Theater der Zeit

Bericht

Living Matters

Auszug aus der Audiodeskription von Xenia Taniko zu Eva Meyer-Kellers Inszenierung

Laut der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 ist die barrierefreie Teilhabe im öffentlichen und kulturellen Leben ein universelles Menschenrecht. Audiodeskription ist eine Barrierefreiheitspraxis, die Performance, Tanz und Theater für Blinde1 und Sehbehinderte Zuschauer*innen zugänglich macht. Die Performerin und Choreografin Xenia Taniko ist regelmäßig in Audiodeskriptionen in Berlin und deutschlandweit zu hören. Sie arbeitet dafür im Dialog mit Expert*innen wie der Sehbehinderten Künstlerin Sophia Neises und dem Blinden Autor und Fotografen Gerald Pirner. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich dabei etwas von der im vorangegangenen Interview beschriebenen. Im Vorfeld einer Aufführung finden ebenfalls Bühnenbegehung und Tastführung statt, die bereits einen räumlichen und haptischen Eindruck des Settings vermitteln. Zusätzlich verdeutlichen Performer*innen durch Selbstbeschreibungen ihre individuelle Körperlichkeit und Identität in eigenen Worten. Ihre Praxis als Audiobeschreiberin begreift Xenia Taniko über die Serviceleistung zur Barrierefreiheit hinaus auch als künstlerische Arbeit. Ihre Audiodeskriptionen spricht sie meist live und ohne detailliertes Skript, wodurch ihr eigenes Wahrnehmen und Erkennen immer wieder Eingang in die sprachlichen Übersetzungen des Bühnengeschehens findet und sich die Beschreibungen jeden Abend aufs Neue in unterschiedlichen Nuancen verschieben. Auszüge aus ihrer Live-Audiodeskription vom 23. Februar 2020 zu dem Stück „Living Matters“ von Eva Meyer-Keller sind hier verschriftlicht. Sie vermitteln einen Eindruck davon, wie durch Sprache Bilder im Kopf entstehen können und wie das Bühnengeschehen einer Objekttheater-Produktion, in der mehrere visuelle Erzählstränge parallel laufen, auch einem Sehbehinderten und Blinden Publikum zugänglich gemacht werden kann.

von Xenia Taniko

Erschienen in: double 43: Barrieren | frei – Zugänge zum Figurentheater (04/2021)

Assoziationen: Berlin Performance Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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Etwa in der Mitte der Aufführung

[…] Die Projektion ändert sich wieder und es erscheinen zwei sehr unscharfe gelbe Flecken auf einem weißen Hintergrund. Eva schaut sich die Projektion an, während sie die Kamera auf diese leuchtende Oberfläche richtet, wo Annegret jetzt … irgendetwas drüber gelegt hat.

Das Bild wird scharf und die gelben Flecken beginnen sich langsam miteinander zu vereinen, zu verschmelzen. Es scheint, dass Annegret irgendeine Flüssigkeit in die Petrischale gegeben hat und dieser riesengroße Fleck, der die ganze Leinwand füllt, und wo so Fasern drin sind … Ich glaube, es ist ein Stück Kaki, also von der Frucht Kaki, das Annegret jetzt mit irgendeiner Flüssigkeit auflöst. Es sieht aus wie ein Embryo … Das Ganze breitet sich jetzt aus, wird immer heller, vermischt sich mit dem Weiß der Oberfläche und bewegt sich ganz mysteriös. Sodass es morpht, in eine andere Form.

In einem Teil vom Bild sehe ich jetzt auch einen Finger von Annegret oder von Eva, der zittert. Und das, was vorher ein gelbes Stück Kaki war, hat sich jetzt komplett desintegriert, es sind nur noch Fasern, die rumschwimmen, und sich ganz langsam … auch wieder wie so ein Lebewesen mit Fühlern durch das Bild bewegen.

Das Bild hat sich verändert mit einem Blick auf Annegrets Experiment, die jetzt beginnt eine Brombeere mit ihren starken Händen und Fingern zu sezieren und mit einer Pinzette jede einzelne dieser Minibeeren in der Brombeere rauszuziehen und dann in einer Reihe auf einem dunkelgrünen Papiertuch auszubreiten.

Das sieht ziemlich dreckig aus und der Saft saugt sich in … das Papiertuch.

