten und von einem Vertragsverhältnis, das bedingt sich natürlich gegenseitig. Für mich ist das Ensemble-Netzwerk auch erst einmal eine Selbstermächtigung von uns Schauspielern, die uns eine Stimme gibt in der Form, dass wir eben nicht nur einzelne Individuen sind, sondern alle auch Arbeitnehmer an einzelnen Stadttheatern, die abhängig sind vom Arbeitgeber und bestimmte Rechte eben nicht haben beziehungsweise bestimmte Rechte hätten, aber dafür noch nicht eingetreten sind.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin absolut für diese Form des Arbeitskampfes!
Angenommen, du hättest noch mal die Möglichkeit, einen komplett neuen Versuch zu machen an einem Ort ähnlich wie dem TAT, mit deinen Erfahrungen, auch mit den schmerzhaften – wie würdest du das anstellen, beziehungsweise würdest du noch einmal für Dinge wie eine egalitäre Bezahlung eintreten?
Ich würde immer alle ermutigen und sagen, das, worüber wir eigentlich im Herzen reden, findet in jeder Sekunde und auf jeder Probe statt. Ich kann die ganze Geschichte des TAT auch als ein Scheitern beschreiben. Es gibt im Falschen eben kein Richtiges und umgekehrt. Wenn ich sagen kann, hör zu, Geld spielt keine Rolle mehr, du bist nicht nur grundversorgt, sondern du bist vollversorgt, begegnen wir uns egalitär. Aber dann kommt der Film, der dich noch mal besser versorgt – und die Versuchung, die verheißt, in Hollywood den großen Bären zu spielen. Plötzlich stehen wir satt vor uns selbst. Ich will nicht sagen, dass der Mensch das Problem ist, aber wir werden, wenn Geld und Abhängigkeit keine Rolle mehr spielen und wir uns als Künstler begegnen, wieder den gleichen Kampf führen müssen, auf einem höheren Niveau, auf einem komplexeren Niveau.
Du meinst, es ist keine Frage des Geldes.
Nein. Wir hatten ja das Privileg, zehn Jahre nach der Wende am TAT in gewisser Weise unseren eigenen Sozialismus zu machen. Aber es gab eben auch Sachen, die nicht aufgingen. Bestimmte sozialistische Gedanken sind für mich viel fundamentaler in Frankfurt gescheitert, als sie 1989 mit der Mauer begraben wurden. Aber ich würde es immer wieder versuchen. Ich glaube, angesichts von Entfremdung in künstlerischen, menschlichen und politischen Bereichen muss tagtäglich der Mut aufgebracht werden, es anzusprechen, der Mut aufgebracht werden, es anders zu probieren, und der Mut aufgebracht werden, zu sagen, das, was ich probiert habe, war falsch, wir probieren es noch mal neu. Die Frage ist nur: Wie lange halten unsere Herzen das aus?
Heilke-M. Goetze: Wir müssen einen Pakt schließen
Martin Weigel: Heike, welche Erfahrungen prägen deine Arbeitsweise als Regisseurin und Ausstatterin?
Heike-M. Goetze: Ich bin womöglich aus Versehen antiautoritär aufgewachsen. Wir haben uns wahnsinnig viel um uns selbst gekümmert, sind viel durch die Straßen gezogen. Vielleicht aus diesem Grund gefällt es mir im Theater am besten, wenn es sich wie ein riesiger Spielplatz anfühlt, auf dem wir unter uns sind. Das hat viel mit Radikalität, Autonomie und einem Zurechtkommen zu tun. Der Zustand des Sichbewegens und Nichtsprechens war schon immer wichtig für mich – der Tanz! Ich habe immer nach etwas gesucht, das sich deutlich abhebt von der Realität. Einem Ort, an dem ich mit meiner Fantasie umgehen kann, mit Inhalten, die womöglich in einem bestimmten Kontext verstörend oder meinetwegen auch belustigend sind. An dem ich alles in einer großen Freiheit tun kann. Auf dem Campingplatz zum Beispiel kannst du den ganzen Tag in Badehose herumrennen. Das kannst du im Theater auch.
