Theater der Zeit

I Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen

Topologie des Chors

von Ulrike Haß

Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)

Assoziationen: Theatergeschichte

Die Perser von Aischylos in der Regie von Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme von Mark Lammert im Amphitheater von Epidauros 2009Foto: Mark Lammert

Anzeige

Anzeige

Ein Chor kennt keine Selbstbehauptung. Er behauptet sich nicht als Wendepunkt des Geschehens wie Protagonisten, die wie Ödipus zum Beispiel sagen: Ich richte die Stadt wieder auf, ich nehme die Untersuchung selbst in die Hand, ich verspreche, dass ich aufs Ganze gehen werde. Dagegen hält die Figur des Chors ein unausgesprochenes Wissen bereit, das sich etwa so übersetzen ließe: Ich gehe mir selbst voraus, das heißt, dass meine Aufmerksamkeit von woanders herkommt und, ebenso, dass meine Antwort von woanders herkommt. Ich beginne nicht selbst, ich habe den Anfang nicht in der Hand. Vielmehr geschieht mir etwas, indem ich in etwas hineingerate.

Der Chor bildet einen Ort, der zugleich instabil, vielursprünglich und intergenerationell verfasst ist: verschiedene Alter gleichzeitig, ein offenes Gedächtnis und offen für Kommendes zugleich. Die Offenheit, das Offenstehende kennzeichnen diesen Ort vielleicht am allerbesten. Der Chor-Ort ist zugleich flüchtig und ausgedehnt. Als ausgedehnter Ort kann er zugleich als ein Grund verstanden werden, der sich als vorübergehender auszeichnet und daher nicht die Form des Grundlegenden oder Zugrundeliegenden annehmen kann. Der Chor-Ort unterhält besondere Beziehungen zum Grund im Sinne des Erdbodens, der nicht spricht und der sich jenseits des Sinns im Sinne von Bedeutung ereignet. Dieses Jenseits ist weder abgeschlossen noch unabgeschlossen. Es eröffnet erst die Möglichkeit der Bezugnahme jenseits einer Bedeutung. Es eignet sich daher auch zur Verwerfung jener Rede, die im Namen von (‚Grund und Boden‘ zum Beispiel) agiert und die mit den Formen des Erworbenen, des Errichteten oder auch des Grundlegenden hausieren geht. In der Beziehung von Einzelfigur und Chor-Ort ist es dieser Ort, der jeder Einzelfigur vorausgeht und sie begleitet.

Der Protagonist verwirft diesen Ort im Namen seines Egos. Wer mit dem Wort Ego die Szene betritt, nimmt seinen Ausgang beim Selbst. Er rechnet damit, dass jemand da ist, aber er ruft niemanden herbei oder fragt nach ihm, sondern er ruft sich aus. Das Wort Ego fungiert als Ausruf und ist zugleich ein ganzer Satz: Da bin ich! Ich bin es! Xerxes meldet sich auf diese Weise nach verlorener Schlacht am heimatlichen Hof in Susa bei seiner Mutter Atossa zurück.56 In diesem Ego konzentriert sich die gesamte Tragödie, nicht nur diejenige der Perser.

Dieser Gedanke lag auch der Dramaturgie des Auftritts von Xerxes in der Inszenierung der Perser von Dimiter Gotscheff im Theater von Epidauros 2009 zugrunde. Der Darsteller des Xerxes betritt das Theater mit dem Satz: „Ego!“57 Dabei steht er im Kreismittelpunkt der Orchestra auf dem sogenannten heiligen Stein von Epidauros. Diese Engführung von Positionierung und Aussage definiert, weit über diese konkrete Figur und ihre Szene hinausreichend, das Theater des Protagonisten. Sie definiert, in dieser Inszenierung von Gotscheff sehr unheimlich und direkt, nämlich vor Ort, das griechische Theater als Tragödie des Protagonisten. Der Protagonist spricht, wie dieser Darsteller des Xerxes, allein auf sich gestellt in der staunenswerten Öffentlichkeit dieses Theaters. Aber er muss dazu über den Grund der Orchestra kommen, um diesen sogleich vergessen zu machen, wenn sein erstes Wort fällt.

Der Tragödie des isolierten Protagonisten widmet Heiner Müller in seinem Gedicht ÖDIPUSKOMMENTAR die beiden äußerst gedrängten Zeilen: „Und sein Grund ist sein Gipfel: er hat die Zeit überrundet / In den Zirkel genommen, ich und kein Ende, sich selber.“58 Die Verwerfung des Grundes gleicht seiner Verkehrung. Sie gipfelt in der Figur des herausragenden Einzelnen und kreiert dessen „ich und kein Ende“. Beide Lesarten sind hier möglich: die Überheblichkeit, mit der ein Ich die Endlichkeit von sich weist, aber auch seine Isolation, die sich darin ausdrückt, dass es in unendlicher Wiederholung immer nur sich selbst zeugen kann. Hat es einmal sich selbst in den Zirkel genommen, kennt dieses Ich nur die schlechte Unendlichkeit seiner Selbst-Wiederholung. Dabei beschreibt sein Sich-selbst-in-den-Zirkel-Nehmen im besonderen Fall des Ödipus (und insofern der Fall Ödipus lange Zeit als Modell abendländischer Subjektbildung galt, auch allgemein) gleichzeitig die Figur eines inzestuösen Zirkels. In diesem Zirkel hat Ödipus „die Zeit überrundet“. Er hat die übrige Zeit, frühere und kommende Zeiten, in der Gegenwartsbehauptung seines Selbst versiegelt.59

Um dieser Einzelfigur willen entsteht die antike Tragödie und dennoch kann die Einzelfigur nicht isoliert erscheinen. Atossa, Xerxes oder Dareios sind weder für sich genommen noch als familiäres Dreieck tragödienfähig. In der Tragödie, die sich durch sie vollzieht, können sie nur auftreten, indem ihnen ein Grund eingeräumt wird, den sie aus sich heraus nicht haben bzw. über den sie als Einzelne per definitionem nicht verfügen. Auch wenn die Tragödie durch einen Protagonisten eröffnet wird, machen häufig schon die ersten Worte deutlich, dass er umgeben ist von den Vielen, die schon da sind und an die er sich richtet: „O Kinder! Kadmos’, des alten, neuer Stamm“ lautet der erste Vers von König Ödipus in der Übertragung von Kurt Steinmann. Es scheint, als könnten Protagonisten nur auftreten, indem sie den Grund, den sie als Einzelne notwendig verwerfen, gleichzeitig mitbringen. Vermutlich muss man die Logik dieses ‚Mit‘ jedoch umkehren. Einzelfiguren können nur auftreten, wenn ihnen von dem sie umfassenden Grund, von dem sie sich abgrenzen, ein Ort eingeräumt wird. Die Möglichkeit ihres Erscheinens ist abhängig von dieser Figur der Einräumung.

Dies ist die Beziehung zwischen Einzelfigur und Grund in der antiken Tragödie. Der Grund ist das den Protagonisten Umfassende, das im antiken Theater durch den Chor zum Ausdruck kommt. Der Chor steht für den geteilten Boden, der über die Einzelfigur hinausgeht, und bildet in räumlicher Hinsicht dessen Umgebung. Zumindest wählen die Tragiker diese Perspektive, indem sie den Chor in der Umgebung des Protagonisten situieren und als dessen Umgebung in der Tragödie notdürftig festmachen, indem sie ihn als Gefolge, als Dienerinnen oder Älteste etc. zeichnen. In einem etwas allgemeineren Sinn trifft auf die Figur des Chors jedoch am besten ein Ausdruck zu, von dem sich keine Singularform bilden lässt: die Leute. Der Chor, das sind Leute, die den Protagonisten erwarten und in allem mitgehen werden, bis die Sache vorüber ist.

Dennoch ist der Chor nicht zureichend beschrieben, wenn man ihn lediglich als Plural kennzeichnet und damit auf sein Erscheinungsbild im Unterschied zur Einzelfigur abhebt. Der Chor lässt sich nicht als Gruppe beschreiben. Ebenso wenig ist gewonnen, wenn man die zwölf oder 15 oder 24 Choreuten zählt, die ihn bilden. Zur Phänomenologie dieser Figur gehört zumindest, dass sie als Choreuten zugleich die Zwischenräume sind, die sie zueinander einnehmen und als bewegliche Figur untereinander permanent verschieben. Die ausgedehnte Figur des Chors bildet in zeitlicher Hinsicht eine Figur jeglichen Alters. Insofern er ein ausgedehnter Körper ist, ist er Körper im Plural der vielen kommenden und gehenden Körper. Eben das ist der Chor, dem wir in der Tragödie begegnen: Vorübergehend setzt er sich zusammen in der Teilung von Stimmen (Gesang), Teilung von Körpern (Tanz). Darüber hinaus kennzeichnet den Chor, dass er ohne Ursprung und Orientierung ist. Er ist schon da, sobald die Tragödie des großen Einzelnen anzuheben verspricht und wird nicht von seiner Seite weichen. Der Chor ist raumzeitlich wesentlich die Figur einer Einräumung. Eine Figur, die dem tragischen Protagonisten eine Stelle einräumt. Eine Figur, die seine Tragödie umgibt, die sie erträgt, solange sie dauert, und ihr einen Ort mitteilt, den sie ohne ihn nicht hätte.

Der Ort der Tragödie lässt sich nicht durch die Orte bezeichnen, an denen sie spielt (Susa, Theben oder Athen). Auch nicht durch die Namen der Protagonisten, obgleich diese als Synonyme jener Tragödien fungieren, die sich in ihrem Namen vollziehen (Antigone, Aias oder Philoktet). Ebenso wenig kann die antike Theateranlage als offene Architektur, die alles Mögliche aufnehmen kann, als Ort der Tragödie angenommen werden.

Ein Chor hat, bevor er im antiken Theater auftritt, einen langen Weg hinter sich und mehrere Transformationen, über die wir im Detail wenig wissen, auch wenn die chorlyrische Tradition des sechsten und beginnenden fünften Jahrhunderts genau nachgezeichnet worden ist.60 In den Städtischen Dionysien taucht der Chor als Migrant auf und bildet sich in der Zuordnung zum Protagonisten und seiner Bühne in neuer Weise.61 „Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht“62, vermerkt Aristoteles in seiner Poetik lakonisch. Dieser Chor ist der einzige, von dem wir Genaueres wissen. Er zieht in das Theater ein und transformiert es in einen Ort der Mitteilung, den das Theater als solches nicht bildet. Die Theateranlage kann als Raumstelle der Mitteilung gelten, jedoch nicht als ihr Medium oder ihr Ort. Dieser wird erst durch den Chor gewährleistet. Der Chor-Ort ist zugleich ungewöhnlich (er liegt nicht immer vor) und konkret. Er ist offen für jedes mögliche Widerfahrnis, mit dem das tragische Geschehen einsetzt. Der Chor zeigt wesentlich, dass er als Ort „ein Dasein davor oder daneben besitzt, in dessen Atem sich eine Abfolge zunächst rein kontingenter menschlicher Taten abspielen kann“63. Der Chor ist keine Kulisse für die Einzelfigur, sondern „der Ort, durch den etwas eintritt“: ihre Tragödie.

Roland Barthes hat seine Anmerkungen auf die Anlage des Amphitheaters bezogen, die ihn jedoch weniger als architektonischer Körper denn ihrer Struktur nach interessiert. Da Barthes von einem Begriff des Ortes ausgeht, der wesentlich eine selbstständige Umgebung der Tragödie bezeichnet, lassen sich seine Formulierungen hier ohne Verlust auf den Chor übertragen. Das griechische Amphitheater ist geeignet, das antike Theater aufzunehmen, und zeugt von ihm in allen seinen charakteristischen Strukturmerkmalen. Doch als einem stabilen, immobilen Körper kommen der Theateranlage die Aktiva der Einräumung oder des Umfassenden lediglich in Bezug auf die vielen Tausenden zu, die sich hier als Festspielpublikum (und heute vorzugsweise anlässlich von Opernaufführungen) versammeln.

Das Amphitheater entsteht, wie Siegfried Melchinger am Beispiel des Dionysostheaters in Athen akribisch gezeigt hat, an einer Raumstelle, die mit Bedacht gewählt worden ist und sich bewährt hat, die zunächst jedoch ‚nur‘ die Einrichtung einer Tanzplatte kennt. Allmählich wird diese Stelle ausgebaut und um 460 v. Chr. sogar erheblich umgebaut. Um die Cavea zu erweitern, wachsen die Sitzreihen in den Hang. Für die inzwischen für notwendig erachteten Bühnenaufbauten kommt ein Bühnenhaus aus Holz hinzu und vervollständigt das Schema. In perikleischer Zeit, etwa zur Mitte des vierten Jahrhunderts, wird mit der Versteinerung des Bühnenhauses das Schema des Amphitheaters in seiner uns noch heute zugänglichen Gestalt gleichsam zementiert.64 Dennoch kann diese Anlage, entgegen ihrer Wirkung, die sich aus Augenschein und Imagination zusammensetzt, nicht als Ort der Tragödie in Betracht gezogen werden. Es muss etwas hinkommen, um diese Anlage in den Ort der Tragödie zu verwandeln. Die Versammelten jener Zeit waren es genauso wenig, wie es die Touristenströme heute sind. Eine Publikumsversammlung als solche bildet keinen zureichenden Grund für den Auftritt von Protagonisten, die weder für sich genommen noch als solche erscheinen können. Sie bedürfen zunächst eines Ortes, der ihnen weder durch das Amphitheater noch durch die in ihm Versammelten, sondern allein durch den Chor eingeräumt wird.

