Theater der Zeit

Diskurs

Von pluralen Zuständen

Digitalstrategien im Figurentheater

In den vergangenen Jahren, so die Ausgangsbeobachtung, die der inhaltlichen Ausrichtung des speziell für Künstler*innen des Figurentheaters aufgelegten Sonderprogramms KONFIGURATION des Fonds Darstellende Künste zugrunde liegt, rückten die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen der Digitalisierung und den künstlerischen Praktiken des Figuren- und Objekttheaters verstärkt in den Fokus. Beide können eine Stellvertreterschaft des Menschen erzeugen, die sich in Robotern, Avataren, Drohnen, Virtual bzw. Augmented Reality, um nur einige Beispiele zu nennen, ebenso ausdrückt wie im animierten Theaterobjekt. Projektleiterin Christina Röfer gibt beispielhafte Einblicke in einige geförderte Vorhaben und beobachtet verschiedene künstlerische Strategien zum Umgang mit dem Digitalen.

von Christina Röfer

Erschienen in: double 42: Kultur erben – Generationenwechsel im Theater der Dinge (11/2020)

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Wissenschaft

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Digitalisierung (von lat. digitus, Finger und engl. digit, Ziffer) meint in der ursprünglichen Bedeutung zunächst einmal die „Umwandlung von analogen Werten in digitale Formate“ sowie deren Verarbeitung und Speicherung. Wir haben es also im Grunde mit einer Art Übersetzungsleistung zu tun, in deren Rahmen eine analog vorliegende Information, oft über mehrere Stufen, in ein numerisches, digitales Signal umgewandelt und eine Simulation der Ausgangsdaten erschaffen wird, die unsere Sinne wiederum über diese Umwandlung hinwegtäuscht.1 Die technische Infrastruktur, den Code, könnte man als Hintergrundebene des Digitalen beschreiben. Vordergründig für unseren Blick sichtbar manifestiert sich die Übersetzungsleistung u. a. in Geräten wie Smartphones, Computern oder Anwendungen wie Google und Facebook sowie unserer alltäglichen Handhabung derselben.2 Die Verwendung digitaler Technik, insbesondere in der Kommunikation, geht dann wiederum mit der Beschreibung eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels einher, der sich über diverse Bereiche unseres Alltags erstreckt und für den die Bezeichnung Digitalisierung inzwischen weitaus häufiger Verwendung findet als für ihre ursprüngliche Bedeutung.

Beide Stränge lassen sich auch im zeitgenössischen Puppen-, Figuren- und Objekttheater wiederfinden. So kommt nicht nur digitale Technik auf der Ebene der Spielmaterialien zum Einsatz, sondern auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Diskursen, die die Position des Menschen in einer digitalisierten Umwelt verhandeln, ist verstärkt zu beobachten.

Digitales auf der Bühne

Auch in den geförderten Vorhaben des Programms kristallisierten sich unterschiedliche Strategien zur Erforschung der Operations- und Wirkungsweisen digitaler Mittel und deren Nutzbarmachung für die Erzählwelten des Theaters heraus – und das mitunter sogar im buchstäblichen Sinne.

So forschte Yvonne Dicketmüller zusammen mit der Medienkünstlerin Anna Blumenkranz zu „E-Textiles im Figurentheater“, um diese für den Bau von interaktiven Figuren und Kostümen anwendbar zu machen. Indem sie zum Beispiel textile Flächen mit leitenden Garnen bestickten, die durch Aktivierung eines vorgelagerten Schaltkreises erhitzt werden und die dadurch ihre Farbe oder Form ändern, oder indem sie Kristalle auf LEDs züchteten und diese von innen heraus leuchten ließen, fanden sie ungewöhnliche Wege der Animation.

Die schrittweise Übertragung von analogen Objekten und Szenarien in eine virtuelle Realität im Rahmen des Gamedesigns erforschte das Fundus Theater in ihrem vornehmlich an Kinder gerichteten Workshop „Spielewelten“, in dem diese als Spieleexpert*innen mit Alltagsgegenständen und Spielzeugfiguren in kleinen Sandkästen eigene Welten erschaffen und diese bespielen konnten. Mit einer 360 Grad-Kamera wurden diese abgefilmt und live auf eine Leinwand übertragen, bevor die Kinder ihre Kreationen dann mittels einer VR-Brille als virtuelle Welt durchlaufen konnten. Auch das Kollektiv Anna Kpok experimentierte im internen Forschungslabor „Multi Layered-Theatre“ zu Strategien der Einbindung von digitalen Realitätsebenen in Live-Game-Theatresettings. Als Vorrecherche zu ihrer neuen interaktiven Produktion „Shell Game – Lost in Paranoialand“ beschäftigten sie sich mit der technischen und dramaturgischen Einbindung von Objekten mittels Augmented Reality – einer Technik, bei der der Blick auf die analoge Umwelt um einzelne virtuelle Elemente erweitert, also durch zusätzliche Informationen ergänzt wird.

Andere Vorhaben rückten über die Beschäftigung mit der Technik diese als Spiegel bzw. Gegenstück des Menschen ins Zentrum. Vor dem Hintergrund des Pygmalion-Mythos aus den Ovid’schen „Metamorphosen“ befragen Meinhardt & Krauss in „ELIZA – Uncanny Love“ die Faszination des Menschen für die Erschaffung eines künstlichen Gegenübers und lassen den Performer Ludger Lamers einen aus elektrischen Körperteilen bestehenden übergroßen Roboter erbauen, mit dem er dann in einen tänzerischen Dialog tritt, der Fragen von Natürlichkeit und Künstlichkeit ebenso aufwirft wie solche nach Machtverhältnissen in der Beziehung zwischen Mensch und Maschine. In „Noboy lives here (ODO)“ von Chris Ziegler/movingimages wird wiederum in Anlehnung an den gleichnamigen Shapeshifter aus Star Trek ein Bühnenroboter aus kinetischen Lichtobjekten entworfen, der mit den Besucher*innen der Installation als körperlose Stimme in Kontakt tritt. Dabei macht ODO sich ein Bild von seiner Umgebung, lernt aus den via Smartphone geführten Chat-Konversationen und reagiert mit Bewegung der Lichtobjekte auf die physische Präsenz der menschlichen Interaktionspartner*innen.