Dein eigener Idiot sein?
Seit ich Mutter bin, kommt neben all dem Handwerk, das ich in meiner Ausbildung gelernt habe, diese Vergrößerung des Kindes in mir wieder stärker zum Tragen. Mit großer Naivität Fragen stellen zu dürfen macht die Arbeit leichter. Seit ich Kind war, ist diese Naivität nicht wirklich verschwunden, doch fand ich es immer sehr schade, dass sie im „echten Leben“ gemeinhin nicht wirklich vorkommen soll. Wenn ich zum Beispiel an die Volksbühne denke, dann ist das für mich auch ein großer, versauter, radikaler Haufen von Kindern. Ich frage mich in der Arbeit oft: Wie sind wir als Kind? Wie tun wir die Dinge als Kind? Wie können wir das Kind wieder vergrößern? Kinder sind extrem radikal und lange nicht so nett zueinander, wie wir Erwachsenen das immer denken.
Was für Schauspieler brauchst oder wünschst du dir dafür?
Ich wünsche mir fragende, autonome, forschende, höchst neugierige Spielernaturen. Forscher, Researcher, die wie Trüffelschweine Lust haben, nach Dingen zu suchen. Jeder auf seine Art. Das wünsche ich mir nicht nur, sondern das brauche ich. Ich möchte nicht erklären müssen, dass diese Arbeit Spaß macht. Ich möchte Schauspieler nicht zwingen müssen, zur Arbeit zu kommen. Ich möchte keine Aufenthaltsgenehmigungen verteilen müssen. Ich wünsche mir, dass wir so etwas wie einen Pakt schließen, bei dem auch ich damit konfrontiert werde, dass Leute stark für sich einstehen können.
Bedeutet diese Selbständigkeit, von der du sprichst, auch eine Forderung an die Strukturen, in denen wir arbeiten? Ist es dir wichtig, mit „informierten Künstlern“ zu arbeiten, wie Thomas Schmidt sie in seinem Buch „Theater, Krise und Reform“ nennt?
Schauspieler sind ja erst einmal von sämtlichen Entscheidungen ausgeschlossen: Spielplänen, Ensemblepolitik, Wahl der Regisseure und Ausstatter, Ferien. Natürlich gibt es einzelne Häuser, die das anders oder in Teilen anders versuchen, aber im Großen und Ganzen sollen Schauspieler in diesen Strukturen funktionieren. Den Begriff des informierten Künstlers finde ich erst mal herrlich. Was dieser Begriff im Einzelnen in der Praxis dann bedeuten kann, das gilt es zu untersuchen. Ich glaube, es hat sich mit der Zeit eingeschlichen, dass man über Schauspieler verfügt und sie entkräftet. Wie es passieren konnte, dass man sich derart entkräften lässt, ist dann die nächste Frage. Als Ensemble hat man ja eine große Kraft, die viele gar nicht kennen beziehungsweise nicht nutzen. Sie sind ein Rudel, könnten es zumindest sein. Innerhalb einer Produktion wäre es eine Kraft zu sagen: Wir können für diese acht Wochen eine Truppe werden. Wie wollen wir uns da definieren?
Man muss sich miteinander verbünden und verschwören. Die kleine Errungenschaft des Ensemblesamstags, den wir uns als Freiburger Ensemble gemeinsam erkämpft haben und über dessen Gestaltung wir frei verfügen können, ist für uns Schauspieler eine Befreiung und Ermächtigung im Künstlersein. Lisa Jopt vom Ensemble-Netzwerk sagt, dass es für sie bei künstlerischer Mitbestimmung einfach nur darum geht, den Thinktank Ensemble anzuzapfen. Das könne ja keiner nicht wollen. Ein interessanter Satz.