Zu den wesentlichen Merkmalen des Chor-Orts zählt, dass er etwas aufnehmen kann, also offen ist, genauer gesagt physisch offen wie die antike Theateranalage selbst. Diese ist nicht nur draußen und unbedacht, sondern auch in den hinteren und seitlichen Zonen des Bühnenhauses offen und unbestimmt. Tag und Nacht, Vögel, Unwetter und Wind spielen hier ihre Rollen, genauso wie der Palast, die Polis und der Krieg. Sie kommen aus der kosmischen und gesellschaftlichen Umgebung des Theaters, aus seinen zugleich unabsehbaren und konkreten Grenzen. Wesenhaft unbestimmt und zugleich bestimmt ist hier das Bezugsfeld, in dem ich mit bin. Der Chor im antiken Theater steht nicht für das Hereinholen oder Heimisch-Machen der Tragödie seiner Protagonisten, sondern vielmehr für die „Abwesenheit einer individuellen Geschichte“, welche Barthes zufolge, „die große und notwendige Nacktheit der Tragödie definiert“65.

Der Ort, der die Tragödie umfasst und trägt, existiert aus sich selbst heraus. Er ist mit ihr verbunden und dennoch von ihr getrennt, genauso wie es das Verhältnis von Orchestra und Skene zeigt, die aneinander angrenzen, aber nicht ineinander übergehen. Der Chor-Ort handelt also auch von oder mit einer Grenze, mit einer ganzen Topologie der Diskretion bzw. der Indiskretion. Mit seinen besonderen Merkmalen entspricht der Chor-Ort genau der antiken Auffassung vom tópos als einem Ort, der keine Lage hat und auch keine Lokalität bezeichnet. Im vierten Buch seiner Physik-Vorlesungen diskutiert Aristoteles den Ort, indem er von der Frage ausgeht, was ein Ort sei.

Ort (tópos, chōra) bei Aristoteles

Aristoteles unterscheidet den „Ort“ (tópos)66 zunächst von der Form (eidos), der Gestalt (morphē) und dem Stoff (hylē) eines Körpers (sōma) sowie vom Abstand (diastēma), den er zu anderen Körpern einnimmt. Form, Gestalt (als „eine Art Begrenzung“) und Stoff können seiner Auffassung nach nicht „Ort“ sein, denn sie lassen sich nicht von einem Körper ablösen, was hingegen dem Ort möglich ist (209b 22). Der Abstand jedoch ist erfüllter Zwischenraum: Ein (Luft-) Körper, der mit anderen Körpern zwar den Platz (chōra) tauschen kann, der aber, da er Körper ist, ebenfalls nicht „Ort“ sein kann. Es wären dann, was Aristoteles unvorstellbar scheint, zwei Körper an einem Platz und mithin ohne Ort. Der Ort muss also andere Eigenschaften aufweisen als die, die auf Körper zutreffen. Aristoteles zieht daher ein weiteres Kriterium in Betracht, indem er „Ort“ mit einem „Gefäß“ (aggeion) vergleicht und ausführt, dass „Gefäß“ einen „Ort“ meint, der fortbewegt werden kann, aber kein Teil dessen ist, was im Gefäß ist. „Ort“ umfasst den Gegenstand, von dessen Form und Stoff er jedoch unterschieden und insofern auch ablösbar ist (209b 25 ff.).

Wesentlich für den Begriff des Gefäßes ist bei Aristoteles, dass „Ort“ etwas mit „Bewegung“ zu tun hat und „den Oben-Unten(-Unterschied) an sich zulässt“ (210a 3 f.). Diese zunächst eigenartig wirkende Bestimmung korrespondiert zum einen mit dem geozentrischen Weltbild der Antike, das den „Welt-Ort“ ebenfalls mit den Merkmalen des „Ortes“ beschreibt.67 Zum anderen korrespondiert sie mit der „Öffnung“ des Gefäßes, in das Verschiedenes eintreten kann, verschiedene Körper. Aristoteles diskutiert die unterschiedlichen Bedeutungen des „in“ im Ausdruck „eines in einem Anderen“ (210a 14–24). Dieses „in“ kann beispielsweise „an“ (Finger an einer Hand), „innerhalb“ (Lebewesen innerhalb einer Gattung) oder „weswegen“ (der in einem Ziel begründete Sinn einer Handlung) bedeuten. Die hauptsächliche Bedeutung dieser Facetten läuft für ihn jedoch zusammen in der Formulierung „in einem Gefäß“ (en aggeio) bzw. allgemeiner: „an einem Ort“ (en topō). Anhand der Zusammensetzung „Krug Wein“ diskutiert Aristoteles nun ausführlich die „schwierige Frage“ (210a 25), ob etwas in sich selbst sein kann oder ob es immer des Einen-in-einem-Anderen, also eines Ortes bedarf.

Die Topologie des Aristoteles läuft auf die Unveräußerlichkeit des Ortes in folgender Weise hinaus: Nur vom Ganzen, das sich aus Teilen zusammensetzt, lässt sich sagen, dass es in sich selbst sei (210a 25–33). Von einem Teil lässt sich hingegen nur sagen, dass es „vermittelt über ein Anderes“ sei. „Etwas“ kann nicht isoliert auftreten. Für ein Teil gelten die Fragen „was“ und „worin“, die es einem „Anderen“ zuteilen. Dabei tritt die Eigenschaft, Teil zu sein, erst in der Zusammensetzung mit „etwas“ hervor. So sind Krug (amphoreus) und Wein (oinos) „für sich genommen nicht Teile, zusammengenommen aber wohl; wenn sie dann also Teile sind, kann (dies Gebilde) selbst in sich selbst sein“ (210b 2–4).

Ein unmittelbarer Bezug, sodass etwas als es selbst in sich sei, ist logisch undenkbar. Es müsste dann der Krug sowohl Gefäß als auch Wein und der Wein sowohl Wein wie auch Krug sein (210b 11–13). Vielmehr gibt es ein „ineinander“, in dem zwei Grenzen eine Rolle spielen. Der Krug begrenzt den Wein, er ist sein Aufnehmendes, sein Umfassendes, seine Umgebung. (Aristoteles stellt nebenbei, nicht im Sinne eines ‚harten‘ Arguments, auch noch die Frage, ob „etwas, dessen Naturbeschaffenheit doch aufnehmend ist, in sich selbst sein kann“, 210b 20.) Aber da der Krug nichts von dem an sich hat, was in ihm ist, hat das von ihm Umfasste selbst auch eine Grenze. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sowohl der Krug als auch der von ihm umfasste Wein sich voneinander lösen können, also nur zueinander Teile bilden und nicht als solche sind. Das Umfasste, deutlich vom Umfassenden abgesetzt, kann den Ort wechseln, während das Umfassende tendenziell erhalten bleibt – jedoch nur der Tendenz nach, denn es selbst ist auch beweglich und veränderlich. Das Umfassende bildet also nicht seine äußere Grenze, sondern hat seine eigene Grenze. Die „beiden Grenzen“ (211b 11) berühren einander und sind doch deutlich voneinander abgesetzt. Der Ort ist „die Grenze des umfassenden Körpers (insofern sie mit dem Umfassten in Berührung steht)“ (212a 6). Der Ort ist diese Berührung zweier Grenzen.

Der Ort ist also nicht die Umgebung, die sich wechselhaft aus allen möglichen Körpern zusammensetzt, sondern das Umgebende, das an der äußersten Grenze des Umfassten einsetzt und insofern mit dem Umfassten zusammenhält, ohne sich mit ihm jedoch zu verbinden oder zu verbünden. Vielmehr teilt es sich dem Umfassten in Form einer Mit-Teilung (die hier geradezu zwingend mit Bindestrich markiert wird) seiner Grenze mit.

Werner Hamacher hat dem aristotelischen tópos-Denken unter dem Titel „Amphora“ einen Essay gewidmet, der sich nicht von ungefähr in einem Band zum Tanz Ensemble Modell findet, das die Choreografin Wanda Golonka in Frankfurt am Main entwickelt hat. Hamacher beschreibt die aristotelische Denkfigur des tópos sehr genau und plastisch: „Als Umgebung ist der Ort ein Gefäß, eine Vase, ein Krug, eine Amphore (209b 24; 210a 30; b 10; b 15); aber nicht als Körper kommt hier die Amphore in Betracht, auch nicht einfach als Grenze, sondern als die äußerste Grenze der Innenwand eines Behälters, dessen Umfang mit dem des Enthaltenen gleich ist, der mit ihm verbunden und dennoch von ihm abgelöst ist. So ist jedes Ding und jeder Teil eines Dings in seiner Umgebung, an seinem Ort, als in einer Amphore enthalten. Der Ort ist also an der äußersten Grenze der Dinge gelegen, dort, wo sie die äußerste Grenze der sie umgebenden Dinge berührt – dabei deutet der Ausdruck äußerste oder erste Grenze (peras proton) an, dass jede dieser Grenzen von Aristoteles als in sich differenziert gedacht wird … [Der Ort] muss also die ‚Grenze‘ zwischen ihren beiden Grenzen und somit dasjenige sein, was diese sowohl voneinander scheidet wie miteinander verbindet.“68

Im Unterschied zur „Umgebung“ ist für Aristoteles der Ort das „Umgebende“ eines Körpers und gleichzeitig das von ihm „Ablösbare“ und Abgetrennte, sodass die Differenzierung zweier Grenzen ins Spiel kommt, die als „Doppelgrenze“ das ist, was die Körper und ihr Umgebendes „zueinander verhält und auseinander hält, ihr Verhältnis“.69 Es ist darüber hinaus noch auf ein weiteres Merkmal einzugehen, das für die gesamte Physik-Vorlesung des Aristoteles grundlegend und das auch in Bezug auf die Frage des Ortes gültig ist: Die Frage des Ortes stellt sich ihm grundsätzlich in Bezug auf bewegliche, bewegte Körper (208b 11). Von daher erhält die Frage der Ablösbarkeit ihr besonderes Gewicht. Von daher wird aber auch die Frage der Möglichkeit der „Leere“ als ein „Dasein von Ort […], aus dem Körper herausgenommen ist“ (208b 26 f.) von Aristoteles vehement verneint.

Die Betonung der Bewegung steht im engen Zusammenhang mit der Frage nach der Lage des Ortes, mit der Frage, ob ein Ort isoliert vorkommen kann, ob er irgendwo liegt, möglicherweise „leer“ ist, mit der Frage also, wo überhaupt ein Ort sein kann. Aristoteles hält dazu fest: Ein Ort ist „irgendwo, nicht allerdings als an einem Ort, sondern (so) wie die Grenze an dem Begrenzten; denn nicht ‚alles Seiende‘ ist an einem Ort, sondern nur der der Bewegung fähige Körper“ (212b 28 f.). Nur der bewegbare Körper, als solcher begrenzt, bedarf also der Mit-Teilung der Grenze durch das Umfassende. So ist zum Beispiel „jeder im Sinne der Fortbewegung oder des Wachsens veränderbare Körper ‚irgendwo‘“ (212b 7 f.). Die Frage nach dem Wo dieses Irgendwo, macht die Betrachtung der Welt (ouranos) als Ort notwendig, denn in der Welt ist alles. Die Welt ist also auch Ort. Jedoch nicht ‚einfach so‘, sondern nur ihr „äußerster Rand, der in Berührung steht mit dem bewegbaren Körper“ (212b 18) ist der Welt-Ort. Der Welt-Ort zeichnet sich, streng geozentrisch, durch eine Mitte und den Himmel als „Rand der Kreisbewegung“ aus, wobei die Himmelssphäre jedoch kosmologisch von keinem anderen Körper mehr umfasst wird und daher auch „nicht mehr in einem Anderen“ (212b 22) begrenzt, sondern unbegrenzt ist. Beim Welt-Ort verhält sich nun die „Mitte des Weltganzen“ als „unten“, wohin die schweren Körper streben, während sich der Himmel „oben“ befindet, wohin sich die leichten Körper bewegen (212a 24–30). Die Frage des Ortes in der Physik-Abhandlung des Aristoteles betrifft also ausschließlich Fragen des beweglichen, vitalen Lebens, das wächst und/oder seine Aggregatzustände zu wechseln vermag. Zusammengesetzt aus den vier Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft) sind alle natürlichen Körper – und das sind diejenigen Körper, die Aristoteles in seiner Physik betrachtet – in einer permanent bewegten, beweglichen Verwandlung begriffen, gehen von der Potenzialität in den Akt über und umgekehrt. Die Frage, was demzufolge der Ort eines Körpers sei, ist zuerst eine Frage des Worin. Die Frage nach dem Wo dieses Worin führt zur kosmologischen Ordnung des Welt-Ortes, mit dem sich Unterschiede auftun. So ist der Himmelskörper wohl ‚seiend‘, aber ohne etwas, das ihn umfasst, ist er selbst ohne Ort. Das heißt, ohne Mit-Teilung einer Grenze ist der Himmel (am äußersten „Rand der Kreisbewegung“) das ewig Unbewegte und Unbegrenzte,70 während natürliche Körper und Lebewesen durch ihr „Immer-woanders-Sein“ (219b 23) davon grundlegend unterschieden sind. Die „Ortsbewegung“ erfolgt anhand eines Sich-fort-Bewegenden (219b 29). Die Bewegung hingegen wird von der Zeit eingefasst ähnlich wie etwas, das an einem Ort ist, von diesem Ort umfasst wird. In der Zeit bildet „das Jetzt“ die Grenze von Zeit, indem es vergangene und zukünftige Zeit der Möglichkeit nach teilt und verknüpft. Insofern ist das Jetzt als trennendes immer ein anderes, als zusammenknüpfendes jedoch immer dasselbe (222a 14f.).

