Theater der Zeit

Robert Wilsons Theater der Verklärung

von Erika Fischer-Lichte

Erschienen in: Recherchen 51: Realistisches Musiktheater – Walter Felsenstein: Geschichte, Erben, Gegenpositionen (06/2008)

Assoziationen: Wissenschaft Musiktheater Nordamerika Robert Wilson

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1. Wilsons Theater – kein realistisches Musiktheater

 

For years, going to the theatre was about questions and answers. Why has King Hamlet’s ghost returned, and what will the Prince do about it? How will Madame Ranevskaya save her cherry orchard? Who is afraid of Virginia Woolf?

In the new theatre, however, questions are neither asked nor answered. Going to the theatre becomes an abstract experience, like going to a symphony, or a Balanchine ballet, or a show of modern art. The audience is offered not thought, but sensation.1

 

Die Ästhetik dieses neuen Theaters entwickelte u. a. Robert Wilson seit den ausgehenden sechziger Jahren in Aufführungen, die das Programm der historischen Avantgardebewegungen – eines Appia und Craig, des Bauhaus-Theaters und des französischen Surrealismus – wieder aufzugreifen und zu vollenden schienen:2 „Retheatralisierung“ des Theaters als radikale Abwendung vom literarischen Theater, welches die westliche Kultur seit Beginn der Neuzeit dominierte. Deafman Glance (1971), Einstein on the Beach (1976) und the CIVIL warS (1983/84) markierten als vollendete Ausprägungen dieser Ästhetik zugleich Höhepunkte in ihrer Entwicklung.3

Es mag kaum überraschen, dass Wilson sich Mitte der achtziger Jahre der Opernregie zuwandte – immerhin trugen viele seiner Inszenierungen die Gattungsbezeichnung „Opera“. 1984 inszenierte er Charpentiers Médée, womit er an sein „work in progress“ Medea anknüpfte (1980 in Washington, 1982 in New York, 1984 parallel zu Médée in Lyon); 1986 Glucks Alceste in Stuttgart und 1987 Strauss’ Salome in Mailand, um nur die ersten Beispiele zu nennen. Es mag allerdings durchaus erstaunen, dass Wilson anschließend anfing, Dramen zu inszenieren: 1986 realisierte er Heiner Müllers Hamletmaschine (in New York und Hamburg) und dessen Quartett (in Stuttgart). Zwar bestand eine Zusammenarbeit zwischen Heiner Müller und Robert Wilson schon seit den frühen achtziger Jahren (Heiner Müller hatte die Textcollagen für Akt IV des deutschen Teils der CIVIL warS vorgenommen),4 und es lag in gewisser Weise nahe, diese Zusammenarbeit auch auf Müllers eigene Texte auszudehnen. Aber Wilson ließ es dabei nicht bewenden. So inszenierte er in den unmittelbar folgenden Jahren parallel zur Oper Alceste Euripides’ Alkestis (Stuttgart 1986), Dorsts Parzival(Hamburg 1987), Tschechows Schwanengesang (München 1989) und Shakespeares King Lear (im Straßenbahndepot in Frankfurt am Main 1990).

Die Wahl der Shakespeare-Tragödie rückte Wilson nun allerdings in eine bestimmte Traditionslinie des Gegenwartstheaters: Mit der Inszenierung des Lear hatten Regisseure wie Peter Brook (1962 in Stratford), Peter Zadek (1974 in Bochum), Ingmar Bergmann (1984 in Stockholm) oder Klaus Michael Grüber (1985 in Berlin) den Nachweis zu führen gesucht, dass die von ihnen entwickelte, je besondere Theaterästhetik imstande ist, neue Aspekte, wenn nicht gar eine neue Lesart der alten Tragöde zu erschließen. Dieser Gesichtspunkt war offensichtlich auch für Wilson nicht ohne Belang; in einem Interview bestimmte er es als „die Aufgabe der Avantgarde, die Klassiker neu zu entdecken“.5Andererseits ist Wilsons notorische Ablehnung jeglicher Interpretation nur allzu bekannt:

 

Mir liegt an literarischen Texten, nur die Art, wie sie üblicherweise auf der Bühne dargeboten werden, finde ich nach wie vor furchtbar […]. Zuhause für mich kann ich ein Stück wieder und wieder lesen, zum Beispiel „Hamlet“, mit großem Vergnügen, ich entdecke darin eine immer neue Vielfalt von Möglichkeiten, von Bedeutungen. Im Theater jedoch, in der Regel, finde ich von diesem Reichtum nichts wieder. Die Schauspieler interpretieren den Text, sie treten auf, als wüßten sie alles und hätten alles verstanden, und das ist eine Lüge, ein Schwindel, das beleidigt mich. Ich glaube nicht, daß Shakespeare „Hamlet“ verstanden hat. Theater soll nicht interpretieren, sondern uns die Möglichkeit geben, ein Werk zu betrachten und darüber nachzudenken. Wenn man so tut, als hätte man alles begriffen, ist das Werk erledigt. Und „Hamlet“ ist nicht erledigt, er lebt, er lebt durch die Vielschichtigkeit der Formen und Bedeutungen […]. Es ist nicht unsere Aufgabe, Antworten zu geben, sondern Fragen möglich zu machen. Wir müssen fragen, dann öffnet der Text sich, und dann entsteht ein Dialog mit dem Publikum.6

 

Es handelt sich also bei Wilsons Theater ganz offensichtlich nicht um ein Theater der Interpretation. Ob seine Inszenierungen als Performance zu begreifen sind, als Inszenierungen von Opern oder Dramen, ob es sich also um Einstein on the Beach, Gucks Alceste oder Shakespeares Lear handelt, wir haben es immer mit einem Theater zu tun, das als eine spezifische Form des Musiktheaters begreifbar ist. Alle Inszenierungen Robert Wilsons stellen musikalische Kompositionen dar. Die Komponisten, mit denen Wilson vorzugsweise zusammenarbeitet, wie Philipp Glass, David Byrnes, Hans-Peter Kuhn, setzen auch Laute wie Hundegebell, Gläserklirren, Windgeräusch kompositorisch ein. Jede Inszenierung ist nicht nur nach musikalischen Prinzipien aufgebaut, indem sie zum Beispiel mit Leitmotiven oder mit Thema und Variation arbeitet, sondern ganz und gar durchkomponiert. Wilsons Theater ist also als eine spezifische Form des Musiktheaters zu verstehen, das jedoch den Ansprüchen und dem Programm eines realistischen Musiktheaters diametral entgegengesetzt ist.