Lustig, nicht wahr? Was mich dauerhaft nicht interessiert, ist, wenn jemand mit verschränkten Armen dasitzt und diesen Entdeckungsraum Theater, der ja verdammt geschützt ist, nicht nutzt. Wenn Schauspieler keine Lust haben auf Denken, auf Begegnung, auf Autonomie, sondern sich nur als „Dienstleister“ oder „Erfüllungsgehilfe“ begreifen, bin ich fertig mit der Welt. Ich habe irgendwann angefangen, mir eine größere Freiheit als Regisseurin zu wünschen. Ich will mit Menschen arbeiten, denen all dies ein großer Wunsch ist, die es sogar einfordern. Gleichzeitig nehme ich schon wahr, wann ich als Teil dieser Gruppe Entscheidungen für die Gruppe treffen muss. Im Umgang ist das für mich wirklich ähnlich wie mit Kindern. Da hört die Wand auf, aha, da beginnt eine Treppe, aha, da kann ich mal nach links gucken, weil geradeaus nicht mehr geht. Da kommst du manchmal nicht allein hin, weil wir freiwillig nie da hingehen würden, wo die Angst sitzt. Das gilt auch für mich. Das sind Wechselwirkungen, welche in der künstlerischen Auseinandersetzung enorm guttun.
Was wir tun, finde ich, kann man nur tun, wenn man sich als Künstler begreift. Das kann man nicht als Dienstleister tun, weil man sich immer aus der eigenen Person heraus in einen Raum des Nichtwissens hineinbegibt. Das hat viel mit Risiko zu tun. Wenn ich mir außerhalb der Kunst neue Fragen stelle, zum Beispiel zu dem Thema, wie ich arbeiten will, passiert auch etwas in der Kunst. Es erschließt sich ein anderer Zugang. Es gibt aber auch Grenzen der Mitbestimmung. Braucht Kunst das undemokratische Moment?
Kunst ist nicht demokratisch. Vor allem nicht komplett transparent. Die Schauspieler, mit denen ich am besten arbeite, wollen gar nicht, dass ich alles mitbekomme. Obwohl wir uns eng verbinden, haben sie ein großes Geheimnis. Da werden bestimmte Bereiche nicht angesprochen und sind auch von ihrer Seite aus nicht verhandelbar, glaube ich. Das ist gut.
Dinge nicht voneinander zu wissen, ist für mich sehr wichtig für die Kunst.
Ich glaube zum Beispiel, dass alles um mich herum schlauer ist als ich selbst. Ich stelle mich andauernd infrage. Ich will auch keine fertig geformten Antworten geben. Ich mag Extreme, aber weniger als Antwort. Sei es, dass etwas extrem langsam ist oder extrem farblos oder extrem durchmischt oder extrem laut oder extrem emotional. Ich mag sehr starke Energien. Ich glaube daran, dass das alles etwas Größeres auslösen kann als die Abbildung der Realität da draußen.
Was ist deine Vision für eine Arbeitsstruktur der Zukunft?
Es müsste größtmögliche Freiheit geben. Kunst und Kultur müssten keine Einnahmen generieren. Es ist zwar auch jetzt nicht ihr Auftrag, aber in der Ökonomie der Aufmerksamkeit schon. Ich denke an ein gläsernes Theater. Mehr Beweglichkeit und Forschung. Ich würde gerne vom Begriff des Schauspielers oder allgemein von den Benennungen der einzelnen Künstler in ihrem Fach weggehen hin zum Begriff des Künstlers, im umfassenden Sinn. Menschen haben oft mehr Begabungen und Ideen über sich als Künstler, als nur die eine Disziplin vorgibt. Ich persönlich bin auch als Spielerin, Regisseurin, Kostüm- und Bühnenbildnerin unterwegs.
Wir haben mit Barbara Mundel mal den Gedanken eines Grundeinkommens als Gagenmodell diskutiert. Das war für unser Ensemble als Ganzes nicht denkbar. Der Vorschlag war: Jeder hat einen Basisvertrag, von dem man seine Grundkosten sichern kann und der drei Produktionen pro Spielzeit beinhaltet. Dann definiert jeder individuell, wie viel er zusätzlich arbeitet und verdient, je nach Lebenssituation. Ein Grundgehalt für alle, alles Weitere ist Verhandlungssache. Das fand ich erst einmal einen interessanten Gedanken, weil es mir als Schauspieler sehr direkt eine andere Position in diesem Gefüge verschaffen würde.