Man könnte also von einer konzentrischen Zeitauffassung sprechen und in Analogie dazu von einer konzentrischen Fassung des Ortes, welche eben mit der Ausschließung der Leere korrespondieren würden, mit der Vorgabe eines geschlossenen Systems ständig werdender, bewegter Wirklichkeiten. Doch diese Sichtweise scheint mit einem naiven, auf Kontinuität fixierten Vorurteil einherzugehen.71 Sie übersieht die aristotelische Obsession für die Doppelgrenzen, die das zeitlich und örtlich Umfassende von vitalen, beweglichen, bewegten Körpern aufweist. Auf diesen Punkt weist auch Hamacher am Beispiel des Orts hin: „Der Ort kommt nämlich ohne die Implikation der Leere nicht aus, solange er als Komplexion zweier Grenzen verstanden wird, die zusammen und dennoch geschieden sein und also einen freien Ort, eine Leere, eine Öffnung lassen müssen.“72 Darüber hinaus korrespondiert diese Leere als Lücke oder Loch in der Grenze mit der überragenden Betonung ständiger Wandlungen und Veränderungen, die sich tendenziell regelmäßig, aber eben nicht vollständig regelmäßig vollziehen, sodass sie der Spur einer Spaltung bedürfen und ihre Kontingenz ermöglichen.

Die Öffnung ist das wesentliche Merkmal der Metaphern, die Aristoteles für den Ort einsetzt: Amphore, Gefäß, Vase, Schale, Krug. Es handelt sich um dieselben Hohlmedien, die in der griechischen Antike als Träger für bildhafte Darstellungen bevorzugt wurden (und zwar für alle Bilder, die bewegt werden sollten). Nur als zugleich Umfassendes und Auseinanderhaltendes ist der Ort Mit-Teilung einer Grenze. Dieses Zugleich ist eines der Möglichkeit nach, gespalten und offen in seiner Mitte. Das örtliche Hier ist von derselben analogen Spaltung durchzogen wie das zeitliche Jetzt: Als Trennendes und Abgelöstes ist es immer ein anderes. Als Zusammenknüpfendes, Zusammenhaltendes ist es Mit-Teilung der Grenze des hier und jetzt Umfassten. Das heißt jedoch, dass Hier und Jetzt niemals vollständig hier und jetzt sind. Sie sind durchzogen von einer Spaltung, die für sich genommen kein Gesicht hat, keine Materialität annehmen kann, keine Qualität aufweist und keine Bewegung ist. Aristoteles kann die Leere daher nicht zum Gegenstand seiner Theorie machen, aber er räumt ihr in der Architektur seiner Begriffe und in der Wahl seiner tragenden Metaphorik dennoch eine Stelle ein.

Dabei zwingt die Voraussetzung eines geschlossenen Universums paradoxerweise zur Annahme einer grundsätzlichen A-Linearität, während Gedanken einer linearen Entwicklung oder gleichmäßigen konzentrischen Bewegung kausallogisch ausgeschlossen werden müssen. Die zentrale Figur der Bezugnahme, des Umfasstwerdens, des Verhältnisses ist eine Aussage der Physik des Aristoteles über natürliche Körper (zu denen er auch die Seele zählt) in einem endlichen Kosmos – und keine Aussage der Metaphysik oder Politik. Die Endlichkeit erzwingt die Verhältnisnahme, während die Fokussierung permanenter Veränderung und Bewegung die Ablösbarkeit dessen erzwingt, was zueinander ins Verhältnis tritt. Es ist daher kein unmittelbarer Bezug denkbar, genauso wenig wie etwas selbst in sich selbst sein kann. Das In-sich-selbst-Sein wird nur dem temporären Zusammen-gesetzt-Sein zugesprochen. Es gibt in genauem Sinn daher auch kein Mit-Sein, sondern nur ein Mit-Geteiltes: das Mit zweier voneinander ablösbaren Grenzen, die sich berühren. Öffnung des Mit als Ohne. Kein Zwischenraum und keinem zugehörig. Diese leere Nabe, um die sich Umfassendes und Umfasstes nicht konzentrisch bewegen, sondern ohne Zentrum, tendenziell, unregelmäßig und kontingent – dies gibt Aristoteles mit dieser in sich selbst geschiedenen Grenze als Ort zu denken.

Chor-Körper

Die Bühne, die mit dem Protagonisten entsteht, beansprucht sich im Jetzt und Hier. Dieser Zeitort ist nicht gegeben, sondern zuerst nur ein Anspruch. Es ist allererst anzugeben, wie die Bühne überhaupt zu diesem Ort werden kann. Denn „Ort“ ist die Bühne, um mit Aristoteles zu sprechen, nicht „einfach so“, sondern nur an ihrem äußersten Rand und in der Berührung mit einem beweglichen, bewegbaren Körper. Um die Bühne als Ort anzugeben, bedarf es also eines in oder an einem anderen.

Für den bewegbaren Körper soll hier zunächst der Protagonist gelten, der Auf- und Abtritte kennt, Ortsverschiebungen, weite Reisen, Abkehr und Wiederkehr und dem daher insgesamt eine episodische Form entspricht. Genauso wenig wie eine Episode kann dieser Protagonist etwas als er selbst in sich sein. Er ist Bruchteil eines unanschaulichen Kontinuums, das Aristoteles als etwas „Zusammenhängendes“ beschreibt, dessen Eigenschaft darin besteht, ein „immerfort Auseinandernehmbares“ (231b 16) zu sein. In der körnigen Struktur dieses Kontinuums ist eine Einheit als solche undenkbar. Als einheitlich erscheinen kann ein Bruch-Teil nur im Verhältnis, nur in oder mit einem Zusammenhängenden, am „Rand und in Berührung bei Zusammenhängendem“ (231b 18), das heißt, es muss als Verhältnis erscheinen. Als Verhältnis, in oder mit, am Rand und in Berührung. Erst in oder an einem anderen entsteht der Ort der Bühne.

Als dieses andere fungiert der Chor, der in seinem Status als Figur dem Protagonisten als Figur gleichgestellt ist. In diesem Sinn notiert Aristoteles in der Poetik, dass man den Chor „ebenso einbeziehen [muss] wie einen der Schauspieler“73, also wie eine Einzelfigur. Darüber hinaus sind die Strukturmerkmale dieser beiden Figuren völlig verschieden. Chor und Protagonist sollen zunächst als etwas Zusammenhängendes beschrieben werden, also in der Art und Weise, wie sie die Bühne bilden. Da sie jedoch etwas Zusammenhängendes nur als ständig Auseinandertretendes sind, interessiert in einem späteren Schritt vor allem der Chor-Körper. Das Auseinanderlegen dieser Schritte wird dadurch notwendig, dass der Chor in der Zusammensetzung mit dem Protagonisten nicht als Körper akzentuiert erscheint, sondern als die Figur der Einräumung, die Figur des Umfassenden im Verhältnis zum Umfassten, kurz: als der Ort, vergleichbar einem „Gefäß“, in dem der Protagonist als ein anderer sich fasst. In ihrer Zusammensetzung tritt also ihre Eigenschaft, Teil zu sein, hervor. Da jedoch ebenso die Ablösbarkeit beider vorliegt, da beide an sich begrenzt sind und mit dem Begriff der (Doppel-)Grenze der zentralen Definition eines Körpers bei Aristoteles entsprechen, lässt sich der Chor auch als Körper begreifen, der seinen Ort in der Berührung mit einem anderen Umfassenden hat, welches nicht der Protagonist sein kann. Da die Ablösbarkeit für alle bewegbaren, veränderlichen Körper grundlegend ist und die Mit-Teilung ihrer Grenze an oder mit einem anderen immer nur vorrübergehend sich ereignet, trägt sich der Chor im Zusammenhang mit dem Protagonisten auch als Körper ein. Dies geschieht zwar nur sehr latent, bildet jedoch vermutlich die Ursache dafür, warum der Chor derart schnell als Figur unkenntlich wird und schon Euripides ihn nicht mehr konstituierend, sondern (musikalisch) illustrierend verwendet.

Gegenüber der episodischen Struktur des Protagonisten zeichnet sich der Chor dadurch aus, dass er schon angefangen hat. Er tritt nicht auf. Er zieht in die Orchestra ein und eröffnet damit das Theater. Mit seinem Auszug wird es beschlossen.74 Prologe, wie etwa der berühmte Wächter-Monolog auf dem Dach des Palastes zu Beginn der Orestie, finden in Gegenwart des Chors statt. Warum lässt sich das aussagen oder behaupten?

Die Struktur des teilbaren Zusammenhangs findet sich in der Anlage der antiken Bühne wieder, die zwischen der Orchestra für den Chor und der Skene mit Proskenium für die Protagonisten unterscheidet. In dieser Konstellation zeichnen sich Chor und Orchestra durch eine Lage des ‚davor‘ und ‚daneben‘ aus. Dies gilt sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. In räumlicher Hinsicht liegt die Orchestra in Bezug auf das Bühnenhaus davor oder daneben, in Bezug auf die Sitzreihen der Cavea verhält sich die Orchestra anliegend. Das simple Dazwischen, das vom Publikum her gedacht ist und August Wilhelm Schlegels bekannte Formel vom Chor als dem „idealisierten Zuschauer“ (1846)75 fortschreibt, besitzt hingegen, wenn wir einen modernen Begriff vom Zuschauer unterstellen, eine zu stark zentrierende Einfärbung. Sie appliziert eine moderne Bühnen- und Wahrnehmungsform auf das antike Theater und geht über die verstörende Asymmetrie seiner Bühnenordnung hinweg. In zeitlicher Hinsicht bildet nicht das erste Wort oder ein wie immer imaginierter ‚erster Auftritt‘76 den Beginn des Bühnengeschehens. Vielmehr benötigt das Geschehen (ebenso wie seine Wahrnehmung) einen Anstoß. Es benötigt etwas, das es in Gang setzt. Etwas, das auffällt oder zustößt. Etwas, das Vergegenwärtigung (und Wahrnehmung) allererst ermöglicht. Dieses Davor eines Anstoßes ist im antiken Denken der Konstellation, ihrer mitgeteilten Grenzen und deren Öffnung, derart präsent, dass es auf allen Ebenen vorkommt.

Der Anfang ist, zumal in zeitlicher Hinsicht, immer schon Antwort. Er reagiert auf etwas, das von woanders herkommt und das davor und zu früh ist, aber schon angefangen hat, schon eine Verwicklung bildet, in die die Figuren, das Geschehen, die Körper, die Wahrnehmenden eingelassen sind, sodass es also mit ihnen schon angefangen hat, bevor es (das Theater, die Tragödie) anfängt. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass der Begriff für ‚Schauspieler‘ im Griechischen hypokrites lautet, das heißt ‚Antwortender‘.

Das Davor eines Anstoßes bezeichnet Bernhard Waldenfels als „Widerfahrnis“ und erläutert diese Figur folgendermaßen: „Widerfahrnisse, die […] in die bestehende Ordnung einbrechen, haben zur Folge, dass wir uns selbst voraus sind, dass wir älter und zugleich auch jünger sind als wir selbst.“77 In Bezug auf die Wahrnehmung kann dieses Widerfahrnis eine geringfügige Zeitverschiebung im vertrauten Sehen und Hören sein, eine Unschärfe, die plötzlich und überraschend auftritt (zu früh). In Bezug auf die Körper, die hier als Wahrnehmende begriffen werden, ist es die pathische Berührung: Etwas, das den Körper angeht, hat seine Temperatur verändert. Wahrnehmung, Erinnerung werden geweckt – ganz so, wie der Wächter im Prolog der Orestie die erste Tageshelle begrüßt und dann (‚nach‘ der Parodos des Chors) Klytaimnestra weckt. In Bezug auf das Geschehen bezeichnet Pathos eine sachte Mitleidenschaft, etwas, in das die Figuren schon involviert sind und hineingeraten: die Pest in Theben, der bevorstehende Angriff, die drohende Rückkehr (Agamemnons) usw. Das Ereignis ist schon im Gang, wenn das erste Wort fällt (zu spät). Der Beginn des Bühnengeschehens liegt also, in übertragener Weise gesprochen, notwendig daneben. Das Geschehen setzt sich von seiner Peripherie her in Gang, breitet die Wirkungen des Ereignisses aus, untersucht und erwägt sie, während sich die Protagonisten darin mit unerwartbarem Ausgang verstricken werden, eingespannt in eine Bewegung „zwischen Pathos und Response“78. Der Response kommt jedoch immer und uneinholbar zu spät, wie jede Antwort.