Als der Zuschauer zum Beispiel bei Wilsons Inszenierung des Lear das Bockenheimer Depot betrat, sah er sich mit einer offenen Guckkastenbühne konfrontiert, die an beiden Seiten von mehreren Reihen schwarzer Kulissen und an der Rückwand von einer weißen Leinwand abgeschlossen wurde. Nach vorne wurde sie durch eine mit schwarzem Bodentuch bezogene Vorderbühne erweitert, die rechts und links über rampenartige Aufgänge begehbar war. Quer über die Mitte des Bühnenbodens war aus Licht ein Blitz gelegt; vor dem Übergang zur Vorderbühne steckte in der Mitte der Bühne aufrecht ein dünner, ungefähr ein Meter hoher Stab, der einen „Schatten“ aus Licht nach links vorne auf den Bühnenboden warf.

Als es dunkel wurde, erloschen Blitz und Schatten, ein flirrendes, sirrendes Geräusch setzte ein sowie ein dumpfer Trommelwirbel (Musik: Hans-Peter Kuhn). Quer über das Bühnenportal wanderte aufrecht von links nach rechts ein schmaler Stab aus Licht, der den Zuschauer blendete. Als der Effekt der Blendung vorüber war, erblickte der Zuschauer auf der Bühne über den ganzen Bühnenraum (Vorderbühne ausgeschlossen) verteilt zwölf Figuren, die in bodenlange königsblaue Mäntel gekleidet waren. Jede Figur vollzog mit den Fingern eine langsame, stilisierte, bei jedem andere Bewegung des Aufknöpfens.

Der den Beginn des Prologs A markierende bühnenportalhohe Lichtstab wanderte nach der Pause von links nach rechts zurück. Die Trommelwirbel ertönten in spezifischen Zeitabständen im gesamten Verlauf der Aufführung zu wiederholten Malen. Das Tableau der Figuren, welches Prolog A präsentierte, beschloss, wenn auch mit anderer Anordnung der Figuren und ohne die blauen Mäntel, die Aufführung.

Aus diesem Befund lassen sich zwei allgemeine Schlüsse ziehen:

1) Die Aufführung ist nach musikalischen Prinzipien aufgebaut und strukturiert: im Prolog A werden in den verschiedenen Zeichensystemen (Geste, Sprache, Requisiten, Licht, Musik, Proxemik) eine Reihe von Leitmotiven eingeführt, die in den nachfolgenden Szenen in einem andern oder auch zum Teil im selben Zeichensystem aufgegriffen, wiederholt oder variiert werden. Die Geschichte, welche die Tragödie in fünf Akte gegliedert erzählt, wird von dieser Struktur aufgelöst in eine rhythmisierte Abfolge von Situationen, Motiven, Bildern. Dem entspricht die dramaturgische Bearbeitung des Textes, welche die Gliederung in fünf Akte in eine Folge von 15 Szenen mit zwei Prologen transformiert.7

2) Die Worte des Gedichtes ebenso wie die Geste des Aufknöpfens in ihrem Bezug auf Lears Worte in III,4 und V,3 nehmen eine spezifische Rezeptionslenkung vor, die eine erste probeweise Semantisierung der eingeführten Elemente erlaubt, wenn nicht gar suggeriert: Das Thema „Tod“ ist angeschlagen, das bereits in den beiden Produktionen von Death, Destruction & Detroit I (1979) und II (1987) alludiert und in den beiden parallelen Inszenierungen von Alceste und Alkestis durchgeführt wurde. Im Lear wurde es allerdings vom Prolog A gleich in einer charakteristischen Variante eingeführt: Markiert wurde der Übergang, der Prozess des Sterbens. Wilsons Lear ist insofern der Gruppe seiner Inszenierungen zuzurechnen, die man unter dem Begriff Wilsons „Theater des Todes“ zusammenfassen könnte.

Das Sterben vollzog sich in Räumen, die mit ihrem hohen Grad an Reduktion an die japanische Nô-Bühne erinnerten.8Der Grundtypus war mit dem oben beschriebenen Raum gegeben. Die weiße Leinwand – die Rückwand, die im Nô-Theater mit einer Kiefer bemalt ist – blieb hier meist leer. In den Edmund-Szenen wurde ein blauer Sternenhimmel auf sie projiziert; bei Edgars Flucht (Szene 4; II,3) erschien eine rotgraue Strukturierung auf ihr; zum Beginn des Sturms auf der Heide erinnerte eine sich verändernde graue Projektion an Gewitterwolken. Meist fungierte die Leinwand jedoch nur als Reflektionsfläche für das ständig wechselnde Licht. In Szene 7 (III,7), der ersten Szene nach der Pause, in der Gloucesters Blendung vollzogen wurde, war die Leinwand mit einem schwarzen Tuch verhängt. Als im Übergang zur nächsten Szene (IV,1) der geblendete Gloucester allein auf der Bühne zurückblieb, fiel das Tuch ruckartig von der Leinwand, die eine gleißende Helligkeit zurückwarf, so dass die Zuschauer geblendet für einen Augenblick die Augen schließen mussten.