Ich wäre als Künstlerin extrem gern befreit davon, dauernd darüber reden zu müssen, was ich geleistet habe und was diese Leistung wert ist. Vielleicht leiste ich auch mal einen Monat vermeintlich nichts „Abgebbares“ und bekomme trotzdem Geld. Für so ein Grundeinkommen wäre ich als Mensch sowieso. Ich möchte geschenktes Vertrauen, und ich möchte auch Vertrauen schenken.
Boris Nikitin: Sein und Nichtsein
Martin Weigel: Boris, in deiner Arbeit „How to win friends & influence people“ predigte der Schauspieler Matthias Breitenbach in der Freiburger Mormonenkirche zu einem Publikum aus Gemeindemitgliedern und Kunstinteressierten darüber, dass der größte Glaube derjenige an eine Fiktion sei, in vollem Wissen darum, dass es sich um eine Fiktion handelt. Aus welchen Überzeugungen speist sich deine Arbeit? Wie bist du künstlerisch geprägt?
Boris Nikitin: Mich interessiert seit jeher das, was sich in meinem Kopf abspielt: Wie kann ich meine Gedanken veräußern, damit ich sie mir anschauen kann? Ich hab’ in Gießen studiert. Das Studium dort ist sehr auf Kooperation ausgelegt, auf wechselseitige Kritik und „do it yourself“. Die Lehre dort reguliert sich gewissermaßen selbst, weil sie darauf beruht, dass es keine Schauspielerinnen und Schauspieler gibt. Das bedeutet, dass man immer das Problem lösen muss, wer da auf der Bühne steht. Im Studium habe ich zuerst viel im Kollektiv gearbeitet. Eigentlich war ich immer unglücklich damit, konnte mir das aber erst nach vier Jahren eingestehen. Ich kann mich erinnern, wie ich mit meinem Professor Heiner Goebbels perspektivisch über meine Diplominszenierung gesprochen habe. Er war überrascht, hat geschmunzelt und gefragt, ob ich nicht lieber eine schöne Diplomarbeit schreiben möchte.
Ich hatte tatsächlich bis dahin keine einzige für mich befriedigende Produktion gemacht und sagte mir: Ich gebe mir jetzt eine allerletzte Chance. Allerdings unter mehreren Bedingungen: Erstens will ich nicht kollektiv arbeiten. Zweitens habe ich beschlossen, meine innere und äußere Opposition gegen die Ästhetik von Goebbels, die ich als zu clean, zu unpolitisch empfand, zu beenden. Ich hatte gemerkt, dass meine Antihaltung eine absolute Abhängigkeit erzeugt, dass diese opponierende Haltung mich zudem nichts oder zu wenig kostet. Uninteressant kann man ja alles finden. Ich habe versucht, gelassener zu sein, und dann diesen „Woyzeck“ begonnen. Ich hatte mich entschieden, nur mit einem einzigen Darsteller zu arbeiten. Ich wollte mich völlig konzentrieren und nicht auf der Probe fünf Leute am Hals haben, die ich entertainen muss. Dann sind Malte Scholz, den ich als Performer angefragt hatte, und ich auf die Probebühne gegangen, haben komische Sachen probiert, abstrakte Bewegungen, lustiges Auf-dem-Boden-Herumrobben, Sich-mit-Klebeband-Einwickeln, was man halt so macht: verzweifelte Improvisation. Ich saß da und habe mich gefragt: Was machen wir hier? Ich fühlte mich total schlecht und spürte etwas, das jeder kennt, immer wieder erlebt und selten ausspricht: Wir tun hier gerade so, als würden wir Probe machen, aber es ist offensichtlich, dass keiner eine Idee hat. Es herrscht eine totale Leere, weil es irgendwie peinlich ist und unangenehm und man sich da so durchkrampft. Und dann fand ich das plötzlich interessant: Was will eigentlich solch ein Probenraum von einem? Was für eine Erwartung bringt er mit? Wie befreie ich mich von diesem Zwang, kreativ und originell sein zu müssen? Was Malte machte, war wahrscheinlich sogar kreativ und originell, aber ich konnte es nicht lesen, es hatte mit meinem Leben nichts zu tun. Ich habe zu ihm gesagt: Malte, lies bitte noch einmal mein Konzept, lies es einfach durch. Am nächsten Tag habe ich ihn gebeten: Und jetzt erklär mir das Konzept. Stell dich an den Bühnenrand und halte eine Einführung. Das hat er gemacht, und ich fand es super. Dieses Bevor-es-losgeht, dieser Moment des Noch-nicht-Losgehens, ist seither ein wichtiges Tool für mich.