Der Chor ist durch diese Figur des Schon-angefangen-Habens in allen seinen Aspekten geprägt. Er ist vom Widerfahrnis schon angesteckt. Er ahnt, erwartet und zittert vor Aufregung wie die jungen Frauen in Sieben gegen Theben. Er weiß, worum es gehen wird. (Niemals muss er ‚zuerst informiert‘ werden.) Er figuriert als Peripherie, durch die sich das Geschehen in Gang setzt. Er ist in jeder Beziehung schon da, bevor der Protagonist das Wort ergreift.

Sein erstes Chorlied übernimmt die Funktion einer Einführung im Wortsinn. Dabei figuriert der Chor nicht in erster Linie als Chronist, der Unkundigen möglichst präzise und vollständig die Vorgeschichte erläutert. Vielmehr trägt er zusammen, was (von vielen) gesehen und gehört wurde. Er ist wesentlich die Figur eines Hörensagens. Im Unterschied zum Boten stellt er einen unzuverlässigen Zeugen dar, der, wie der Chor der Greise im ersten Chorlied der Orestie (Agamemnon) zum Beispiel sagt: „Das Weitere sah und sage ich nicht“ (V. 248, Staiger). Nicht die Augenzeugenschaft ist seine Funktion, sondern das Kompilieren vieler gehörter, gesehener, gewusster Dinge, die zur erlebten Vergangenheit und in das Umfeld jenes Widerfahrnises gehören, durch das der Chor aufgeschreckt wurde, sich zusammenrottete und jetzt, hier, „in Erwartung“ (V. 262) gespannt ist, den Protagonisten zu sehen. Klytaimnestras Rede setzt unmittelbar darauf ein (V. 264). Die beiden Figurentypen sind damit, auf der Ebene der Typologie, vollständig. Aus ihrem Zusammenhang geht der Ort der Bühne hervor. Miteinander zusammenhängend und dennoch voneinander ablösbar, setzen sie eine Dynamik in Gang, in der ein Chor vor allem für die Struktur einer originären Vorgängigkeit und Nachträglichkeit einsteht, während jedoch das Zu-Früh oder Zu-Spät ebenso zum Motor des gesamten Geschehensgeflechts wird, in dem es sich vervielfältigt. Ebenso wie die damit verbundene Struktur des Erduldens, Erleidens (zu früh) sowie des Agierens und Handelns (zu spät).

Diese Struktureigenschaften der Chor-Figur in Betracht ziehend, ist der Chor die Figur im antiken Theater, die schon angefangen hat, bevor das Geschehen einsetzt und die im genaueren Sinn nicht auftritt, weil sie schon da ist. Abweichende Chronologien in den überlieferten Texten spielen nur im Sinn einer künstlerischen Variation mit dieser grundlegenden konstellativen Topologie und bestätigen sie dadurch.

Konstellation vs. Anschaulichkeit

Von der Physik zur Kunst als Gegenstand der aristotelischen Poetik: Diese Bereiche liegen in der aristotelischen Diskussion nicht so weit entfernt voneinander … In der Poetik geht es um Mimesis, die ins Deutsche mit dem unscharfen Begriff der „Nachahmung“ (Schleiermacher) oder gar „Nachbildung“ übertragen worden ist.79 Die damit verknüpfte leidige Frage „wovon?“ wird von Platon und Aristoteles unterschiedlich beantwortet. Bei Platon gilt die Mimesis einer ersten Wirklichkeit der vollkommenen Ideen, die von der sinnlich wahrnehmbaren Welt verschieden sei. Mimetische Akte sind jedoch von ‚dieser‘ Welt, endlich und materiell. Insofern sie nun Unendliches und Immaterielles nachahmen, handelt es sich zwar um eine produktive, jedoch stets nur annähernde und unvollständige Mimesis. Platons Kritik setzt bei der künstlerischen Mimesis ein, die er in die Nähe der Kopie rückt: Künstlerische Artefakte würden die wahrnehmbare Welt nachahmen. Daher stünde ihrer Mimesis nur ein minderwertiger, sekundärer oder gar tertiärer Rang zu. Aristoteles setzt demgegenüber in seiner Poetik mit einer umfassenden Rehabilitierung der Mimesis ein, indem er sie als ein poetologisches Konzept ausarbeitet. Die Relation von Mimesis und (Ideen-)Wirklichkeit wird in seiner Tragödientheorie ausgespart zugunsten der Zusammensetzung „Nachahmung von Handlungen“.

Im sechsten Kapitel seiner Poetik geht Aristoteles denkbar klar darauf ein, worauf sich sein Begriff der Mimesis bezieht: Sie ist „nicht Nachahmung von Menschen“80. „Die Nachahmung von Handlungen ist der Mythos“ und unter Mythos versteht Aristoteles die „Zusammensetzung der Geschehnisse“ (19). Weite Teile seiner Poetik verwendet Aristoteles darauf, unter dem Aspekt der „Wahrscheinlichkeit“ zu erläutern, wie das Verhältnis von künstlerischer Freiheit im Umgang mit dem rhizomatischen Material des Mythos zu gestalten ist. Es gibt die notwendige Freiheit im Umgang mit dem Mythos, durch die sich die Dichtkunst von der Geschichtsschreibung unterscheidet und etwas „Ernsthafteres“ als diese darstellt. Denn die Dichtkunst teilt nicht das „Besondere“ mit, das historisch geschehen ist. Ihr Gegenstand ist vielmehr das „Allgemeine“ (29), das der Möglichkeit und Notwendigkeit nach geschehen könnte: also das potenzielle und daher nicht abgeschlossene oder abschließbare Geschehen. In Bezug auf den Mythos, den Aristoteles als das „Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie“ (23) und als ihr „Ziel“ (21) bezeichnet, gilt darüber hinaus jedoch, dass die tragische Fabel ihm in der „Zusammenfügung von Geschehnissen“ (23) mimetisch treu zu bleiben hat. Was sie mithin nicht verändern darf, ist die Konstellation des überlieferten Mythos. So sei es zum Beispiel unabdingbar, „dass Klytaimnestra von Orest getötet wird und Eriphyle von Alkmeon“ (43).

Der Handlungsbegriff bezieht sich damit auf eine Konstellation, auf eine Zusammensetzung oder einen Zusammenhang von Figuren und Geschehnissen, denen tragisches Potenzial innewohnt und die als solche geeignet sind, eine tragische Wirkung hervorzurufen. Der Aspekt der Konstellation ist derart maßgeblich, dass ihre tragische Wirkung, wie Aristoteles sagt, „auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande“ kommt (25). Des Weiteren ist sie im Fall einer Aufführung unabhängig davon, ob jemand sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen. Die tragische Wirkung erreicht auch denjenigen, der eine Aufführung des Ödipus zum Beispiel nur hört (43). Im Zentrum seiner Tragödientheorie steht bei Aristoteles ein Begriff der tragischen „Konstellation“ (an dessen Stelle Fuhrmann durchgängig das Wort „Fabel“ verwendet), die den Artefakten überlieferter Mythen zu entnehmen ist. Aristoteles’ Begriff der Mimesis bezieht sich somit weder auf eine ideelle Wirklichkeit noch auf die phänomenale Welt oder empirische Wirklichkeit von Menschen, sondern auf mythisch verbürgte Handlungen, von denen Erzählungen und Berichte vorliegen.

Der Wirklichkeitsbezug ist derart komplex gebrochen, dass die plakative Vereinfachung des aristotelischen Konzepts, das seit der Zeit Lessings und Schleiermachers unter dem Kürzel der künstlerischen Mimesis als Nachahmung der Natur (im Sinn einer vermeintlich objektiv vorliegenden äußeren bzw. beobachtbaren Natur) tradiert wird, als mutwillige Entstellung angesehen werden muss.81 In Betracht der hohen Artifizialität seines Mimesis-Konzepts wird jedoch einsichtig, warum für Aristoteles die Kunst der poetischen Nachahmung zur technē zählt. Sie gehört, wie die Rhetorik, zu den Mnemotechniken. Sie ist die Übertragung und Weitergabe von Fragen, die für Aristoteles in der Gefügtheit des Zusammengefügten nisten. Aus ihrer Gefügtheit resultiert ihre Möglichkeit zu jähem Umschlag (peripetie).

Für Natur steht bei Aristoteles der Begriff physis. Wie schon die Diskussion seines tópos-Konzepts gezeigt hat, wird Natur/physis bei Aristoteles wesentlich als ein prozesshaftes Geschehen werdender Körper und metamorphotischer Kräfte begriffen. Dinge, die eine physis haben, folgen einem schaffenden, hervorbringenden Prinzip (poiēsis). Dieses Prinzip ist es nun, das die Kunst/technē (also eher die Kunstfertigkeit oder auch der Kunstgebrauch) nachahmt, dem sie nacheifert (mimeitai) bzw. dem gegenüber sie sich ähnlich (homoios) verhält. Mit einem Wort, die technē ähnelt der Natur in ihrer Möglichkeit, etwas hervorzubringen, etwas zur Erscheinung zu bringen (entelecheia), etwas zu verwirklichen (energeia) oder etwas zu produzieren. Natur/physis und Kunst/technē stehen also weder in einem Verhältnis des Vergleichs noch in einem abbildenden Verhältnis zueinander. Vielmehr gilt, wie Hans Blumenberg in Bezug auf Aristoteles bündig festhält: „Natur und ‚Kunst‘ sind strukturgleich“82.

Aristoteles entwirft in der Poetik ein eher energetisches Konzept. Lediglich dem, was von Kunst/technē analog zu Natur/physis verwirklicht wird, kommen die Qualitäten des Erscheinens und der Anschaulichkeit zu, die Aristoteles jedoch, anders als Platon, nicht gefährlich scheinen. Vielmehr geht er sofort zur Wirkung solcher Anschaulichkeit über und entwickelt sein Konzept der katharsis. Die Anschaulichkeit bleibt zwar die Leitvorstellung der künstlerischen Mimesis (so wird in der Poetik gesagt, der Tragödiendichter solle hinsichtlich seiner sprachlichen Darstellung von Menschen wie die Maler [grapheis] verfahren83), erfährt aber keine eigene theoretische Aufmerksamkeit. Diese gilt vielmehr der Wirkung und den kompositorischen Verfahren (technē), die geeignet sind, sie hervorzurufen.

Platon lehnt die anschauliche Wirkung der Tragödie ab, die ihm verstandesmindernd und daher verwerflich erscheint. Aristoteles konterkariert Platons Auffassung nicht auf der Ebene der Anschaulichkeit, sondern durch einen Registerwechsel im Sinne seiner psychisch-energetischen Konzeption der Reinigung (katharsis). Nicht die anschauliche, sondern die kathartische Wirkung interessiert Aristoteles. Jene reinigende Wirkung, die mit den Affekten spielt und diese gleichsam entlädt. Diese Wirkung bezieht sich jedoch nicht auf vorliegende, sich innerlich abspielende psychische Vorgänge in therapeutischem Sinn, sondern stellt diese Affekte her, denen sie zur Entladung verhilft. Sie erzeugt sie, sie entstehen mit ihr und sind Wirkungen ihrer richtig verstandenen und eingesetzten technē: Affekte haben ihren Anlass in einer begrenzten „Handlung“ (25) von bestimmter Ausdehnung und Anordnung.84 Eine fortwährend spürbare Anwesenheit des Gedankens an körperlich Wahrnehmende durchzieht die aristotelische Wirkungsdiskussion. Bei Aristoteles bezieht sich die kathartische Wirkung auf Körper, auf deren Erregung und Öffnung, auf deren ‚Reinigung‘ mittels einer Entladung der Affekte, welche jenseits des Ich spielt. Mit einem Wort: auf deren Heilung nicht nur im übertragenen Sinn. Als „Heilung der Organe“85 reflektiert Michel Serres die Wirkung, die er bei seinem Besuch des Theaters in Epidauros empfand. Denken wir an dieser Stelle auch an die Analogien, die Aristoteles zwischen Kunst/technē und Natur/physis beobachtet: Sie beziehen sich auf Möglichkeiten zur ausgleichenden Selbstregulierung und seien in ihrer Wirkung mit einem Arzt vergleichbar, der seine Heilkunst auf sich selbst anwendet.86

Kunst/technē und Natur/physis: Beide sind eingebettet in eine Sphäre des Hervorbringens, des Herstellens, des Prozessualen. In der Technik wie in der Natur sind Zwecke und Fehler am Werk, sind Körper und Artefakte geöffnet, lassen sich übertragen, vollziehen Wechsel, Ortsbewegungen und Zeitverschiebungen. Zwar gibt es unterschiedliche Bereiche und Arten des Hervorbringens, aber in der Hervorbringung einer Wirkung verhalten sie sich gleich und erscheinen keinesfalls isoliert voneinander. Beide zeigen und teilen diese Eigenschaft im Übrigen mit den Körpern der Darsteller im antiken Theater. Doch in der Art, wie sie zeigen, unterscheiden sie sich wiederum.