Das wichtigste Mittel zur Gestaltung der Räume war das Licht, das ständig wechselnd auf die Leinwand, auf die Bühne und auf die Figuren fiel. Die Räume waren insofern im ganz wörtlichen Sinn als Lichträume zu begreifen.

Neben die Lichträume traten die Klangräume. Die Aufführung wurde einerseits durch die Repetition und Variation der Trommeln strukturiert, andererseits durch das Hinzutreten einer Fülle verschiedener Geräusche, Laute und Tonfolgen: Sirrende Geräusche, die auf- und abschwollen, waren z. B. im Prolog B (I,1) und Szene 2B (I,4) zu hören, Vogelschreie in den Szenen 1 (I,2), 12 (IV,6), 14 (V,2) und 15 (V,3), Gewittergeräusche in den Szenen 6A (III,2) und 6B (III,4), ferne Rufe und Stimmengewirr in den Szenen 11 (IV,4), 12 (IV,6), 13 (IV,7) und 14 (V,2), Flötenmusik in den Szenen 6B (III,4), 6C (III,6), 7 (III,7), 8 (IV,1) und 9 (IV,2) und vieles andere mehr. Die kontinuierliche Folge und Überlagerung von Lauten wurde nur in zwei Szenen von längeren Perioden der Stille unterbrochen: In 6B (III,4) setzten die Gewittergeräusche zwischenzeitlich aus, so dass zwischen Lears Worten Stille entstand, ehe bei V. 103 ff. das Geräusch fallender Wassertropfen einsetzte, das den Ausbruch des Wahnsinns markierte; und in Szene 7 (III,7) wurde die von metallenen Schlaggeräuschen begleitete Folterung Gloucesters immer wieder von Momenten der Stille unterbrochen. Die Laute stellten so spezifische Klangräume her, welche die Lichträume kreuzten und überlagerten.

Inwiefern es sich bei Wilson nicht um ein realistisches Musiktheater handelt, zeigt sich vor allem im Umgang mit dem Körper des Performers, Schauspielers, Sängers sowie im Einsatz des Lichtes.

 

2. Der Körper des Akteurs als Kunstwerk

Wilsons Theater ist wegen seines exzessiven Gebrauchs der neuen Medien häufig als Infragestellung, wenn nicht gar als Ende der Live-Performance bezeichnet worden. Welche Möglichkeiten auch immer die neuen Medien bieten, sie werden von Wilson ergriffen und entweder selbst als theatrale Zeichen oder zur Produktion neuer theatraler Zeichen ausgebeutet. Die Annäherung an die neuen Medien geht so weit, dass ein Kritiker behaupten konnte, Wilsons Theater entfalte „oberflächlich eine Bildästhetik, die der neuer Videoverfahren, elektronischer Mischtechniken, Paintbox-Effekten und der Computer-Animation nicht unähnlich“ sei. „Alles ließe sich auf dem Bildschirm komponieren.“9

Mit dieser Behauptung konnte Wilson sich jedoch nicht einverstanden erklären:

 

Ich bin mir nicht sicher, ob das mit Computergraphik etwa ginge. Zwar mag sein, dass der Schauspieler eine genaue Zeitangabe hat. Er bewegt seine Hand zur Teetasse in 14 Sekunden: Er hält still für 5 Sekunden, dreht seine Hand nach innen für drei, hält still für fünf, nimmt die Tasse in einer Sekunde. Das ist nur die Form und die ist langweilig. Aber das, was er fühlt in diesem Moment, wenn er die Bewegungslinie vollzieht, das macht es interessant. Dass es ein Mensch tut, das interessiert mich. Die Maschine würde mich nicht so interessieren. Es interessiert mich einfach mehr, wenn es live passiert und wie der Darsteller die Bewegung vollzieht. Je mechanischer der Schauspieler wirkt, je mehr er wie eine Maschine wirkt, desto interessanter ist es, trotzdem würde es mich nicht interessieren, wenn eine Maschine es täte.10

 

Der aufwendige Einsatz der neuen Medien in Wilsons Theater darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihm die physische Präsenz des Schauspielers – bzw. Performers – unabdingbar und unersetzlich ist. Mit dieser Einsicht ist zugleich die Frage nach der Funktion gestellt, die der Körper des Schauspielers in Wilsons Theater übernimmt. Diese Frage lässt sich vielleicht am ehesten durch negative Abgrenzung beantworten. Bereits in Wilsons frühen Produktionen ist den Kritikern aufgefallen, dass seine Performer keine Rollen spielen. Dies hat sich auch bis zu Wilsons Produktionen nicht geändert, in denen er mit dramatischen Texten gearbeitet hat.

Wilson geht von der jeweiligen Körperlichkeit des Schauspielers aus: „Ich beobachte den Schauspieler, beobachte seinen Körper, höre auf seine Stimme und dann versuche ich mit ihnen zusammen das Stück zu machen.“11 Dabei hebt er vor allem auf die jeweilige, ganz individuelle Eigenart des betreffenden Laien, Schauspielschülers, Performers oder Schauspielers ab, mit dem er gerade arbeitet:

 

Sehen Sie, bei einer Schauspielerin wie Christine Oesterlein sind die Augen derart ausdrucksstark, auch wenn sie sich fast nicht bewegt. Es ist so erschütternd und durchdringend [...]. Manchmal, wenn sie bloß so dasitzt, ist es so voller Kraft. Nur wenige Menschen können sowas auf der Bühne [...]. Die meisten Schauspieler würden wie eine Statue wirken, aber sie ist immer lebendig und gefährlich, geheimnisvoll [...]. Das ist etwas ganz Besonderes in ihr, das nur die wenigsten könnten. Ich weiß, das war für sie bestimmt.12