Sie hat jetzt zwei Reihen ausgelegt von diesen Teilen der Brombeere. Ihre Finger sind mittlerweile ganz blau gefärbt, also die Finger der linken Hand, in der sie die Brombeere hält.

Tamara bewegt jetzt die Kamera langsam von dem Tuch nach oben und filmt den Körper von Annegret – hinten auf der Projektion zu sehen. Annegret hält in ihrer Hand eine Petrischale und greift sich mit dem Mittelfinger ins Auge.

Ihre Stirn glitzert und Tamara zoomt heran. Annegret nimmt jetzt ihre Kontaktlinse aus dem Auge und legt sie in die Petrischale. Sie runzelt die Stirn. Sie wischt sich die Hand ab, schaut zur Projektion.

Auf der Projektion ist jetzt eine Nahaufnahme von dem grünen Papierhandtuch zu sehen, auf dem diese schwarzen, blauen, violetten Flecken der sezierten Brombeere in dreieinhalb Reihen zu sehen sind und dadurch, dass sich die Fokussierung der Kamera aber ändert, verändert sich die Farbe von weiß im Hintergrund zu grün. Es ist ein bisschen so … es sieht einfach überhaupt nicht aus wie Brombeere, sondern es sind so kleine, runde, mittlerweile sehr große Tropfen. Und dadurch, dass sich das Licht verändert, scheinen sich diese Tropfen zu bewegen, die sich auch schon in das Papiertuch reingesogen haben.

Die Leinwand zeigt die Bühne von oben und Tamara liegt auf dem Boden, hält den Besen mit der Fegefläche in Richtung ihres Kopfes, fegt den Boden, legt den Besen jetzt hinter den linken Scheinwerfer und schiebt über ihrem Kopf, auf dem Rücken liegend, einen grauen Plastikkarton vor sich her.

Auf der Projektionsfläche erscheint eine Nahaufnahme einer anderen Brombeere, einer ganzen Brombeere, die so groß ist wie die ganze Projektionsfläche. Annegret hält sie unter die Kamera, die von Eva gehalten wird, und es scheint so, als würde sich die Brombeere zu uns bewegen, wie so ein riesiger Planet, und auszubreiten. Und es tritt so roter Saft aus der Brombeere, Annegret drückt die Brombeere gegen diese Oberfläche der Kamera – das heißt die Brombeere breitet sich über den ganzen Bildschirm aus, eine rote Flüssigkeit. Es sieht aus wie Feuerglut, die sich langsam auseinander bewegt. Teile davon bewegen sich durcheinander, schieben sich aneinander vorbei. Teile davon sind sehr schwarz, orange, rot, dazwischen sind Luftblasen und die Bewegung ist faszinierend, weil sie völlig unproportional und groß erscheint.

Hinten gehen jetzt die zwei Scheinwerfer an und Tamara richtet den Besen auf, mit dem Besenstiel senkrecht zum Boden, und schlägt den Besenstiel gegen den Boden. Eine Staubwolke erscheint zwischen den zwei Scheinwerfern, von dem Dreck, den sie im Besen gesammelt hat.

Sie klopft mit einem Handfeger auf die Besenoberfläche und der Staub sammelt sich zwischen den beiden Scheinwerfern sichtbar. Und jetzt, auf ihren Knien hebt sie über ihren Kopf den Kosmetikspiegel mit der Spiegelfläche nach oben senkrecht zum Boden und fängt den Staub auf. Sie legt sich zurück auf den Boden und hält den Kosmetikspiegel hoch, während sie in Richtung Annegret rutscht und Agata greift ihn und reicht ihn Annegret. Sie stellt ihn jetzt zwischen sich und Eva.

Niemand auf der Bühne spricht, die Stimme kommt aus einem Voice-Over. Die Projektionsfläche zeigt jetzt Staub und eine Kamera-linse, die den Spiegel und durch den Staub hindurch filmt. Und dadurch, dass sie jetzt die Kamera scharf stellen auf den Staub, sieht es aus wie ein Sternenhimmel, schwarzer Hintergrund, weiße Partikel, wie die Milchstraße. […]

1 Um zu kennzeichnen, dass es sich bei den verwendeten Begriffen um eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Behinderung handelt, werden die Wörter „Sehbehindert“ und „Blind“ hier und im Folgenden großgeschrieben.

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