Das Zeigende der Tragödie soll hier als Handlung begriffen werden. Die tragische Wirkung soll, Aristoteles zufolge, vom Umfang einer „geschlossenen und ganzen Handlung“ (25) abhängen; diese soll eine „bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt“ (27), sodass sie also erinnert werden kann und sich der Empfindung einzuprägen vermag. Die Tradition hat sich vollständig auf diesen Abschnitt zur Handlung gestützt und ihn zur vermeintlich aristotelischen ‚Lehre von den drei Einheiten‘ umgeformt. Demgegenüber ist die Handlung als Konstellation, als Zusammensetzung und als Konfiguration, für lange Zeit vergessen worden. In jüngster Zeit hat Marita Tatari indessen die Handlung als das sich als solches ausstellende und ereignende Drama, das Kunstwerk als Handlung, begrifflich neu erarbeitet. Gestützt auf eine eigensinnige Lektüre von Hegels Analyse der antiken Tragödie, geht es Tatari darum, statt wie üblich die Handlung „auf die Subjektivität der Helden zu beziehen, statt zu analysieren, inwiefern die Helden durch die Handlung zur Einsicht in die Notwendigkeit ihres Untergang kommen und dadurch eine die antike Welt übersteigenden Subjektivitätsform vorwegnehmen […], müsste als Handlung die gesamte Sinnlichkeit dieses Kunstwerks in ihrer Entfaltung gedacht werden“87.

Mit anderen Worten: Es sind die Konstellationen und sinnlichen Konfigurationen, welche die Handlung (als Kunstwerk) zur Anschauung und Empfindung kommen lassen. Nur insofern die Tragödie um der Einzelfigur willen entstanden ist, hängen ihre Anschaulichkeit und Schaubarkeit in besonderer Weise mit dem Auftritt der Einzelfigur zusammen. Aber nichts und niemand kann isoliert auftreten. Daher hängt an der Konstellation, dem Mit-Erscheinen, alles: Der Erscheinungsraum und die Verhältnisnahmen treiben Ausstellung und Teilnahme, wie Tatari die beiden, ineinander verschlungenen Modi der Entfaltung bezeichnet, immer wieder neu hervor. Auch diese sehr weite Formulierung für die Entfaltung (im Sinnlichen) hat ihre Grundlegung im Chor, der sich ausstellend und teilnehmend zuträgt und anders sich nicht zutragen kann. Ausgezogen aus ehedem geheiligten Landschaften, verschafft er der Tragödie keinen Boden, sondern geht zur Tragödie (als Handlung) über. Noch einmal mit den Worten Tataris: „er formt eine Bühne“88.

Schon-da

Das Schon-da des Chors bezieht sich auf die dauernde Gegenwart anderer, nicht aktueller Gegenwarten, auf vergangene ebenso wie auf zukünftige. Demgegenüber behauptet sich die Einzelfigur in der aktuellen Gegenwart als eine Erscheinung, wie sie so noch nie dagewesen ist, ist allerdings unfähig, als solche oder allein zu kommen. Sie kann nur am eingeräumten Ort auftreten, getragen und berührt von einem mit erscheinenden Schon-da, das sich wiederum von ihr berührt zeigt. Der Chor bildet für den Protagonisten dieses Schon-da. Er figuriert einen Bezug zur dauernden Gegenwärtigkeit anderer Zeitstufen und zu anderen Gegenwarten, womit sowohl die Gegenwarten anderer als auch andere, nichtmenschliche Gegenwarten angesprochen sind. Dauernde Gegenwarten sind dem Kompositionsprinzip des Chors zugänglich, ohne dass dies extra ausgesagt oder beschworen werden müsste. Sie gehen in einen Chor ein, der zeitlich oder räumlich Auseinanderliegendes zusammenträgt – und zwar temporär, das heißt immer wieder vergehend und daher auch immer wieder von neuem. Der Chor schuldet der chronologischen Zeit nichts. Niemals vermag er auf sich selbst zurückzukommen. Damit konterkariert diese eigenartige Zeitlichkeit des Chors vollständig die der Protagonisten. Diese sind von Beginn ihres ersten Auftritts an mit einer begrenzten Ablaufzeit verknüpft, die ‚ihre‘ Gegenwart ist, in der sie mit ihren Geschicken hadern und ihre Anliegen mehr oder weniger glücklich zu lösen suchen.

Die beiden unterschiedlichen Zeitlichkeiten, die hier im Spiel sind, schließen einander aus und hängen doch miteinander zusammen. Sie entsprechen der Struktur des antiken Theaters, das mit der Konstellation von Zweien anhebt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Chor und Protagonist sind einander asymmetrisch verbunden. Dabei drückt sich die nicht-aktuelle Zeitlichkeit des Chors im antiken Theater auf ganz verschiedenen Ebenen aus. Das chorische Schon-da kommt nicht nur innerdramatisch zum Ausdruck, sondern wird auch institutionell, in der Vorbereitung und Durchführung der Großen Dionysien, systematisch berücksichtigt. In Anlehnung an Bernhard Zimmermanns Unterscheidung von außer- und innerdramatischen Ebenen, spielt die Vorgängigkeit des Chors eine Rolle für die Chorverwendung in folgenden Aspekten:

Erstens in der organisatorischen und institutionellen Vorbereitung der jährlichen Großen Dionysien: Dichter, die sich um eine Teilnahme an den dramatischen Wettkämpfen (agn) „bewarben, ‚verlangten einen Chor für sich‘. Der Beamte gab ihnen einen Chor und damit das Aufführungsrecht“89. Zweitens in der Feststruktur und dem Ablauf der Großen Dionysien: Noch vor dem Beginn der dramatischen Wettkämpfe ziehen Chöre in unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung in das Theater ein und eröffnen die Spiele mit Dithyramben-Aufführungen.90 Drittens in Bezug auf die Herausbildung der dramatischen Gattungen aus chorlyrischen Traditionen: Das attische Drama entsteht aus „dionysischen chorlyrischen Formen, nämlich die Tragödie aus dem Dithyrambos und die Komödie aus den Phallos-Liedern“91. Viertens in Bezug auf ein Bewusstsein über die Vorgängigkeit der Chorlyrik, sodass die Tragödie etwa, wie Zimmermann festhält, im fünften Jahrhundert als bloße „Sonderform chorlyrischer Dichtung“92 angesehen wurde. Fünftens formbildend für antike Tragödien, die mit einer Parodos eröffnen und einem Exodus schließen bzw. mit dieser Struktur spielerisch umgehen (so beginnt Antigone etwa mit einem Zwiegespräch beider Schwestern im Morgengrauen, noch vor der Parodos). Sechstens innerdramatisch, indem Chöre in ihren Stasima über den aktuellen Anlass des Stücks hinausgehen, ihn relativieren oder reflektieren. Siebtens innerdramatisch, indem Chöre „Zugang zum Bereich der Erinnerung haben“93 und als Gedächtnisträger fungieren. Achtens schließlich in der Praxis, die Choreuten aus den Städtebewohnern der pólis zu generieren, also aus denen, die vor Ort schon da sind. Diese acht Punkte erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aber sie verdeutlichen die historisch und formensemantisch nachzuvollziehenden Merkmale einer Struktur des Schon-da, die den Chor als jenes unpersönliche, gleichwohl lebendige Wesen auszeichnen, als das er im fünften Jahrhundert in der Orchestra erscheint.

Die verschiedenen aktuellen und nicht-aktuellen Zeitlichkeiten von Protagonisten und Chor sollen im Folgenden noch etwas genauer gefasst werden. Deleuze, auf den ich mich zu Beginn dieses Abschnitts implizit schon bezogen habe, unterscheidet in Logik des Sinns zwei Lesarten von Zeit, die er den von ihm bewunderten stoischen Konzeptionen zur Physik und zur Logik entnimmt. Nicht von ungefähr lassen sich Deleuze’ Charakterisierungen dieser beiden Lesarten mit jenen verknüpfen, die hier im Verhältnis von Protagonist und Chor im Spiel sind. Welche zwei Zeiten also? Der stoischen Auffassung von der Physik wird eine Zeit zugeordnet, die mit dem Namen Chronos gekennzeichnet wird: Sie ist auf eine stets begrenzte Gegenwart fokussiert und kehrt, genauso wie das morgendliche Ankleiden, unendlich oft wieder. Der stoischen Konzeption der Logik wird hingegen eine Zeitlichkeit zugerechnet, die mit dem Namen Äon belegt wird: Sie kann niemals wiederkehrend auf sich selbst zurückkommen und ist wie das Werden ohne Anfang und Ende vorzustellen als eine „reine Gerade, deren beide äußersten Enden sich unaufhörlich in das Vergangene (und) in das Zukünftige entfernen“94. Die Gebiete der stoischen Physik und Logik eröffnen also „zwei Lesarten der Zeit […], jede vollständig und die andere ausschließend: einerseits die stets begrenzte Gegenwart, die die Aktion der Körper als Ursachen bemisst, sowie den Zustand ihrer Mischungen in der Tiefe (Chronos); andererseits die im wesentlichen unbegrenzte Vergangenheit und Zukunft, die die unkörperlichen Ereignisse als Wirkungen auf der Oberfläche sammelt (Äon).“95

Das, was in der ersten Zeit „Gegenwart“ heißt, stellt sich in der äonischen Zeit als eine unaufhörliche Berührung von unbegrenzter Vergangenheit und Zukunft dar. Da sich Vergangenheit und Zukunft auf ihren in die Länge gezogenen Zeitpfeilen unendlich oft berühren, kann man auch sagen, dass sie sich als soeben Vergangenes und sogleich Zukünftiges unendlich oft teilen. So vermögen sie kraft ihrer Berührung „jede noch so kleine Gegenwart bis ins Unendliche [zu] unterteilen und diese auf ihrer leeren Linie in die Länge ziehen“96, das heißt zu dehnen. Dieser niemals aktuellen leeren Form der Zeit entspricht der Infinitiv von Verben. „Gehen“ heißt es in der Infinitivform, die keine physischen, materiellen Abhängigkeiten indiziert und alle anderen Zeitstufen virtuell mit sich führt. Ganz anders verhält es sich mit dem Präsens, das von einem Ich an einem Jetzt-Punkt aktualisiert und zu seiner Gegenwartsbehauptung wird. Das protagonistische „ich gehe“ trennt sich noch im Moment des Sagens von allen anderen Gegenwarten der Vergangenheit und Zukunft. Die aktuelle Gegenwart unterscheidet sich vom Vorher und Nachher, die unerreichbar werden. Beide Formen der Zeit sind vollständig, betont Deleuze, und beide schließen einander aus. Sie bilden zwei Pole, die im Wechsel oder auch in inniger Berührung miteinander die Bildung neuer Formen modellieren. Das Spiel zwischen den beiden Polen ermöglicht das Auftauchen niederer oder gedehnter Gewebe. Für die neue Form steht hier die Tragödie, in der sich das aktualisierte Präsens eines Ich, das Entscheidungen trifft, ständig mit einem unentschiedenen, chorischen Infinitiv abwechselt und berührt. Zudem ziehen wir für die Emergenz niederer oder gedehnter, umweltlicher Gefüge einen erweiterten Chorbegriff in Betracht. Neben ausgewiesenen Chortexten, verdienen die ‚chorischen Sphären‘ im Stück besondere Beachtung (die Sklaven, die Götter im Ödipus; das Erdbeben am Ende des Prometheus-Fragments; die Rinderherden, denen Die Spürhunde hinterher sind etc.).

In der Tragödie begleitet ein Chor den Protagonisten. Dessen Gegenwartsbehauptung gerät sukzessive in einen Kontakt mit dem Schon-da vielfacher, anderer Gegenwarten. Vor allem den chorischen Standliedern kommt die Funktion zu, Horizontdehnungen zu bewirken. Hier beugt sich ein Chor am weitesten in die Zeit Äons hinüber. Sobald sich Vergangenes und Zukünftiges berühren, gehen aber auch die Dinge innerdramatisch nicht mehr ihren gewohnten Gang: Eine Entscheidung wird aufgeschoben, Bedenken und Zweifel treten auf, eine personale Erinnerung stellt sich ein. Das Zögern, das Wolfram Ette als Kritik der Tragödie gefasst hat, breitet sich aus.97 Ein Chor als Gedächtnisträger sammelt gleichsam dieses Zögern in sich, lädt es mit Erinnerungen auf und ist geeignet, eine Erinnerung zu wecken. Nicht nur aus Gründen, die den Aufführungskonventionen der Städtischen Dionysien geschuldet sind, spielen die eröffnenden Passagen antiker Dramen so häufig am frühen Morgen, in der Stunde des Erwachens und des Hervorkommens.