 

Die, wie Ivan Nagel sich ausdrückt, von Wilson zu ihrem „spezifischen Genie“ befreiten Schauspieler machen nun auf der Bühne nach herkömmlichen Kriterien äußerst wenig: Sie treten auf und gehen über die Bühne, sie bleiben stehen oder setzen sich, sie sitzen unbeweglich auf einem Stuhl; sie heben eine Hand, einen Arm, ein Bein und/oder verziehen ihr Gesicht zu einem Lächeln. Das heißt, sie führen einerseits Bewegungen durch, die in gewissem Sinne das Grundvokabular der Bühne bilden: Auftreten, Über-die-Bühne-Gehen, Stehen, Sich-Setzen, Sitzen, Sich-Legen, Liegen, Aufstehen, Abgehen. Andererseits nehmen sie ausgesprochen unübliche Positionen ein: Sie hängen am Tau (Golden Windows), sie balancieren an einer Leiter (the CIVIL warS). Alle Bewegungen werden nach rhythmischen und geometrischen Patterns und überwiegend in Zeitlupentempo vollzogen.13

Der Körper des Schauspielers und seine Bewegungen fungieren dabei nicht als Zeichen: Er ist einfach nur auf der Bühne präsent und führt die Bewegungen aus, ohne dass sie irgendetwas anderes als sie selbst bedeuten sollen. Wenn der Schauspieler sitzt, dann bedeutet das nicht, dass eine Rollenfigur – etwa Parzival – nachdenkt oder sich ausruht; wenn er/sie über die Bühne schreitet, soll nicht gezeigt werden, dass eine Rollenfigur – etwa Friedrich der Große – sich aufmacht, die Truppen zu inspizieren, sondern einfach, dass die Schauspielerin Ingrid André über die Bühne schreitet.

Die Knee Plays (1984), in denen Wilson auf Konventionen des japanischen Theaters zurückgriff, stellten den amerikanischen Beitrag zu seinem Monumentalunternehmen der CIVIL warS dar, deren übrige Beiträge in Köln, Marseille-Lyon-Nizza, Rom, Rotterdam und Tokio produziert wurden. Das Projekt sollte in einem 24-Stunden-Spektakel anlässlich der Olympischen Spiele in Los Angeles 1984 mit allen Teilen gezeigt werden, was aus finanziellen Gründen unterblieb. Die 17 Szenen der Knee Plays waren als Gelenkstücke bzw. Zwischenspiele zwischen den einzelnen Szenen der fünf Akte der CIVIL warS geplant.

Der Rekurs auf das japanische Theater war sowohl ideologisch als auch thematisch begründet. Im amerikanischen Programmheft (Minneapolis) wurde folgender Anspruch erhoben: „The Knee Plays for the CIVIL warS reflects a joining of cultures, particularly those of Japan and America. The plays’ poetic visions, their dance and design, suggest the rich exchange between those two countries.“ Damit wird die Schlussfolgerung nahegelegt, dass es hier um eine – wie auch immer durchgeführte – Vermittlung zwischen zwei einander fremden Kulturen geht.

Der ernsthafte Bezug Wilsons auf die japanische Kultur wird durch die Beteiligung japanischer Mitarbeiter an der Produktion zusätzlich dokumentiert. Der Designer Jun Matsuno, der für das Bunraku-Theater in Osaka arbeitet, entwarf mit Wilson zusammen die Objekte. Suzushi Hanayagi, eine Tänzerin des klassischen jiutamai, choreografierte die Tänze und Bewegungspatterns für die Inszenierung. Insofern waren die Voraussetzungen dafür gegeben, dass die entsprechenden Konventionen des japanischen Theaters auch in das westliche Theater transferiert werden konnten.

In den drei „noh-walks“ waren die Schauspieler (ebenso wie im „hand dance“) ohne Objekte auf der Bühne gegenwärtig. Für diese Gänge hatte Wilson die spezifische Art des Gehens aus dem Nô-Theater übernommen. Die Ausgangsposition für das Gehen ist im Nô durch eine Zentrierung des Körpers im Beckenbereich gekennzeichnet; die Knie sind leicht gebeugt, die Wirbelsäule ist nach oben gestreckt. Von dieser Ausgangsposition her sind unterschiedliche Arten der Fußhaltung und des Gehens für die Figuren Mann, Frau, Krieger und Mönch entwickelt. Während eine Frauengestalt beide Füße eng aneinanderstellt, sind die Fußspitzen bei der männlichen Figur leicht geöffnet, bei Kriegern darüber hinaus noch die Fersen etwas abgerückt; der Mönch, der als geschlechtsneutrales Wesen gilt, vereinigt Merkmale der männlichen und der weiblichen Fußhaltung: Die Beine sind etwas weiter geöffnet (wie beim Mann), die Fußspitzen jedoch beim Gehen einwärts gekehrt (was als vornehme Art weiblichen Gehens angesehen wird).

Die Fußflächen werden bei allen Personen stets parallel zum Boden gehalten. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Personen würden über den Boden gleiten. Die Arme werden in einer leichten Entfernung vom Körper gehalten, und die Ellbogen zeigen nach außen, so dass zwischen Rumpf und Arminnenseite ein Zwischenraum entsteht; Daumen und Zeigefinger berühren sich ganz leicht an der Spitze, als würden sie einen Ärmel halten. Wie Stiller ausführt, ist „der gesamte Noo-Tanz, in seiner Form auch [...] eigentlich nichts anderes als Gehen in seinen Abwandlungen: schlurfendes Gehen, stampfendes Gehen / Geraden Gehen / Kurven Gehen / innehaltendes Gehen / hervorschießendes Gehen / stehendes Gehen“.14 Die mit äußerster Langsamkeit ausgeführten Bewegungsabläufe im Nô dienen weder der Mitteilung einer Handlung – wie: die Figur geht ins Dorf – noch auch dem Ausdruck eines Gefühls – wie: die Figur läuft schnell aus Freude. Sie haben höchsten symbolischen Wert und entsprechen dem ästhetischen Ideal des Zen: In äußerst reduzierten Zeichen komprimieren sie die Essenz von Handlung und Gefühl.