Den Erwartungsdruck, den du vom Proberaum beschreibst, bringt die Institution Stadttheater, in der ich arbeite, strukturell geballt mit: Wenn ich eine Probenphase beginne, gibt es schon lange einen verabredeten Spielplan, der durch einen subventionierten Apparat umgesetzt wird, innerhalb dessen ich für meine Arbeit monatlich bezahlt werde. Das ist für mich allgegenwärtig. Was erwartest du eigentlich von einem Schauspieler? Kannst du mit meinem Berufsstand überhaupt etwas anfangen?
Ich arbeite zwar nicht kollektiv, aber doch sehr kollaborativ. Ohne das, was die Darsteller in die Arbeit hineingeben, würden meine Abende nicht existieren. Egal ob Schauspieler oder Performer – sie repräsentieren darin immer auch sich selbst. Das ist für sie auch ein Risiko. In „Hamlet“, meinem jüngsten Stück, ist Julian Meding gleichzeitig er selbst und nicht er selbst. Der Beruf des Schauspielers ist für mich auch eine politische Metapher oder sogar eine politische Praxis: ein anderer sein zu können. Es geht eigentlich nicht um Sein oder Nicht-Sein, sondern es geht um Sein und Nicht-Sein zugleich. Die Möglichkeit, man selbst sein zu können, existiert nur dann, wenn auch die Möglichkeit besteht, nicht man selbst zu sein. Wenn man diese Möglichkeit nicht hat, dann ist das Selbst-Sein eben kein Können, sondern ein Müssen. Dann ist es alternativlos. Das ist für mich auch das Problem an der Performance und am Dokumentarischen. Wenn Performer oder Experten einfach sie selbst sind, dann führt das in die Ausweglosigkeit der Identität: Endstation du selbst. Wenn die Performance oder das Dokumentarische mal als strukturelle Befreiung vom Schauspiel galten, wie befreit man dann die Performance oder das Dokumentarische nun von sich selbst? Vielleicht wieder mittels Schauspiel, der Möglichkeit des Anderen …
Was sagst du denn zur Debatte Performer vs. Schauspieler?
Performativität gegen Schauspiel auszuspielen ist eine ideologische Entgegenstellung, die ich nicht besonders klug finde, zumal sie so tut, als sei Authentizitätskritik im Theater neu. Für das gelingende Theatermoment ist nicht Performativität oder Schauspiel entscheidend, sondern Potenzialität: Nur der Performer ist für mich interessant, der mich überraschen kann. Das kann aber nur der Performer, der die Potenz hat, nicht er selbst zu sein. Umgekehrt finde ich aber auch nur den Schauspieler und die Schauspielerin interessant, die spielen kann, aber nicht muss. Das mögliche Suspendieren des Spiels macht für mich das Spiel aus. Und zwar strukturell. Das ist tatsächlich eine politische Konstruktion. Ein Spieler ist – frei nach Carl Schmitts Souveränitätsbegriff – einer, der über den Ausnahmezustand seines Nichtspielens entscheidet. Einer, der auf der Bühne für einen Moment sagen kann, I would prefer not to, ich spiele jetzt nicht, leckt mich am Arsch. Als wirkungslos empfinde ich Schauspieler, die mir das Gefühl vermitteln, dass sie spielen müssen und nicht anders können, weil ich immer sagen würde: Sie unterwerfen sich einer Erwartung, dass das so sein muss. An diese Fiktion glaube ich – um deine Eingangsfrage zu beantworten – überhaupt nicht.