Gedächtnisträger

Als Gedächtnisträger eröffnet der Chor eine immense Raumzeitlichkeit. Diese kann zunächst eine unüberschaubare, unmöglich vollständig zu nennende oder zu ergreifende Vielheit gleichzeitiger Gegenwarten umfassen, wie dies am reinsten im Eingangslied des Perser-Chors von Aischylos zu beobachten ist. Der Chor der jungen Mädchen und Frauen in Sieben gegen Theben bildet hingegen ein gemischtes Phänomen. Dieser Chor bündelt gleichzeitige Gegenwarten, eine Vielheit heftiger Affekte und Intensitäten. Die jungen Thebanerinnen sind ungestüm in ihrer Furcht. Sie malen sich ihre eroberte, entehrte und entleerte Stadt in Horrorbildern aus und sie kreischen vor Angst, sodass Eteokles sie barsch zurechtweist. Doch dann ändert sich die Temperatur des Chors und er versucht, Eteokles von seinem Entschluss abzubringen, gegen Polyneikes anzutreten: Denn „töten Männer gleichen Blutes sich, / so löscht kein Alter diesen Makel aus.“ (V. 681 f.) Der Chor rät zu Vernunft und Mäßigung und spricht den Herrscher mit „Kind“ (téknon) an (V. 686). Aus dem Chor verängstigter junger Mädchen und Frauen wird ein Chor, der Zugang zum Gedächtnis besitzt. Im zweiten Stasimon geht die Furcht vor dem Brudermord in die Historie der Labdakiden über (V. 720–791). Der besondere Fall des Ödipus wird auf eine allgemeinere Ebene gehoben, in deren Horizont die schwarzen Erinnyen auftauchen, die schrillen Rächerinnen jeder Schändung und Entehrung der Mütter (V. 753 f.). Die Männergründung der Stadt Theben verdankt sich immer noch des Kadmos’ „Männer Saat, die Ares schonte“ (V. 412). Doch jetzt, da „der arge Ares“ (V. 944) die Stadt fest im Griff hat, tauchen die Erinnyen als „Schatten des Ödipus“ (V. 976) auf. Die große Chorklage, die an das dritte Stasimon anschließt, gilt den beiden Söhnen des brüderlich zeugenden Ödipus und beschwört die Rache der Erinnyen herauf.

So kann das chorische Gedächtnis die Funktion eines Archivs, eines Speichers oder sogar einer Liste annehmen. In jedem Fall bezieht sich die vom Chor eröffnete Raumzeitlichkeit auf eine Vielheit vergangener Gegenwarten, die andauern und – wie die Chorklage im Anschluss an das dritte Stasimon in Sieben gegen Theben – übergehen in die aktuelle Gegenwart des Stücks. Der Chor verwandelt sich (klagend) in einen Kollektor von Affekten und Emotionen und berührt im Modus der Beschwörung Zukünftiges. In Bezug auf unterschiedlich weit in die Vergangenheit gestaffelte Zeiten nähert sich das Chorgedächtnis der kritischen Funktion eines vergleichenden Mythologen an. Da sein Gedächtnis sprunghaft ist, ähnelt es kaum dem eines Erzählers oder eines Historiografen. Niemals nimmt es die Form einer personalen Erinnerung an. Ein Chor erinnert sich vielursprünglich (wie die Mythologie). Er rafft die stets losen, heterogenen Enden einer Handlung zusammen, ohne dass diese eine verlässliche Summe ergäben. In allen seinen Modi und Funktionen ist ein Chorgedächtnis deutlich basiert in der Schrift als jener technē, die es hervorbringt: der Sprache und Kunst des Dichters (poiēsis).

Bei Sophokles, der den Chor hauptsächlich in der Funktion eines sedimentierten Gedächtnisses verwendet, tritt die Erinnerung stets zum gegebenen Zeitpunkt auf und stets, um diesen Zeitpunkt zu dehnen. So bringt der Chor in Antigone zum Beispiel zunächst die Begebenheiten und die Bedeutung der Schlacht um Theben (Gestern) in Erinnerung, dann die Inbesitznahme sämtlicher Kulturtechniken, Erfindungen und Entwicklungen durch den Menschen, was diesem jedoch hinsichtlich seiner Sterblichkeit nichts nützt (sehr weit zurückliegendes Gestern), dann die Genealogie des Hauses Ödipus (mittleres Gestern) usw. Das Gedächtnis des Chors schichtet verschiedene, vormalige Gegenwarten. Es stützt sich auf das Modell der Zusammenstellung, der Konstellation oder Konfiguration, das sich nicht nur auf das Verhältnis der einzelnen Chorlieder untereinander bezieht, sondern auch auf die Binnengliederung der Lieder im Einzelnen. Anstatt erinnerte Ereignisse und Zusammenhänge in einen Ablauf zu fügen, ähnelt das Ergebnis ihrer Kombination eher einer Schichtung unterschiedlicher vergangener Gegenwarten, die das Jetzt der Tragödie tangieren.98 Aber niemals bilden sie die Ursachenvergangenheit eines bestimmten Jetzt. Es ist vermutlich nicht übertrieben, hier von einer Darstellung der konfigurierenden Tätigkeit auch des Dichters zu sprechen, der in der Überlieferung nach geeigneten Fällen Ausschau hält, um sie im Formenschema der Tragödie als wahrscheinliche und allgemeingültige Fälle zu komponieren. Dabei betrifft seine Tätigkeit eigentlich eine Re-Konfiguration, denn als konfigurierte liegen die betreffenden Fälle schon in den mythisch verbürgten Plots vor. Dabei meint die Vorsilbe ‚Re-‘ im vorliegenden Zusammenhang nicht die wiederholte, nochmalige Konfiguration, sondern eine, um die Möglichkeit der tragischen Wirkung verstärkte und intensivierte Konfiguration. Deren Herstellung macht, Aristoteles zufolge, das Kerngeschäft der Dichter aus.99

Der Chor als archivierendes oder sedimentiertes Gedächtnis oder beides in einem: Am klarsten wird diese doppelte Funktion im Chor der Perser, der in seinem großen Eröffnungslied alle Helden Persiens aufzählt, die mit Xerxes in die Schlacht zogen. Dabei nennt er nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Länder und Herkünfte, ihre besonderen Qualitäten als Könige oder Krieger, ihre berühmtesten Taten, ihre Ausrüstungen, ihre Mitstreiter, ihre Wagen und Waffen. Es sind die Ausgezogenen, die in Susa und ganz Persien Nicht-mehr-Vorhandenen und Fehlenden. Ihre unanschauliche Gegenwart verhält sich zum Ort Susa, der mit und durch dieses Eingangslied allererst angespielt wird wie eine große raumzeitliche Verzweigung. Die Aufführung dieses Gedächtnisses schwankt zwischen den Formen Eben-Noch und Schon-nicht-Mehr. Eben noch sind die Genannten mit uns in Persien gewesen. Sie gehören also im Sinn eines ‚vergehenden Jetzt‘ noch zur Aktualität dieser Gegenwart in Persien, in Susa. Ihre Abwesenheit bezeichnet jedoch ebenso ein Schon-nicht-Mehr, das auch in das Nicht-Mehr ihrer radikalen Abwesenheit münden kann: als nicht mehr Lebende, dauerhaft Abwesende, Tote. In diesem Fall würde die Aufführung dieses Gedächtnisses die Funktion einer Repräsentation übernehmen, die jedoch weniger einem Staatsakt gliche denn einer Akte, einem Speicher, einem Friedhof, einem Zeugnis, einer Schrift.

Wie beginnen? (Die Perser)

Die Aufführung dieses Gedächtnisses durch den Chor hat zunächst keinen anderen Anlass als den, dass mit ihr die von Aischylos verfasste Tragödie eröffnet wird. Die innerdramatisch gefügten Zeitlichkeiten liegen jedoch anders. Veranlasst wird diese Aufführung des Chors durch eine Vorahnung Atossas in einem Traum, den sie zum Zeitpunkt des Chorliedes schon geträumt hat und den sie im Anschluss an den Chor ausführlich darstellen wird. Das heißt, Atossa wird auftreten, um eine perfekte Erinnerung darzustellen, indem sie ihren Traum sprachlich wiederholt. Diese Wiedererinnerung eröffnet die Zeitlichkeit der Einzelfigur am Ort des Chors. Noch im selben Moment werden sich jedoch die verschiedenen Zeitlichkeiten eines Chorgedächtnisses und einer Protagonistin, die sich erinnert, voneinander trennen. Atossa ist aus ihrer unanschaulichen, nächtlichen Gegenwart hervorgetreten. Sie hat sich als Einzelfigur disponiert und als solche beginnt sie nun, sich in einen Ablauf einzutragen. Denn Atossas böse Vorahnungen verlangen nach einem Ende der Ungewissheit, sei dieses nun gut oder schlecht. Dem Auftritt Atossas geht jedoch ihr Traum als eine andere, nächtliche Gegenwart voraus, die sich unmöglich in der Form des Präsens nennen oder sagen lässt und das dennoch durch die Wiedererinnerung Atossas mit dem aktuellen Jetzt im Moment ihres Auftritts zusammentritt. Atossa verschiebt ihren nächtlichen Traum in die Rede. Wenn sie zu sprechen beginnt, geschieht das nicht im Präsens (‚ich fürchte‘ oder ‚ich ahne‘), sondern indem sie in der Vergangenheitsform von sich sagt: ‚Ich habe geträumt‘. Die Gegenwart von Atossa ist also schon am Anfang ein großes, zusammengesetztes, heterogenes Jetzt. Es umfasst aktuelle und nichtaktuelle Bezüge, Anschauliches und Nichtanschauliches, Bestimmtes und Unbestimmtes. Damit hat sich das Jetzt jedoch in eine Zone von unbestimmter Ausdehnung verwandelt und diese kann nicht nur zeitlich verrechnet werden, sondern muss zwingend raumzeitlich gefasst werden.

In dieser Zone setzt das Stück mit der chorischen Aufführung eines Gedächtnisses ein und insofern kann man sagen, dass dessen Aufführung durch etwas ausgelöst wird, zu der auch die geträumte Vorahnung Atossas zählt. Im Hinblick auf diesen Auslöser handelt es sich um eine nachträgliche Aufführung des Chorgedächtnisses, obwohl die Chronologie des Stücks dem zu widersprechen scheint. Aber wir haben es hier nicht mit einem Ablauf zu tun und das Vor- oder Nachgestellte entspricht keinem zeitlichen Vorher oder Nachher. Eine derartige Ablaufzeit käme nur für die Einzelfigur infrage, die im Zeitraum ihrer Geschichte, also in einem perspektivisch dimensionierten oder zumindest so vorgestellten Raum agiert, den sie durchläuft. Eine solche Figur wird jedoch erst von einer völlig chorvergessenen Tradition etabliert werden. Was das antike Drama angeht, bewegen wir uns auf der Ebene einer Topologie, in der die Raumzeit nicht eine, sondern immer mehr als eine ist. Komponiert werden Protagonisten und Chöre, Figuren und Orte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre Konfiguration öffnet den Ort ihrer Aufführung (im Text oder in einem Theater). Das ‚Kon‘ ihrer Figuration ließe sich auch als ein passives, nicht aktuelles Schon-da auffassen, wie es zum einen auf der Ebene der dichterischen poiēsis und der Schrift vorliegt, zum anderen jedoch auch auf der Ebene des Stücks selbst: Etwas ist schon da, etwas hat schon gedauert, das Heer der Perser ist gegangen, ein Traum hat sich geträumt und eine unruhige Vorahnung hat sich breitgemacht. Etwas ist schon längst konstelliert – bevor die Bewegung des Stücks mit einer Parodos einsetzt, die der innerdramatischen Einräumung dient, sodass ein Protagonist herauskommen und anfangen kann.

Mit dem Auftritt der Einzelfigur wird die Bewegung des Stücks von der ablaufenden Zeit erfasst. Zum einen als ein Stück mit Anfang und Ende, zum anderen innerdramatisch geheftet an die Einzelfigur, die eintretend damit beginnt, ihrem Ende entgegenzugehen. Die ablaufende Zeit trennt mit ihrem Jetzt des Anfangs vergangene und zukünftige Gegenwarten und hält sie auseinander, während sich ihr Jetzt im innerdramatischen Verlauf permanent in ein anderes verwandelt. Das ist möglich, weil das Jetzt des Anfangs ebenso die Stelle eines Kontakts mit der Zeitlichkeit vorgängiger und kommender Gegenwarten bildet. Die beiden Zeitlichkeiten lassen sich nicht vermitteln, aber ihr Kontakt vermag die Zeit der Tragödie zu modifizieren: Worte fallen „tödlichfaktisch“100, wie Hölderlin sagt. Figuren werden hervorgerufen, Wirkungen treten ein oder gehen auf, am Ort der Tragödie wird sich etwas für immer ereignen. Nicht das performative Jetzt bildet das Ereignis der Tragödie, sondern die Möglichkeit der Berührung zweier Zeiten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Jetzt der ablaufenden Zeit berührt sich mit der chorischen Dichte dauernder, vergangener und kommender Gegenwarten. Diese Berührung stiftet Präsenz. Lebendige Gegenwart entsteht in einer Bewegung der Vergegenwärtigung, indem etwas oder jemand gegenwärtig wird.