Bei Wilson war die Bühne während der „noh-walks“ vollkommen leer. Allerdings wurde der leere Raum zeitweilig durch Lichtpunkte, -kreise und -quadrate strukturiert, was die Abstraktheit der Bewegungen markierte. In allen drei „noh-walks“ bewegten sich die Schauspieler von links nach rechts über die Bühne. Die erste Phase verlief jeweils gleich, in der zweiten dagegen nahm die Komplexität der Bewegungsmuster im zweiten und vor allem im dritten „noh-walk“ erheblich zu. Die Geraden des ersten wurden zunächst durch Kreisbewegungen variiert, im dritten darüber hinaus durch Rückwärtsgehen und Bewegungen auf der Stelle.

Wilson arbeitet seit seinen ersten Produktionen mit dem Prinzip einer prononcierten Form von slow motion, was die Theaterkritik von Anfang an mit Befremden notierte. Die Bewegungen der Schauspieler werden in Wilsons Theater – vor allem in seinen Arbeiten bis Anfang der neunziger Jahre – generell so langsam ausgeführt, dass sie kaum mehr als Zeichen für Handlungen und Gefühle wahrgenommen werden. Sie erscheinen vielmehr als reine, abstrakte Formen, die sich allenfalls zu den Bewegungen der Objekte oder des Lichtes in Beziehung setzen lassen, so dass sie in ihrer Gesamtheit als ein abstraktes Bewegungspattern rezipiert werden. Diesem Prinzip lassen sich auch die „noh-walks“ zuordnen.

Wilson übernahm in seinen „noh-walks“ Konventionen des japanischen Theaters weitgehend „korrekt“; dennoch erfüllten sie bei ihm grundsätzlich andere Funktionen als im japanischen Theater. Die sich bewegenden oder ruhenden Körper der Akteure wurden jeweils in ihrer spezifischen Eigenart ausgestellt. Sie sollten nicht als Zeichen für etwas anderes wahrgenommen werden, sondern die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf sie selbst in ihrer Konkretheit und Eigenart, auf die Positionen, die sie einnahmen, auf die Bewegungen, die sie in slow motion exekutierten.15 Hier wurde Gertrude Steins berühmter Satz, „A rose is a rose is a rose – – –“, theatral verwirklicht: Der menschliche Körper ist ein menschlicher Körper ist ein menschlicher Körper – – –. Gegenstand des Kunstwerks Aufführung ist nicht etwas, das mit diesen Körpern, anderen Objekten, Licht und Lauten dargestellt wird, sondern Gegenstand des Kunstwerks Aufführung sind die menschlichen Körper, die Objekte, das Licht und die Laute selbst. In Wilsons Theater avancieren die sich bewegenden und ruhenden Körper der Schauspieler dergestalt selbst zum Kunstwerk. Die Ausstellung ihres spezifischen Seins auf der Bühne vollzieht, was Arthur Danto „die Verklärung des Gewöhnlichen“16 nennt: Durch ihr bloßes Ausgestellt-Werden auf der Bühne verklären sich die Körper der Schauspieler zu einem Kunstwerk.

 

3. Die Verklärung des Körpers durch das Licht

Dieser Akt der Verklärung findet durch den Einsatz des Lichtes eine zusätzliche Markierung. Wilson verwendet in seinen Inszenierungen das Licht u. a., um die sich im Raum bewegenden Schauspieler/Performer so auf der Bühne auszustellen – ins rechte Licht zu rücken –, dass sie vom Zuschauer als verklärte Körper erfahren werden. In der Inszenierung der Hamletmaschine z. B. saß eine Frau am Tisch, die auf ihrem Kopf kratzte und lächelte, während eine andere Frau die Sätze Ophelias sprach: „Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Photographien der Männer, die ich geliebt habe.“ Das Licht fiel von oben auf die erste Frau, die sich auf dem Kopf kratzte und lächelte, und umfing diesen wie mit einem Heiligenschein. Im Parzival trat Christopher Knowles singend auf (er sang ein Lied auf einem einzigen Ton), balancierte ein Brett auf dem Kopf und kreiste auf der Stelle, und überall, wo er sang und kreiste, leuchtete ein Licht aus der Erde, das ihn durchstrahlte. Im Lear brach in dem Augenblick, da Marianne Hoppe (Lear) aufhörte zu sprechen und sich zu bewegen, ein helles, gleißendes Licht hervor, das ihren Körper aufzulösen schien und zugleich die Zuschauer so blendete, dass sie die Augen schließen mussten.

Dies war das dritte Mal im Verlauf der Aufführung, dass die Zuschauer buchstäblich geblendet waren. Während der Leib der Schauspieler – wie in den anderen zitierten Fällen – den Zuschauern verklärt erschien, wurden sie selbst von dem Glanz der Verklärung geblendet, erfuhren die Blendung als eine Überwältigung.