Wenn du von Kollaborateuren sprichst, geht es ja in erster Linie um eine Komplizenschaft für eine gemeinsame Sache, um Euphorie für das gemeinsame Thema. Wenn ich dich richtig verstehe, geht es dir weniger um das Abschaffen von Hierarchien, wie das kollektive Arbeitsformen betreiben, als vielmehr um die Befreiung von Erwartungen und Zuschreibungen.
Ein Akteur ist ja jemand, der handelt. Ein Handelnder ist jemand, der eine Entscheidung trifft. Dazu muss man sich von Zwangsläufigkeiten befreien, indem man Nein sagt, das Schauspiel unterlässt oder Strukturen verweigert. Und nicht in der Verweigerung hängen bleibt, sondern sich die Möglichkeit verschafft, sich vielleicht tatsächlich für die Unterwerfung zu entscheiden. Nicht weil man muss, sondern weil man es kann. Das ist Politik.
Mit dem Gedanken der Potenzialität kann ich viel anfangen. Für mich ist es attraktiv, wenn es in dem Raum, in den ich mich mit meinem Gegenüber begebe, etwas gibt, das wir beide noch nicht wissen, das man ausloten kann. Diese Durchlässigkeit ist an einem Betrieb wie dem Stadttheater sehr gefährdet. Die komplexe Planung von Prozessen führt oft dazu, dass Dinge sehr früh ausformuliert sind – oder wir mit ihnen so umgehen, als wären sie es. Muss man, wenn man mehr Rechte und Freiheiten haben will, auch mehr Verantwortung tragen? Stichwort probenfreier Samstag?
Wenn es einen zu hohen Produktionsdruck gibt, wenn man wenig Zeit hat, über die Dinge in Ruhe nachzudenken, Distanz zu bekommen, das Material gären zu lassen, ist das keine gute Bedingung für eine gemeinsame Intelligenz. Arbeiten als Struktur ist etwas, das mich sehr beschäftigt, das ist Teil meines künstlerischen Prozesses. Wie entwickelt man gemeinsam eine Beziehung? Ich arbeite gerne in mehreren Etappen, dazwischen lasse ich einfach alles zwei Monate stehen. Dadurch haben alle die Möglichkeit, Distanz dazu zu bekommen, und so entstehen automatisch Informiertheit und Intelligenz. Die Leute schleppen das mit sich rum, gehen in andere Stücke, in Museen, in ihren Alltag, gehen spazieren, gucken sich die Bäume an, und irgendetwas gärt, das tut es automatisch, da muss man sich gar nicht anstrengen, das Hirn fängt von alleine damit an. Das ist eine Form der Aneignung von Zeit und Raum, manchmal sogar eine Form der Muße.
Mich interessiert sehr Michel Foucaults Gedanke der Heterotopie: Theaterräume als gesellschaftliche Gegenplatzierungen, als tatsächlich realisierte Utopien, deren gesellschaftliche Bedeutung sich verändern kann. Widerspricht dieses Potenzial in deinen Augen den realen Arbeitsbedingungen der hier arbeitenden Schauspielerinnen und Schauspieler?
Mitbestimmung in künstlerischer Hinsicht bedarf für mich auch der Distanznahme. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht auch gegenseitig ausbeuten dürfte. Aber es muss ein bewusstes Einverständnis geben, sich einer Arbeit mal zu unterwerfen, vielleicht sogar komplett, bis es masochistisch wird. Aber das muss eine freiwillige Unterwerfung sein, die auch wieder ein Moment von Spiel und von Hingabe ist. Es darf keine Zwangsläufigkeit sein, sonst ist man entmachtet. Man muss ein Recht auf die Macht haben, zu sagen, ich entscheide mich dafür, aber nur, wenn es ein Spiel bleibt. Jeder muss selbst Verantwortung für das übernehmen, was er will und kann. Da darf man keinem Klischee aufsitzen.