Theater der Zeit

Einleitung

von Ulf Otto und Johanna Zorn

Erschienen in: Recherchen 156: Ästhetiken der Intervention – Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters (04/2022)

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Im Jahr 2000 nimmt Christoph Schlingensief die FPÖ beim Wort und spielt Big Brother mit Asylsuchenden: Auf dem Platz vor der Staatsoper steht im Rahmen der Wiener Festwochen ein Wohncontainer und jede Woche wird gewählt, wer abgeschoben wird. Darüber prangt ein Plakat mit der Aufschrift »Ausländer raus«. Es entsteht eine Kippfigur aus Kunst und Politik, die die bürgerlichen Werte in den Double Bind nimmt: Wer schweigt, stimmt zu, wer stört, versteht die Kunst nicht. Jeden Tag wird vor Ort, in der auflagenstärksten österreichischen Tageszeitung Krone und im ORF in heftiger Erregung um das Bild gestritten, das von Österreich um die Welt geht, während das Feuilleton genüsslich beobachtet, wie die individuellen und kollektiven Selbstinszenierungen in medialen Rauch aufgehen. Der Filmemacher Schlingensief zerrt das deutschsprachige Theater aus der ästhetischen wie politischen Provinzialität auf die Weltbühne und verleiht ihm das Pathos der Avantgarde. Auf den Container konnte man sich einigen, weil er als Vergleichsgröße eines Theaters der Intervention taugt, das anders politisch sein will, als es Postdramatik und Performativität gedanklich zugelassen haben.

Zugleich aber markiert dieser Container auf dem Opernplatz am Ende des 20. Jahrhunderts einen Moment, der nicht mehr der unsere ist. Die Geste der Entlarvung, die noch den Container umweht, hat einen schalen Beigeschmack bekommen (und Geschmack ist in der Ästhetik bekanntlich eine nicht unwesentliche Größe). Denn einerseits stellt sich die Frage, ob eine solche Demaskierung einer Neuen Rechten heute noch beikommen könnte, die längst die Maske hat fallen lassen und zugleich die demagogische Maskerade professionalisiert hat. Andererseits wiederum muss sich die künstlerische Maskierung, die zur politischen Demaskierung dient, inzwischen die Frage gefallen lassen, was sie für diejenigen bedeutet, deren Gesichter da als Maske dienen. Angesichts der zunehmenden Sorge um die natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelten, stellt sich heute also auch an Interventionen grundsätzlicher denn je die Frage, was von ihnen bleibt, wenn der Zirkus weiterzieht.

Intervenieren – vom lateinischen intervenire (dazwischenkommen) – bedeutet, sich einzumischen: von außen kommend, örtlich und zeitlich befristet, in Situationen, die als krisenhaft definiert werden 8 Johanna Zorn, Ulf Otto und durch das eigene Handeln zum Guten gewendet werden sollen. Notwendig sind Interventionen daher übergriffig, stellen Souveränität in Frage, erfordern Legitimation und setzen Institutionen voraus, die über Definitionsmacht verfügen: Oberkommandos, Zentralbanken, Seelsorger, die hier im generischen Maskulin stehen bleiben, um die patriarchale Geste, die dem Eingriff innewohnt, nicht zu verschleiern – und seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Philosophen. Statt nur Interpretation fordert die elfte Feuerbach-These eben auch Intervention.1 Sie erschafft damit einen Linksintellektuellen, dessen J’accuse, das seinerseits eng mit der Konstruktion heroischer Männlichkeit verbunden ist, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts poststruktural und postkolonial dekonstruiert, sich sowohl theoretisch wie praktisch in die distribuierte Artikulation von Dissens auflöst.2 Bei Maurice Blanchot bleibt ein radikales Nein, das auf eine Not reagiert, welche die Kunst zur Antwort nötigt.3 Ähnlich entfaltet die Kunst bereits bei Herbert Marcuse ihre »magische Kraft nur als Kraft der Negation«4, bei Adorno wiederum ist sie gar das fundamental Nichtidentische, das immer das emphatische »Es soll anders sein«5 ausrufen müsse. Wichtiger allerdings als diese theoretischen Positionen der ästhetischen Negation sind seit den 1960er Jahren häufig die Aktionen feministischer Performances im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen, die dem Dissens und seiner Logik der Unterbrechung die Form geben.6

In der Kunst tritt die Intervention insofern zumeist in Opposition zur Repräsentation auf. Es ist das programmatische Übergreifen in das Terrain des (Sozio-)Politischen über die Dimension des Ästhetischen hinaus und damit das Überschreiten dessen, was gemeinhin als moderne Autonomieästhetik bezeichnet wird, das Interventionen auszeichnet. In avantgardistischer Tradition relativieren sie einen bürgerlichen Kunstbegriff, der das politische Potential der Kunst gerade in ihrer kategorialen Distanz zur Politik begründet sah, und verbinden mit dem Grenzübertritt nicht zuletzt die Hoffnung auf eine Erneuerung der Kunst.

