Topologie des Chors
von Ulrike Haß
Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)
Assoziationen: Theatergeschichte
Ein Chor kennt keine Selbstbehauptung. Er behauptet sich nicht als Wendepunkt des Geschehens wie Protagonisten, die wie Ödipus zum Beispiel sagen: Ich richte die Stadt wieder auf, ich nehme die Untersuchung selbst in die Hand, ich verspreche, dass ich aufs Ganze gehen werde. Dagegen hält die Figur des Chors ein unausgesprochenes Wissen bereit, das sich etwa so übersetzen ließe: Ich gehe mir selbst voraus, das heißt, dass meine Aufmerksamkeit von woanders herkommt und, ebenso, dass meine Antwort von woanders herkommt. Ich beginne nicht selbst, ich habe den Anfang nicht in der Hand. Vielmehr geschieht mir etwas, indem ich in etwas hineingerate.
Der Chor bildet einen Ort, der zugleich instabil, vielursprünglich und intergenerationell verfasst ist: verschiedene Alter gleichzeitig, ein offenes Gedächtnis und offen für Kommendes zugleich. Die Offenheit, das Offenstehende kennzeichnen diesen Ort vielleicht am allerbesten. Der Chor-Ort ist zugleich flüchtig und ausgedehnt. Als ausgedehnter Ort kann er zugleich als ein Grund verstanden werden, der sich als vorübergehender auszeichnet und daher nicht die Form des Grundlegenden oder Zugrundeliegenden annehmen kann. Der Chor-Ort unterhält besondere Beziehungen zum Grund im Sinne des Erdbodens, der nicht spricht und der sich jenseits des Sinns im Sinne von Bedeutung ereignet. Dieses Jenseits ist weder abgeschlossen noch...