Robert Wilson arbeitet vorzugsweise mit der sogenannten Over-Head-Beleuchtung, die den Gestalten der Akteure einen gewissen Glanz verleiht. Sehr häufig verwendet er auch das Contre-Jour, die Gegenlicht-Beleuchtung. Wie der Beleuchtungsmeister Hanns-Joachim Haas erläutert, erhält man mit einem Contre-Jour und Over-Head-Licht einen ganz besonderen Schimmer, der den Eindruck erweckt, als habe der Mensch Raum hinter sich. „Der Raum wird wesenhaft gegenwärtig, in dem der Mensch als Gestalt steht.“17

Einerseits wird also durch die Art der Beleuchtung der Raum als solcher gegenwärtig, andererseits scheinen die Körper der Schauspieler, ihre Gesten und Bewegungen wie von Licht durchstrahlt. Wilson erläuterte diesen Vorgang anlässlich seiner Stuttgarter Alkestis-Inszenierung:

 

Stellen Sie sich vor, dass das Licht hinter Ihrem Kopf beginnt und bis auf einen Meter vor Ihrem Körper projiziert wird, dann nicht nur auf einen Meter Entfernung, sondern von hier bis in die Stadt Stuttgart, dann ins Unendliche, dann beginnt es wieder hinter Ihrem Kopf. Die Präsenz des Lichts im Körper ist immer da und ändert sich dauernd. Der Körper sieht und fühlt die Vibration der Farbe. Wenn die Augen nach innen blicken, so ist die Vision des Lichts im Hinterkopf. Die Augen blicken nach außen, wenn die Vision des Lichts vor dem Gesicht bis zur Unendlichkeit projiziert wird. Die Linien, die wir ziehen, können projiziert werden, so weit unsere Vorstellungskraft reicht und – darüber hinaus.18

 

Es ist die unmittelbare Einwirkung des Lichts auf den Organismus des Wahrnehmenden, losgelöst von jeglichen semiotischen, ja sogar von den praktischen Funktionen des Lichts, um die es hier geht – nicht so sehr um die Wahrnehmung von etwas, das durch das Licht sichtbar gemacht werden soll, sondern um die Blendung durch das Licht, um die fühlbare Präsenz des Lichts im Körper. Es sind die performativen Funktionen des Lichts, seine transformative Kraft, die das Ereignis der Aufführung für den Zuschauer bestimmen. Das Licht, das er wahrnimmt, verwandelt nicht nur den Körper des Performers in einen verklärten Leib; es transformiert auch die Zuschauer selbst, lässt sie sich selbst als einen von Licht durchfluteten Leib erfahren. Dies ist das eigentliche Ereignis der Aufführung einer Wilson-Inszenierung – ganz unabhängig davon, ob er eine Performance, eine Oper oder ein Schauspiel inszeniert. Licht und Musik bzw. Laute und Geräusche gehen hier eine spezifische, Wilsons Musiktheater charakterisierende Verbindung ein. Es ist eine spezifische Erfahrung von Transzendenz, die seine Verwendung des Lichts dem Zuschauer ermöglicht. Sie wird zum einen durch die Wahrnehmung der vom Licht verklärten Leiber möglich. Ohne jegliche direkte Referenz rufen die Momente der Wahrnehmung, ja der Teilhabe an einer solchen Transformation die Stelle in Markus 9,1-13 auf, in der Jesu Transfiguration beschrieben wird:

 

Und nach sechs Tagen nahm Jesus den Petrus und den Jakobus und Johannes mit und führte sie auf einen hohen Berg für sich allein.

Und er wurde vor ihren Augen verwandelt, und seine Kleider wurden glänzend, sehr weiß, wie sie kein Walken auf Erden so weiß machen kann.19

 

Was sich hier ereignet, ist die Teilhabe an einem Vorgang der Transfiguration, der die Teilhabenden durch den Glanz, den er verbreitet, blendet. Es ist eine solche Erfahrung, die Wilsons Musiktheater in seinen gelungenen Momenten auszulösen vermag. Damit stellt es sich durchaus in eine bestimmte Tradition. Seit im abendländischen Theater künstliches Licht eingeführt wurde, zielt seine Verwendung immer wieder auf seine transformative Kraft, die eine Erfahrung der Transzendenz auszulösen vermag. Im Barocktheater wurde sie vor allem durch die Schlussapotheose ermöglicht: Wenn das Licht den Bühnenraum durchflutete und in seinen Grenzen aufzuheben schien, konnte der Zuschauer dies nicht nur als Allegorie der Auferstehung und des ewigen Lebens deuten, sondern wurde in seiner Blendung durch das Licht zugleich des Glanzes der göttlichen Gnade teilhaftig.

Es hat den Anschein, als ob Verklärung und Blendung nicht nur im religiösen Theater eine Erfahrung von Transzendenz ausgelöst haben bzw. auslösen können, sondern bis heute auch in einem dezidiert säkularen, ja, ästhetizistischen Theater eine derartige Erfahrung zu bewirken vermögen. Dem menschlichen Körper wird hier seine Aura zurückerstattet, die ihm der Prozess der Zivilisation geraubt hat.20 Den millionenfach reproduzierbaren Abbildungen der technischen und elektronischen Medien tritt auf Wilsons Bühne der menschliche Körper in seiner Einmaligkeit gegenüber, von Licht durchstrahlt und „herrlich wie am ersten Tag“. Das promesse de bonheur des Zivilisationsprozesses – es ist in der absoluten Gegenwärtigkeit des Theaters, in der physischen Präsenz von Akteuren und Zuschauern längst eingelöst.

 

 

Diskussion

 

Joachim Herz: Wilsons Zauberflöte war der perfekte Gegenpol zu Walter Felsensteins Zauberflöte. Die Geschichte von dem Prinzen spielt bei ihm in einem unendlich fernen Märchenland, unnahbar unseren Schritten, völlig rätselhaft.

Erika Fischer-Lichte: Es trägt sich bei Wilson immer alles in einem fernen Land zu, was immer es sein mag.

