Betrachtet man, geleitet vom gegenwärtigen medialen Diskurs, das ein- und abgrenzende Konstrukt Europa als ein ‚Wertegebäude‘, so rücken drei poröse Grundpfeiler in den Blick: der demokratische Grundsatz der Freiheit, jener der Gleichheit und das Prinzip der Gastfreundschaft – drei Säulen, die sich in Zeiten eines zerbröckelnden Europas als Mythen dekuvrieren lassen, wie Elfriede Jelineks Hiketiden-Fortschreibung Die Schutzbefohlenen zeigt. Doch lässt sich das dramaturgische Verfahren des intertextuellen Andockens an Aischylos’ Tragödie, dessen sich die österreichische Nobelpreisträgerin bedient, nicht auf eine von der Forschung vielfach bemühte Mythendekonstruktion limitieren. Vielmehr fokussiert Jelinek durch dieses Prozedere, so die These, auf die gesellschaftspolitischen Bedeutungsverschiebungen, die mit dem Prozess der Mythosübertragung von der epischen Diskursform in jene der Tragödie einhergegangen sind. Schließlich rührt Jelineks Tragödienfortschreibung an eine Zeit des Um- und Aufbruchs, in der sich die Idee der Demokratie – ebenso wie jene des Theaters – auf dem Prüfstand befand. Der Gastfreundschaft kam in diesem Prozess des Austestens, wie man anhand von Aischylos’ Hiketiden nachvollziehen kann, eine Schlüsselfunktion zu. Ausgehend von diesen Überlegungen fragt der vorliegende Beitrag nach Inklusionen und Exklusionen, die das Konzept Europa mit seinen vielfach beschworenen Werten generiert, und danach, wie Theater solche Ein- und Ausschlüsse mitgeneriert bzw. reproduziert. Zu dies...