Digitalisierung im gesellschaftlichen Diskurs

Die gesellschaftliche Verhandlung des digitalen Wandels wurde ebenfalls auf vielfältige Art im Programm thematisiert. So wie etwa beim Holzwurm Theater, in dessen Produktion „Amy, Tarik und das Herz-Emoji“ das Phänomen des Cybermobbing in der Schule aufgriffen und die Dynamiken und Wirkungsweisen desselben mittels Holzpuppen sowie digital projizierten Chatverläufen und Einspielern kurzer animierter Filmsequenzen nachvollzogen werden.

Die scheinzeitmenschen (Valeska Klug und Birk-André Hildebrand) verknüpfen zeitliche und räumliche Ebenen einer digital vernetzten Kommunikation mit dem Internetphänomen des „Unboxing“, bei dem sich Personen dabei filmen, wie sie ein bestelltes Produkt aus seiner Verpackung nehmen und testen, während sie den Vorgang kommentieren. In „12 acts of unboxing“ wird das Publikum eingeladen, unterschiedliche Gegenstände, die verschiedenen Orten der Stadt entstammen, auszupacken und diese spielerisch zu untersuchen. Werden sie mit bestimmten Sensoren in Kontakt gebracht, lösen diese wiederum Reaktionen im Raum aus und ändern so etwa die Lichtstimmung oder aktivieren eine Nebelmaschine. Zugleich senden sie jedoch auch Impulse aus, die nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sondern an den Ursprungsorten der Gegenstände eine Reaktion in Gang bringen. Diese offenbart sich einem zufälligen Publikum, das wiederum den Auslöser der künstlerischen Ereignisse nicht sieht bzw. kennt. So findet das Kollektiv Bilder und Übersetzungen für die digitale Vernetzung und die potenzielle Gleichzeitigkeit des Digitalen, während sie zugleich die abstrakten Prozesse der Datenverarbeitung konkret erfahrbar machen.

Auch das deutsch-chilenische El Cuco Projekt (Sonia Franken und Gonzalo Barahona) setzt im reduzierten Setting eines Warteraums auf die Erfahrung der Zuschauer*innen. Während die Mischwesen mit menschlichem Körper und hyperrealistischen Echsenköpfen im Verlauf von „SCREA!MING MATTER“ immer mehr verfremden, sich zunächst aufrecht, dann reptilienartig lauernd und ruckartig über die Bühne bewegen, wird die beiläufige Dauerbeschallung aus Werbung, Serien und Nachrichten, die auf der Leinwand im Hintergrund zu sehen ist, immer konkreter und zeigt schließlich Ausschnitte von den aktuellen Protesten der Demokratiebewegungen in Chile und Hongkong. Im Spiel mit Kontrasten arbeiten El Cuco Projekt dabei Mechanismen des Digitalen heraus, etwa wenn sich die Performer*innen jeweils entweder im eindeutigen Zustand der Bewegung oder des Stillstands befinden (1 oder 0), diesen jedoch direkt wieder verwischen, indem sie z. B. gleichzeitig Mensch und Tier verkörpern. Die zugleich gegenwartsbezogene, wie aus der Zeit gefallene Dystopie benutzt das Bild des robusten Urzeit-Reptils, um den modernen Menschen und seine Hybris spielerisch zu hinterfragen. Worauf warten wir denn eigentlich? Warum tun wir nichts? Welche Verantwortung tragen wir als Teil der vernetzten Weltgemeinschaft? Und was bedeutet körperliche Anwesenheit in Zeiten digitaler (Protest)Kultur? „SCREAM!NG MATTER“ erzählt von einer komplexen Gesellschaft in pluralen Zuständen und macht nicht nur eindrucksvoll deutlich, dass Vergangenheit und Zukunft immer auch Teil der Gegenwart sind, sondern auch, dass sich analoge und digitale Welt längst nicht mehr voneinander trennen lassen.

Zwischen den Welten

In der von über 20 Künstler*innen entworfenen Großinstallation „The Temple“ (siehe auch S. 39) konnten die einzeln in den Leipziger Westflügel eingelassenen Besucher*innen schließlich in komplexe Sphären zwischen analoger und digitaler Welt eintauchen. Statt einer einheitlichen, kohärenten Erzählung versammelte diese „begehbare Zukunftsvision“ vielmehr Bilder, Emotionen, Bruchstücke und vielschichtige, zum Teil zutiefst widersprüchliche Perspektiven – und ließ damit die Strategien und Wirkungsweisen des Digitalen im Kern erfahrbar werden.

Die im Sonderprogramm KONFIGURATION geförderten Vorhaben wurden maßgeblich zwischen August 2019 und September 2020 umgesetzt. Weitere Informationen unter www.fonds-daku.de/sonderprogramm-konfiguration/

1 Vgl. Schanze, Helmut (2002): „Digitalisierung“, in ders. (Hg): Metzler Lexikon Medientheorie/Medienwissenschaft, J.B. Metzler Verlag Stuttgart, S. 64f.

2 Vgl. Vašek, Thomas: „Die Realität des Möglichen“, in Hohe Luft kompakt: Total digital! Total menschlich? (Sonderheft 2/2018), S. 7f.

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