„In Wahrheit gehört die Gegenwart nicht zu den Zeitbegriffen“, schreibt Peter Sloterdijk in seiner Kritik der politischen Kinetik, in der er die antike Poiesis als eine der wenigen Alternativen zum permanenten Beschleunigungsbedarf des Westens würdigt. Die „Bewegungs- oder Dramenkategorie“ Gegenwart bezeichne eine Struktur, „durch die uns das Anwesende als etwas aufgeht, das in den Begegnungsraum eintritt. Präsenz ist Bewegung im Sinne eines Ankunfts-, Hervorbringungs- und Eintrittsdramas. Präsenzerfahrung gehört zu den Auszeichnungen der menschlichen Existenz, weil Menschen die Ankunfts- und Eintrittswesen par excellence sind – prädisponiert zum Erwachen, Herauskommen, Hervorbringen und Anfangen.“101

Das Schon-da des Chors, der das Erwachen und Anfangen der Protagonisten erwartet, korrespondiert mit einer Anwesenheit, die immer schon angefangen hat und die immer schon ihre Zukunft berührt haben wird. Mit dieser Spannung, diesem Kraftfeld, muss eine jegliche Disposition und ein jedes Anfangen in Kontakt treten, wenn es hervorkommen und Präsenz werden will. Die Perser führen dies beispielhaft vor.

Der Chor und Atossa fangen an und figurieren sich, indem sie jeweils – und diese Bewegung ist außerordentlich – aus der Zeit dauernder Gegenwarten heraustreten. Der Chor breitet ein Gedächtnis aus, von dem man zögert zu sagen, dass es seines wäre (eben noch). Atossa stellt ihre personale Erinnerung eines nächtlichen Traums dar (schon nicht mehr). Dieses Vergegenwärtigen gleichzeitiger und vergangener Gegenwarten steigert sich mit dem Botenbericht, der die katastrophale Niederlage der Perser schildert (gestern und vorgestern). Sie mündet darin, dass im zweiten Epeisodion der längst verstorbene Dareios für eine Beratung der Lebenden aus dem Totenreich zurückgeholt wird (weit zurückliegendes Gestern). Die Gegenwart des Jetzt tritt nicht als Bruch mit der dauernden Gegenwart auf, sondern aktualisiert sich in ständiger Berührung mit ihr. Das gesamte Stück über vollzieht dieserart die Bewegung einer gigantischen Öffnung des Jetzt: Atossas böser Traum, Nachricht vom Untergang der Perser, Totenbeschwörung und Rat des Dareios. Zu Beginn des letzten Teils, wenn Dareios wieder ins Totenreich zurückgekehrt ist, erreicht diese Öffnung ihre größtmögliche Dehnung. In diese weit aufgerissene Gegenwart tritt nun Xerxes ein: plötzlich, die Kleider zerfetzt, bejammernswert seine Gestalt, den Mund geöffnet zum Schrei: „Io“ (V. 908).

Es ist die Frage, wie das Sprechen eines Protagonisten überhaupt anheben kann. Wie hebt es in dieser ältesten, uns überlieferten Tragödie Die Perser an? Und noch einmal: wie bei Atossa als ihrer ersten Protagonistin, die sich als Einzelfigur aktualisiert? Wodurch wird ihr Hervortreten überhaupt möglich? An dieser Stelle spielt die Zeitstruktur des Traums von Atossa eine wichtige Rolle, die hier unter dem Aspekt einer ‚immanent erlebten Zeitlichkeit‘ einen Moment lang genauer betrachtet werden soll.

Edmund Husserl hat die Fähigkeit des Bewusstseins, neben aktuellen Wahrnehmungen auch solche der unmittelbar oder auch nur mittelbar vorangegangenen Gegenwart festzuhalten, fokussiert und für diese Fähigkeit den Begriff der „Retention“ geprägt. In seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff des inneren Zeitbewusstseins geht Jacques Derrida bei Husserl in Sonderheit der Frage nach, wie sich der Übergang von der passiven Retention zur Erinnerung oder aktiven Wiedererinnerung eines Subjekts vollzieht. Übertragen auf die hier diskutierte Eröffnung der Perser, wäre dies die Frage nach dem Traum Atossas als einem Ereignis in der Zeitlichkeit des immanent Erlebten. Der Traum gilt Derrida schlechthin als Beispiel für „die nicht-empirische Beziehung zwischen mir und mir, zwischen meiner aktuellen Gegenwart und anderen Gegenwarten als solchen, das heißt als anderen und als Gegenwarten (als vergangene Gegenwarten)“102. Derrida führt den Gedanken weiter, indem er von einer Vielheit von Ursprüngen ausgeht, von einer Vielheit von Erstformulierungen, wenn man so will, die jenseits der Positionierung eines Ich spielen und „nicht-empirische Beziehungen“ mit ihm eingehen. Derrida spricht vom „Zirkulieren“ dieser Ursprünge und davon, dass „dank dieses Zirkulierens absoluter Ursprünge durch absolut andere Augenblicke und Akte hindurch die selbe Sache gedacht werden“ kann. Eine Sache erscheint als die selbe in der Selbstformulierung eines Ich jedoch immer nur nachträglich – als ein Nachtrag, der aus einer Beziehung zu zirkulierenden Ursprüngen gewonnen wird. Ein Nachtrag aus einer Beziehung zu Vielheiten, wie sie zum Beispiel den komplexen Traum von Atossa bevölkern. Ihr Traum versammelt kollektive mythologische Bilder, ruft kollektive Dramaturgien auf und zitiert kollektive Erbschaften. Er nährt sich ganz und gar aus unpersönlichen Traditionen. Die Frage, wie aus Beziehungen zur Vielheit diejenige wird, die sich im Traum niederschlägt, ist eine Frage der Retention. Husserl bestimmt sie als ein Auseinandertreten des Ich in seinem konkreten Hier und Jetzt in ein anderes Jetzt und, darin fundiert, in ein anderes Hier: „Die Gegenwart tritt weder als Bruch mit einer Vergangenheit, noch als deren Wirkung auf, sondern als Retention einer vergangenen Gegenwart, das heißt als Retention der Retention usw.“103. Dieser Übergang kann nur immanent erlebt werden. Er wird als eine unbestimmte, „prä-objektive und prä-exakte Zeitlichkeit“104 erlebt. Diese Zeitlichkeit gilt Derrida als die Quelle jeglicher Erscheinung von Zeit.

Insofern bildet Atossas Traum den Anstoß dafür, dass etwas hervorkommen und anfangen kann, was dann in der komplexen Dramaturgie dieses Beginns der Perser geborgen wird und Form gewinnt. Dafür ist jedoch noch eine winzige Unterscheidung zwischen Trauminhalt und Traumursache zu machen. Denn was ihre Traumerzählung aufruft und versammelt, gehört der Einzelfigur Atossa ganz bestimmt nicht zu und bildet auch nicht ihre eigene Erfahrung, noch nicht einmal ihr eigenes Bewusstsein. Aber dass sie ihn träumt, gehört ihr zu und ermöglicht den Übergang in die Zeit einer Tragödie, in die sie eintreten wird. Ihre beunruhigenden Vorahnungen sind nicht irgendwelche, sondern die einer greisen Königin, die um ihren Sohn an der Spitze des persischen Eroberungsfeldzugs gegen Griechenland bangt.

In dieser Zone der Beunruhigung artikuliert der Chor das Gedächtnis einer Vielheit (die Namen aller Helden Persiens) und nur insofern tritt der Chor auf. Der Chor benötigt einen Anlass, um zu erscheinen, einen Zeit- und Treffpunkt. Genau genommen, kann ein Chor, verbündet mit der passiven Präsenz und mit dem Schon-da, nicht auftreten, aber er kann sich aus einem Anlass, den er nicht in sich selbst findet, zusammenrotten und zusammentragen, was er hier und da mitbekommen hat. Dieser Anlass liegt in der Zone der Beunruhigung vor und so hat sie Aischylos auch gestaltet: Ein Chor zieht sich zusammen. Er kommt vor allen anderen, aber das ist nicht sein Beginn. Der liegt davor und wiederum davor. Im Anheben vielleicht der Sprache, die sich unter Mehreren selbst vorausgeht.

Dabei gibt es einen unübersehbaren Tribut, den die Rede des Chors und namentlich diese des Perser-Chors an ihren Ort der Tragödie entrichtet. Diese Tragödie wird wie jede Geschichte ihrer Ablaufzeit folgen. Die chorische Aufzählung der Helden, die gegen Griechenland gezogen sind, mit all ihren Details, entsteht aus der Zone beunruhigender Vorahnung und ist gebunden an sie. Sie hat etwas Manisches, diese Aufzählung, in der jede Flexion des Verbs „sein“ fehlt und die lediglich durch das konjugierende „und“ skandiert und gestützt wird. Gerade in ihrer Manie arbeitet sie vom ersten Vers an gegen ihr eigenes Enden. Es handelt sich um ein Sprechen, das sich vor der schwarzen Wand des Todes wähnt und diese hinauszuschieben sucht. So lange diesem Chor noch etwas einfällt, solange er noch mit einem weiteren ‚und‘ aufzuwarten oder eine weitere Faltung aufzuschlagen weiß, so lange wird das geahnte, befürchtete Ende nicht eintreten. In diesem So-lange-Noch arbeitet schon die Ablaufzeit der Tragödie. Der Chor stemmt sich gegen diese Zeit, die nicht seine ist. Und indem er sich gegen sie stemmt, dehnt er ihren Ablauf und spannt in der Dehnung einen Ort auf, den es ohne ihn nicht gäbe. Der Chor trägt ein gemeinsames Wissen zusammen und enthüllt ein immenses Gedächtnis, das er aktualisiert und insofern notwendig fehlbar erinnert. Er muss irgendwann abbrechen, er kann nicht alle nennen und sicherlich hat er auch schon einige vergessen. Seine Kraft zur Aufspannung des Orts und seine Fehlbarkeit bilden im Wortsinn die umfassende Möglichkeit für den Auftritt der Protagonistin. Atossas Rede setzt sich in die Welt, indem sie die kollektiven Materialien ihres Traums erinnernd ausbreitet. Und während sie dies tut, vermittelt sich auch die Ursache seines Geträumtwerdens, mit der die Figur der Atossa in diesem Moment entsteht. Es ist die Figur einer Mutter, die durch ihren Sohn lebt.

Protagonisten durchschreiten ihre Tragödie in der unumkehrbaren Zeit des Ablaufs. Nach der vernichtenden Niederlage des riesigen Perserheeres kehrt Xerxes, der als einer der ganz wenigen überlebt hat, nach Susa zurück. Wie sollen sie den Jahrtausendverlierer empfangen? Die Ablaufzeit von Protagonisten wird Xerxes in dieser Ausnahmetragödie nicht strikt todwärts führen. Der Rat des Dareios und seine ausgleichende Geste der Zurückhaltung stehen hier im Zentrum. Sie bewirkt, dass die in Susa Zurückgebliebenen sich nicht vom Zorn auf Xerxes bestimmen lassen und nicht nach Vergeltung für den Tod ihrer Angehörigen rufen. Vielmehr stimmen sie in die Klage ein, die den im Wortsinn versöhnten und gleichzeitig radikal offenen Schluss dieser Tragödie bildet. Sie endet mit einem kommós, mit einer exzessiven, permanent anschwellenden und ins Offene mündenden Klage, die Xerxes im Wechsel mit dem Chor anstimmt. Übermütig und auf technische Listen vertrauend, war Xerxes ausgezogen, war mit seinem Heer aufs Meer gegangen, hatte den Hellespont überbrückt, hatte das Meer gefesselt und nicht anerkannt, was für Menschen unverfügbar bleibt und allein eine Sache göttlicher Hütung war. Nun beginnt Xerxes die Klage und der Chor stimmt in sie ein. Diese Klage gilt nicht nur dem Niedergang der Perser, der ihnen von Griechen beigebracht worden ist. Sie beklagt vielmehr ein exemplarisches Geschehen, in dem „ein Daimon [auf] der Perser Geschlecht“ trat (V. 911, Witzmann/Müller). Dieses Geschehen spielt unter Gattungsmenschen, ebenso sind die Kräfte der Natur im Spiel. Bei Aischylos, schreibt Jan Kott, „ist der Kosmos noch nicht erstarrt, er ist noch unfertig, die Kräfte der Natur sind die Nachfahren der ersten Götter und nehmen an den Kämpfen teil“105. Die Klage des Perserchors gilt daher nicht den Toten einer bestimmten Bevölkerung. Sie wird in einem Moment angestimmt, in dem menschliche Existenz sich überhebt, sich inklusiv als Gattung zu begreifen und gegen die Kräfte des Außen zu verriegeln sucht. Sie gilt einem unverfügbaren Leben, das unendlich über die Menschenwelt hinausgeht und für ihre Einrichtungen unerreichbar bleibt. Sie gilt insofern einem exemplarischen Geschehen, als sie daran erinnert, dass dieses Leben niemals für bezwingbar gehalten werden kann. Die unabschließbare Klage dieses Chors bildet ein Zeichen des Gedächtnisses dieser Zusammenhänge. Sie bildet ihr Denkmal.106

 

56 Gr. „iō, dystēnos egō“ (V. 908). Die Fassung der Perser von Heiner Müller/Peter Witzmann gibt den Vers in derselben Wortfolge wieder: „Io, unglücklicher Ich“. In: Heiner Müller, Werke Bd. 7, ebd., 683–721, hier 715.