Gerd Rienäcker: Könnte es nicht sein, dass dieses ferne Land auch eine Erscheinung von Realität unterhalb der Oberfläche ist? Da nämlich sieht es ganz anders aus, als es die Oberflächenbilder nahelegen. Für mich sind wesentliche Vertreter der sogenannten abstrakten Malerei Realisten, weil sie die tiefgreifenden Widersprüche und Kontraste und Uneingelöstheiten sehr viel deutlicher zeigen als jeder Naturalist. Wenn bei Wilson scheinbar fast nichts mehr passiert, passiert sehr viel auf der Ebene der Sprache der Finger, außerordentlich viel auf der Ebene kaum wahrnehmbarer Wendungen des Körpers. Könnte es nicht auch sein, dass es ein Zwang ist der Konzentration auf die Sachen, die man so gerne außer Acht lässt. Ergänzend möchte ich betonen, dass Heiner Müller, der Regisseur Heiner Müller, sehr durch Wilson beeinflusst ist.

Erika Fischer-Lichte: Heiner Müller hat ja wunderbar mit ihm zusammengearbeitet bei dem Kölner CIVIL warS-Teil 1984. Auch in seinen eigenen Inszenierungen hat er ein Prinzip von Wilson übernommen, das sehr stark an das japanische Bunraku-Theater erinnert. Er trennt die Sprache und die Bewegung voneinander. Zur Frage nach der Konzentration: Dadurch, dass die Bewegungen in Wilsons Theater in der Regel in Slow Motion erfolgen, werden sie auch abgekoppelt vom Gewöhnlichen. Man denkt nicht, der greift zur Tasse, sondern man folgt der Aktion. 45 Sekunden sind eine unglaublich lange Zeit, wenn man von hier nach da die Hand erheben will. Und dann richtet sich die ganze Aufmerksamkeit tatsächlich darauf, was in diesem Moment geschieht. Es braucht vom Schauspieler eine ungeheure Konzentration, damit er für die Zuschauer so präsent erscheint, nur in dem, was er tut in dieser kleinen unscheinbaren Bewegung, dass sie aber ganz gebannt hinschauen.

Susanne Vill: Meines Erachtens gibt es bei den Inszenierungen, die Robert Wilson für die Opernbühne vorgenommen hat, ein Problem, das sich in seinem Zürcher Ring zeigte, wo er mit vorfixierten Zeit- und Bewegungsmustern zu den Proben kam, die Handlung aber eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Es geht nur um die Organisation dieser Zeitstrukturen. – In seiner Inszenierung von Philip Glass’ Oper Monsters of Grace hat Wilson mit den 3-D-Projektionen im Zuschauerraum eine sehr interessante Darstellung entmaterialisierter Körper vorgestellt.

Erika Fischer-Lichte: Die Handlung interessiert Wilson nicht, weil wir in der Tat bei der Handlung einen Zeitverlauf haben. Was ihn interessiert, ist, was in diesem Moment geschieht – deswegen auch diese Slow Motion, die Konzentration auf den Augenblick. Ihn interessiert, dass sich ein Zeitgefühl einstellt, nicht in dem Sinne von: was war vorher und was kommt danach, sondern es sind Momente, Augenblicke, die sich aneinanderreihen, weswegen man ja auch – und das ist von ihm keine Koketterie – rausgehen und wieder reinkommen kann, weil es ja nur jeweils um diese Augenblicke geht. Man kann zehn Minuten in der Aufführung sitzen, oder man kann fünf Stunden in der Aufführung sitzen. Für einen selbst macht das natürlich einen großen Unterschied, aber es ist nicht so, dass man irgendetwas Wesentliches von einer Handlung verpassen würde.

Boris Kehrmann: Ich möchte zwei Fußnoten machen zu der Position, die dieser Vortrag eingenommen hat unter dem Obertitel: Gegenpositionen zu Walter Felsenstein. Walter Felsenstein hat 1927 in Basel seine erste Festanstellung gehabt als Oberspielleiter für Oper und Schauspiel. Das war ein Jahr, nachdem Oskar Wälterlin mit Adolphe Appia dort den Ring gemacht hat und Aischylos. Um ein Haar hätte Walter Felsenstein Adolphe Appia selber kennengelernt. Aber er hat Ende der zwanziger Jahre im Stile von Appia inszeniert. Das heißt, er hat eine Orpheus und Eurydike-Inszenierung gemacht von Gluck, wo die Furien-Szene im Dunkel spielte. Man sah nichts. Er hat ein völlig abstraktes Bühnenbild gehabt – das hat er übrigens dann auch noch später in Freiburg gehabt. Er hat auch unter anderem die Geschichte vom Soldaten inszeniert in dem gleichen Stil, also mit stilisierenden Bewegungen, die keine realistischen Vorgänge abbilden sollten. Der zweite Punkt: Ein zweiter wichtiger Einfluss in den zwanziger Jahren bei Walter Felsenstein war die Begegnung mit dem Theater von Alexander Tairow. Er hat unter anderem Giroflé-Girofla gesehen, was als Gastspiel nach Deutschland kam. Was hat ihn daran fasziniert? Er schreibt in einem Aufsatz, er hätte da ganz seltsame Wesen gesehen, die an diesen berühmten Recks, die man von den Szenenfotos kennt, unverständliche Bewegungen gemacht haben, und das hätte ihn fasziniert. Das Unverständliche daran war, dass das in keiner Weise narrativ war, die Sprache konnte er nicht verstehen, Übertitelung gab es damals nicht. Er kannte das Stück nicht. Er hat nichts verstanden, aber die Präsenz der Körper hat ihn so fasziniert, dass Zitate aus den Inszenierungen von Tairow später in den Inszenierungen an der Komischen Oper wiederkommen werden. Walter Felsenstein hat praktisch mit Wilson angefangen, um es mal ganz polemisch zu sagen. Mit dem Begriff der Nicht-Reduzierbarkeit des theatralen Erlebnisses und mit dem Begriff der totalen Abstraktion.

