Theater der Zeit

Diskurs

Theaterpädagogik heute – eine Bestandsaufnahme

von Dimo Rieß

Erschienen in: 70 Jahre Zukunft – Theater der Jungen Welt Leipzig (03/2017)

Assoziationen: Theaterpädagogik

»Besser ich«, 2015
»Besser ich«, 2015Foto: Tom Schulze

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Jetzt spielen sie auch noch Theater: Caroline Mährlein und Roland Bedrich springen auf Tische und fordern Leistung. Sie mimen Motivationstrainer. »Besser ich« ist ein Stück, das die gegenwärtige Leistungsgesellschaft hinterfragt. »Besser ich« bewegt sich thematisch und ästhetisch am Puls der Zeit. Aber da ist noch etwas, das auffällt: Mährlein und Bedrich sind keine Schauspieler – sie sind Theaterpädagogen des Theaters der Jungen Welt. Dass sie selbst spielen, ist nur ein Beispiel für den Wandel, den die Theaterpädagogik seit ein paar Jahren erlebt. Das TdJW versteht sich als einer der Schrittmacher: offen für Experimente, neugierig auf Konzepte aus dem Ausland.

Im Sinne der reinen Kunstvermittlung ist Theaterpädagogik ein alter Hut am TdJW. Nur wurde sie lange Zeit als »verlängerter Arm der Dramaturgie« verstanden. Es ging darum, den Spielplan zu begleiten und Inhalte intellektuell zu erschließen. Ein Kernauftrag, der immer noch ernst genommen wird. Etwa mit Publikumsgesprächen oder Premierenklassen, die schon den Probenprozess erleben. Aber das Aufgabenspektrum wächst und die Methoden wandeln sich. Man könnte auch sagen: Die Betonung hat sich verschoben – weg von der Pädagogik, hin zum Theater. »Es geht konsequent um spielerische Aktionen«, so Jürgen Zielinski.

Kinder und Jugendliche erleben die Angebote nicht als Konsumenten von Wissen, sondern – wenn möglich – aktiv und spielerisch in einem angstfreien Raum. Wodurch sie neue Erfahrungen sammeln, sich selbst und andere neu kennen lernen. »Es geht immer um einen humanistischen Kern, um die Förderung von Persönlichkeiten«, sagt Jürgen Zielinski, der von der integrativen Kraft des Theaters überzeugt ist. Entsprechend arbeitet das Team daran, möglichst heterogene Gruppen zu schaffen, über Partnerorganisationen junge Menschen zu integrieren, die sonst nicht den Weg ins Theater finden würden. Zielinski spricht vom permanenten »Spagat zwischen Kunst und Sozialarbeit«. Ihm schwebt eine »Theaterschule für das Leben« vor, künstlerisch und inhaltlich angegliedert an das TdJW zur Stärkung von Identitätsbildung, Inklusion und Integration. Mit Kursen, die künstlerische und handwerkliche Bereiche des Theaters abdecken.

Noch ist das eine Vision. Aber es steht eine Art Fundament aus Erfahrung. Viele Angebote und Spielformen wurden am TdJW ausprobiert. Jede Saison kommen neue hinzu. Etliche haben sich etabliert. Die Teilnehmer als Spieler befähigen und nicht als Zuschauer gewöhnen, lautet ein Credo. Diesem Anspruch folgend startete vor rund zehn Jahren das Theaterforschungslabor. Schüler sind gemeinsam und auf Augenhöhe mit den Laborleitern aktiv, um Fragestellungen zu lösen oder Entdeckungen zu machen. Die Clubs, in denen Laien Theater spielen, existieren in Grundzügen ebenfalls lang. Aber sie wurden zuletzt ausdifferenziert für Schüler, Jugendliche, Studenten oder als Mehrgenerationenangebot. Und längst geht es nicht mehr darum, einfach einen Theatertext umzusetzen. Angeknüpft an die Lebenswirklichkeit der Teilnehmer werden Inhalt und Darstellungsform entwickelt.

Kooperationen stoßen die Türen für ungewöhnliche Erfahrungen auf. Im Club Melo, 2015 zusammen mit der Lebenshilfe Leipzig initiiert, begegnen sich Spieler mit und ohne Behinderung. Auch hier geht es, wie in allen Clubs, letztlich um einen künstlerischen Anspruch. Die Inszenierung »Verlorene Jungs« unter der Leitung von Yvonne Weindel war bereits als Gastspiel unterwegs. Das Beispiel gelebter Inklusion könnte Schule machen. Ebenfalls noch jung ist der Club der Theaterreporter in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur. Schüler ab neun Jahren machen echtes Radio über Theaterthemen.

2015 ging es auch für die ersten Theater-Starter los. In einer Partnerschaft von der zweiten bis zur vierten Klasse werden Grundschüler mit regelmäßigen Besuchen zu Theaterkennern. Für die Theaterpädagogen bietet die langfristige Kooperation die Chance, Wirkungen ihrer Arbeit und Entwicklungen zu beobachten.

Ob in Schulen gastierende Klassenzimmerstücke wie »Besser ich«, Premierenklassen oder Theater-Starter – das Angebot stößt an Kapazitätsgrenzen. Auch deshalb ist es dem TdJW wichtig, über das Kontaktlehrer-Netzwerk Methodenvielfalt in die Schulen zu bringen, die in schulischen Theatergruppen greifen. Dass es funktioniert, sehen die Theaterpädagogen regelmäßig bei Aufführungen im Rahmen der Schülertheatertage.

Außerdem helfen Materialsammlungen, die sich von Schulen auch ohne Stück buchen lassen. Angelehnt an die Inszenierung »Kinder des Holocaust« entstand 2006 am TdJW ein theaterpädagogischer Materialienkoffer, der deutschlandweit von Gedenkstätten und Stiftungen verliehen wird. Ähnlich soll in der Spielzeit 2016/17 die Uraufführung »Juller« über den jüdischen Fußballspieler Julius Hirsch begleitet werden, der einst als Nationalspieler gefeiert und später von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Über »Juller« soll die Brücke zu heutigen Ausgrenzungen im Fußball geschlagen werden, ob rassistisch oder homophob motiviert.

Das theaterpädagogische Engagement bedeutet keine Einbahnstraße. Die Wahrnehmung der Schüler fließt zurück in den künstlerischen Prozess. Das Feedback von Premierenklassen ist für Regie-Teams produktiv. Und Schauspieler setzen sich in gemischten Gruppen mit Laien auseinander, wie in »Brennpunkt: X« geschehen, ein Stück mit TdJW-Schauspielern und Geflüchteten. Zielgruppen künftig noch stärker in die Stückentwicklung zu integrieren, ist eine erklärte Absicht.

Den Begriff Theaterpädagogik und all seinen assoziativen Ballast hat das TdJW längst abgeschüttelt. Der Bereich firmiert seit der Spielzeit 2015/16 unter der Bezeichnung Junge Wildnis und betont damit Experimentierfreude, Offenheit und das beständige Suchen nach dem richtigen Weg.

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