57 Diese Pointe wurde von der Dramaturgie dieser Inszenierung verantwortet, während die Textfassung von Helena Varapoulou, die die Müller/Witzmann-Fassung ins Neugriechische übertragen hat, sie nicht vorsieht.

58 Heiner Müller, „ÖDIPUSKOMMENTAR“, in: ders., Werke Bd. 1, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 1998, 157 f., hier 158.

59 Damit werden Herkünfte und Nachkommen fraglich. Der Versuch des Ödipus, aus Geschlechtern im Plural das singuläre Geschlecht seines Hauses zu machen, gleicht dem Versuch einer Selbstzeugung: „Wächst eine Wand, die Welt eine Warze, oder es pflanzt sein / Finger ihn fort im Verkehr mit der Luft“. (Müller, ebd.)

60 Bernhard Zimmermann, Dithyrambos. Geschichte einer Gattung, 2. Aufl., Berlin 2008.

61 Zur Zusammenstellung des Chors durch einen wohlhabenden Bürger (Choregen), der für Unterhalt und Training des Chors aufkam sowie zur Praxis der Vorbereitung der Städtischen Dionysien und Zusammenarbeit mit den Dichtern vgl. Helene Foley, „Choral Identity in Greek Tragedy“, in: Classical Philology 98 (2003), University of Chicago 2003, 1–30.

62 Aristoteles, Poetik, 11–17, hier 15.

63 Roland Barthes: Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin, hg. von Jean-Loup Rivière, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Berlin 2001, 25–37, hier 29. Das folgende Zitat ebd., 30.

64 Die Raumstelle des Dionysostheaters lag nahe der Stadt, am Südhang der Akropolis auf „halber Höhe“, von der aus der „freie Blick“ auf das Meer (und gleichzeitig Schutz vor den Winden) gegeben war. Die Tanzplatte war an einer Geländekante gelegen, unterhalb derer Dionysos ein Temenos hatte. Der Hügel, ein felsiges Gelände, fiel insgesamt von Osten (Richtung Stadt) nach Westen (Richtung Meer) stark ab, sodass die seitlichen Zugänge (paradoi) im Osten durch gewachsenen Fels erschwert und im Westen durch eine Rampe ausgeglichen werden mussten. Der Spielplatz bestand zunächst nur aus einer künstlich hergestellten Terrasse mit einer gestampften Tanzplatte. Der Aufbau eines hölzernen Bühnenhauses wird erst für die Orestie des Aischylos angenommen und geht einher mit einem Umbau des Dionysostheaters um 460 v. Chr. Die Orchestra wird stärker in Richtung des Burghangs verschoben (N) und die Zuschauerreihen werden hangaufwärts erweitert (ca. 14 000 Zuschauer). Die gesamte Anlage wird entlang der Symmetrie ihrer Mittelachse ausgerichtet, die Parodoi auf gleiches Niveau gebracht. Eine spezielle Abstützung an der Geländekante ermöglicht den Aufbau eines semistabilen Bühnenhauses aus Holz. Siegfried Melchinger: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, 12–36, 87 und 112–125.


65
Roland Barthes, „Die Macht der antiken Tragödie“, in: Ich habe das Theater immer sehr geliebt, ebd., 40–54, hier 41.

66 Aristoteles, Physik. Vorlesung über Natur, Bücher I–VIII, griechisch-deutsch, übersetzt, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen herausgegeben von Hans Günter Zekl, zwei Halbbände, Hamburg 1987 und 1988, hier erster Halbband, 149–237.

67 Aristoteles diskutiert an verschiedenen Stellen den „Welt-Ort“, der ebenfalls die Merkmale des Orts als eine Berührung von Umfassendem (Welt) und Umfassten (Himmelssphären) aufweisen muss. Darüber hinaus weist dieser Ort ein Unten (der schweren Körper) und ein Oben (der leichten Körper) auf, wobei alle Körper, die Aristoteles für einen Ort in Betracht zieht, wachsend oder beweglich, also in physischem Sinn lebendig sind.

68 Werner Hamacher, „Amphora“, in: Elisabeth Schweeger (Hg.), Wanda Golanka. Tanz Ensemble Modell, Berlin 2010, 29–35, hier 31.

69 Ebd., 32.

70 Damit ist natürlich ein Paradox ausgesagt, denn das Unbegrenzte muss irgendwo am Himmelskörper an einen beweglichen, begrenzten physischen Körper angrenzen, also dessen endliche Grenze teilen, welche dann der unendlichen Dehnung des Unbegrenzten entsprechen müsste. Deutlich ist, dass Aristoteles bestimmt, dass der Himmelskörper selbst nicht noch einmal umfasst wird, das Unbegrenzte also nicht als Körper, Ur-Archē oder Anfangsgrund verstanden wird (wie bei den Pythagoreern). Die Paradoxie einer Teilung von endlicher und unendlicher Grenze, ergibt sich aus seinem Topos-Denken und bleibt ungelöst. Vgl. 203b 15–30 und 204b 4–6.

71 Pierre Pellegrin, „Aristoteles“, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, in: Jacques Brunschwig, Geoffrey Lloyd (Hg.), Das Wissen der Griechen, München 2000, 507–526, hier 519.

72 Hamacher, „Amphora“, ebd., 32.

73 Aristoteles: Poetik, ebd., 59.

74 Diese Struktur, die sich in der Gliederung von Eingangslied (Parodos) und abschließender Klage (Exodus) wiederfindet, ist unbestritten. Das Exodus-Finale wurde als Festzug (Pompē) ausgeführt, der den Chor (und dann die Zuschauer) aus dem Theater hinausführte. Etwas uneinheitlicher sind die Auffassungen hinsichtlich der Pompē zu Beginn: Dass die Großen Dionysien mit einer Pompē starteten, die durch die Stadt zum Dionysos-Heiligtum und dann in das Theater führte, und dass die Dionysien am ersten Tag mit einem Dithryamben-Agon eröffnet wurde, wird übereinstimmend angenommen. Etwas uneinheitlicher gestalten sich die Auffassungen, wie sich der Übergang von der Pompē zu der Parodos der jeweiligen Tragödie genau vollzog. Vgl. unter vielen möglichen Zusammenfassungen von Zimmermann, Melchinger etc. zum Beispiel Susanne Gödde, „Die Polis auf der Bühne. Die Großen Dionysien im klassischen Athen“, in: Renate Schlesier/Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos – Verwandlung und Ekstase, ebd., 95–105.

75 August Wilhelm Schlegel, [Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Fünfte Vorlesung], in: ders.: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1966, 61–71, hier 65.

76 Auf- und Abtritte sind im Griechischen nicht markiert. Sie werden von den Übersetzern aus der Chronologie der Verse und ihrer Zuordnung zu den Figurennamen abgeleitet und eigenmächtig hinzugefügt.

77 Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009, 147 (Hervorhebungen i. O.).

78 Ebd., 143 ff.

79 Arbogast Schmitt übersetzt diesen zentralen Begriff der aristotelischen Poetik mit „Darstellung“. Vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzung und Kommentar von Arbogast Schmitt, Berlin 2009.

80 Aristoteles: Poetik, 21. Folgend werden die Zitate aus diesem Text per Seitenzahl in Klammern ausgewiesen.

81 Während die andere plakative Vereinfachung, die „Lehre von den drei Einheiten“ (Einheit von Handlung, Zeit und Ort), eine Lesefrucht von Ludovico Castelvetro darstellt (1570), die in Frankreich in das Handbuch Pratique du Théâtre (1657) von François Hédelin, Abbé d’Aubignac aufgenommen wurde und große Verbreitung in der Regelpoetik fand.

82 Hans Blumenberg, „Nachahmung der Natur“, in ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 55–103, hier 56.

83 Aristoteles: Poetik, 7 bzw. 49.

84 „Handlung“ bezeichnet hier das „Drama“ (9), das Aristoteles als Konstellation von Tuenden (drôntes, von drân) definiert, die aus den Mythen bekannt sind. Tragödien werden „über eine kleine Anzahl von Geschlechtern zusammengesetzt“ (41).

85 Michel Serres’ Beschreibung seines Besuchs von Epidauros, in ders.: Die fünf Sinne, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1998, S. 111–113.

86 Aristoteles resümiert: Wie es in der Kunst/techne „Zweckmäßigkeit“ und „Zweckgerichtetheit“ gibt, so auch in der Natur/physis, die sich selbst reguliert. In: ders., Physik. Zweites Buch, 95, 199b 30.

87 Marita Tatari, Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme, Paderborn 2017, 26 f.

88 Ebd., 134. Vgl. auch Tataris Skizze eines Zusammenhangs von Chor – Handlung – Bühne, 130–134.

89 Zimmermann, „‘Ein ungeheures, mit übernatürlicher Lunge begabtes Einzelwesen‘“, ebd., 253.

90 Für die Großen Dionysien im fünften Jahrhundert (Dithyramben-Agon, drei tragische Tetralogien, fünf Komödien) wurden mehr als 1100 Choreuten eingesetzt, vgl. Zimmermann, ebd., 249.

91 Ebd., 253 (Zimmermann verweist hier auf Aristoteles, Poetik, ebd., 15).

92 Ebd.

93 Ebd., 255.

94 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, aus dem Französischen von Bernhard Diekmann, Frankfurt a. M. 1993, bes. 86–90, hier 87.

95 Ebd., 86 f.

96 Ebd., 87.

97 Wolfram Ette, Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 2011.

98 Mitunter derart randständig, dass zum Beispiel Wilhelm Kuchenmüller, dessen Übersetzung aus dem Jahr 1955 immer noch bei Reclam gängig ist, in Bezug auf das zweite Chorlied in der Antigone (V. 322 ff.) vermutet: Dieses „Chorlied ist wohl ohne jeden Zusammenhang mit dem Drama entstanden und darf an keiner Stelle mit der Handlung in Verbindung gebracht werden“. Vgl. Sophokles, Antigone, Stuttgart 1992, Anmerkungen, 59.

99 Aristoteles, Poetik, 31 f. In der Übersetzung Steinmanns, der nicht von ‚Konstellation‘/‚ Konfiguration‘, sondern von „Fabel“ spricht, heißt es: „Hieraus ergibt sich, dass sich die Tätigkeit des Dichters mehr auf die Fabeln erstreckt als auf die Verse […], dass von den wirklichen Geschehnissen manches so beschaffen ist, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte, und im Hinblick auf diese Beschaffenheit ist er Dichter derartiger Geschehnisse.“

100 Friedrich Hölderlin, „Anmerkungen zur Antigonä“, in: Sophokles, Sämtliche Werke, Bd. 16, Basel, Frankfurt a. M. 1988, 411–421, hier 417.

101 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989, 149.

102 Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, aus dem Französischen von Rüdiger Hentschel und Andreas Knop, in der Reihe Übergänge, hg. von Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels, Band 17, München 1987, 114. Nachfolgende Zitate bis zur nächsten Fußnote ebd.

103 Ebd., 75.

104 Ebd., 115.

105 Jan Kott, Gott – Essen. Interpretationen griechischer Tragödien. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann, Berlin 1991, 15.

106 Die Charakterisierung dieser Ausnahmetragödie als Denkmal richtet sich auch gegen die vielen Versuche, ihren Ausnahmecharakter als Zeitstück aufzuweisen. Die Tatsache, dass Aischylos in der Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.) selbst mitkämpfte und 472 diese Tragödie ‚aus der Sicht der Besiegten/Feinde‘ verfasste, hat zu haltlosen Spekulationen Anlass gegeben. Sie unterstellen die „demokratische Gesinnung“ des Autors und den griechischen Zuschauern seiner Zeit das „ungeheure Gefühl des Triumphs“ bei der Schilderung der Niederlage der Perser, sodass sich die abschließende Klage „mit dem Jubel des Zuhörerkreises vereinigt“ haben soll (Emil Staiger, „Nachwort“, in: Aischylos, Die Perser, Stuttgart 2007). Im Gegensatz dazu Anton Bierl: „Es geht also kaum um die politische Wertung und Beeinflussung des Publikums für den Sieger und den Besiegten, sondern um die ritualisierte, auf Körpergesten und Sprachgewalt reduzierte Inszenierung eines exemplarischen Geschehens“, in: ders., „Zwischen dem Selbst und dem Anderen. Aischylos‘ Perser und das Politische in der antiken Tragödie“, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Dreyer (Hg.), Antike Tragödie heute, Blätter des Deutschen Theaters, Nummer Sechs, Berlin 2007, 49–64, hier 56.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"