 



1    Sylvaine Gold, Wall Street Journal, 6. März 1985.

2    Dieser Zusammenhang ist immer wieder von Kritik und Forschung hergestellt worden. Vgl. hierzu u. a. Rockwell, John (Hrsg.): Robert Wilson. The Theatre of Images, New York 1984, sowie Willett, Ralph: „The Old and the New: Robert Wilson’s Traditions“, in: Thomsen, Christian W. (Hrsg.): Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, Heidelberg 1985, S. 91 – 98.

     Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der „Offene Brief“, den Louis Aragon nach Wilsons Pariser Gastspiel mit Deafman Glance (1971) an den 1966 verstorbenen André Breton richtete und in den Lettres françaises veröffentlichte. Er macht hier Breton Mitteilung, dass „das Wunder […] sich ereignet“ habe, „jenes, das wir erwarteten, von dem wir sprachen“. Der Brief ist wieder abgedruckt in: Performing Arts Journal 1 (1976), Nr. 1, S. 3 – 7: „An Open Letter to André Breton on Robert Wilson’s ‚Deafman Glance‘“.

3    Zu Wilsons Ästhetik vgl. u. a. Brecht, Stefan: The Theatre of Visions: Robert Wilson, Frankfurt a. M. 1974; Faust, Wolfgang Max: „Tagtraum und Theater, Anmerkungen zu Robert Wilsons ‚Death, Destruction & Detroit’“, in: Sprache im technischen Zeitalter, Jg. 1979, H. 1, S. 30 – 58; Lehmann, Hans-Thies: „Robert Wilson, Szenograph“, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, H. 7, 39. Jg., Juli 1985, S. 554 – 563; Marranca, Bonnie: „Robert Wilson: Byrd Hoffmann School of Byrds”, in: dies.: The Theatre of Images, New York 1983, S. 39 – 45; Owens, Craig: „Robert Wilson: Tableau“, in: Art in America, 1988; Quadri, Franco: „Robert Wilson: It’s about Time“, in: Artforum, 1984; Riewoldt, Otto: „Herrscher über Raum und Zeit. Das Theater Robert Wilsons”, Feature vom Südfunk, 3. Juni 1987; Rockwell: Robert Wilson; de Smit, Peer/Veit, Wolfgang: „Die Theatervisionen des Robert Wilson“, in: Bühnenkunst 1 (1987), Stuttgart, S. 4 – 29; Willett: „Robert Wilson’s Traditions“.

4    Vgl. hierzu Fischer-Lichte, Erika: „Jenseits der Interpretation. Anmerkungen zum Text von Robert Wilson/Heiner Müller the CIVIL warS“, in: Kontroversen alte und neue, Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses, Göttingen 1985, Tübingen 1986, Bd. 11, S. 191 – 201.

5    „Franz Kafka meets Rudolf Heß“, Spiegel-Gespräch mit Robert Wilson über Hören, Sehen und Spielen, geführt mit Hellmuth Karasek und Urs Jenny, Der Spiegel, Nr. 10, 1987, S. 205 – 214, S. 214.

6    Ebd., S. 208.

7    Die Gliederung in Szenen ist am Ende des Programmheftes abgedruckt.

8    Zum Rekurs Wilsons auf das japanische Theater z. B. in den Knee Plays vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Zum kulturellen Transfer theatralischer Konventionen“, in: Schultze, Brigitte et al. (Hrsg.): Literatur und Theater, Tübingen 1990, S. 35 – 62 sowie Fischer-Lichte, Erika/Riley, Josephine/Gissenwehrer, Michael: The Dramatic Touch of Difference. Theatre, Own and Foreign, Tübingen 1990.

9    Riewoldt: „Herrscher über Raum und Zeit“, Feature vom Südfunk, 3. Juni 1987.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Vgl. hierzu Fischer-Lichte, Erika: „Der Körper des Schauspielers im Prozess der Industrialisierung. Zur Veränderung der Wahrnehmung im Theater des 20.Jahrhunderts“, in: Großklaus, Götz/Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989, S. 468 – 486, und dies.: „Zum kulturellen Transfer theatralischer Konventionen“, in: Schultze et al. (Hrsg.): Literatur und Theater.

14  Stiller, Harald Mauritz M.: „Noo Tod Essen“, in: Klassische Theaterformen Japans, hrsg. vom Japanischen Kulturinstitut Köln 1983, S. 13 – 24, hier S. 19.

15 Man mag einwenden, dass die nach strengen rhythmischen und geometrischen Patterns eher mechanisch vollzogenen Bewegungen die individuelle Eigenart des Körpers auslöschen und alle Körper einander annähern. Dagegen ist jedoch zu bedenken, dass gerade der mechanische, beliebig von jedem Körper reproduzierbare Vollzug der Bewegung das wahrhaft Einzigartige des jeweiligen Körpers stärker hervortreten lässt als der sogenannte individuelle Ausdruck. Vgl. auch Pfister, Manfred: „Meta-Theater und Materialität: Zu Robert Wilsons the CIVIL WarS“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, S. 454 – 473, sowie Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, 3 Bde., Tübingen 1983, 5. Aufl. 2007, Bd. 3, S. 27 – 34, Bd. 1, S. 131, spez. Anm. 270.

16 Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M. 2003.

17 Veit, Wolfgang: „Wilson behandelt das Licht musikalisch“, Interview mit Hanns-Joachim Haas, in: Bühnenkunst 1, Stuttgart 1987, S. 23.

18 de Smit/Veit: „Die Theatervision des Robert Wilson“, S. 9.

19 Markus 9, 2 – 3.

20 Der Begriff der Aura wird hier im Sinne Walter Benjamins verwandt, wie er ihn in seiner Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt hat.

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