Daher ist der Ein- und Übergriff der künstlerischen Intervention zuerst einmal Geste, stellt Haltung aus und ist auf die behauptete Wirksamkeit nicht angewiesen. Die Transgression der Dichotomie von Kunst und Politik ist zentral, bleibt aber temporär, so dass sie eher als ein Flirt mit der Überwindung dieser Trennung erscheint, dessen Attraktivität sich gerade aus der zeitweisen konfliktuellen, bisweilen konfrontativen Überlagerung der ästhetischen und politischen Sphäre ergibt.7 Mehr als fraglich bleibt insofern, ob der Anspruch einer künst9 Einleitung lerischen Handlung auf »Realitätsproduktion« tatsächlich so simpel zu bewerkstelligen ist, wie es etwa das kuratorische Team der 7. Berlin Biennale 2012 rund um Artur Żmijewski nahelegte, indem es behauptete: »Wir stellen Kunst vor, die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann.«8

Denn einerseits lebt der Begriff der Intervention vom Auftrag zu Wirksamkeit, Direktheit und Transformation durch ein nunmehr explizit ins Feld des Politischen und Sozialen ausgeweitetes künstlerisches Tun, beschreibt andererseits aber ein Handeln, das notwendig im Feld des Ästhetischen verankert bleiben muss. So sind es letztlich die Ambivalenzen und Aporien der Sphäre des Ästhetischen selbst, des nur scheinbar fest umrissenen Felds der Kunst, die von Interventionen aufgestört und sichtbar gemacht werden. Das bedeutet zugleich, dass künstlerische Interventionen die Stabilität jener Institutionen, aus denen heraus sie operieren, geradezu voraussetzen.

Weil die Institutionen ihnen die Macht über die Verhältnisse, in die sie eingreifen, überhaupt erst verdanken, müssen sie notwendig zu ihnen zurückkehren, um überhaupt künstlerische Interventionen zu bleiben. Ein kurzer Blick in die Geschichte dezidiert politischer Theaterpraktiken illustriert diese komplexe Verwicklung von Distanzierung und Wiedereintritt in das Reich der Kunst: Erwin Piscator, der das politische Theater vom Begriff her erfindet, erträgt, aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, die bürgerliche Schauspielerei, die sein Beruf war, nicht mehr und wendet sich stattdessen dem Agitprop zu. Damit stellt er sich zugleich in den Dienst der Partei, eröffnet mit finanzieller Unterstützung eines Industriellen nur wenige Jahre später die Piscator- Bühne und dadurch ein Theater, das die Welt wieder, wenn auch mit neuen Mitteln, abbildet. Ganz ähnlich halten es die historischen Avantgarden, deren programmatische »Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis«9 hauptsächlich in den Stätten der Kunst verbleibt. Bereits vor ihnen ist es Richard Wagner, der im Geist der Revolution zwar das »große Gesamtkunstwerk«10 als das Kunstwerk der Zukunft erträumt, mit seinem ›Bühnenweihfestspiel‹ schließlich sogar an der Neuerfindung des Ritus arbeitet, letztlich aber doch (nur) Theater macht.

Die Strategien zur Überwindung der Trennung von Kunst und Leben sowie der Teilung in die Tätigkeiten des Vorspielens und Zuschauens zugunsten der Inszenierung von ›direkter Aktion‹ werden im Laufe des 20. Jahrhunderts vielfältig. Augusto Boals Programmatik, das Theater tatsächlich ›unsichtbar‹ zu machen oder, mehr noch, seine Methode des Forumtheaters will das Publikum tatsächlich zum aktiven Gestalter von szenischen Umwelten formen und zu gesellschaftlich verantwortlicher Handlungsfähigkeit ›erziehen‹.11 Im Living Theatre rund um Julian Beck und Judith Malina oder in der experimentellen Performance-Group von Richard Schechner tritt das Publikum ebenso aktiv in die Handlung ein und agiert exemplarisch gesellschaftliche Rollenzuschreibungen kritisch aus, ohne allerdings das Theater dabei zu verlassen. Marina Abramović und andere Vertreter:innen der Body Art, die sich nicht nur selbst ins Fleisch schneiden, sondern mit diesem Schnitt prekäre Präsenzen erzeugen, um sich der Repräsentation und Reproduktion vorderhand zu entziehen, setzen seit jeher alles daran, um ihr Vorkommen im kulturellen Gedächtnis medial zu garantieren.12 Die Interventionen im postdramatischen Theater seit den 1980er Jahren wiederum, die darauf zielten, den Einsatz des Theaters selbst ins Spiel zu bringen, erscheinen zunehmend als in sich selbst gefangen.13 Schlingensief schließlich, der wie bereits angedeutet, vielleicht am vorläufigen Ende einer Entwicklung steht, gründet mit Chance 2000 zwar eine echte Partei, treibt allerdings mit der zentralen Forderung, sich selbst zu wählen, ein intrikates Spiel um Selbstwirksamkeit und gesellschaftlichen Zugriff, das der Politik notwendig fremd und im Bereich der Kunst verankert bleiben muss.14

Die Dramaturgie der künstlerischen Intervention ist insofern der Heldenreise, dem Joyce’schen Monomythos, nicht ganz unähnlich.15 Den Auftakt bildet die Bestimmung eines Mangels und einer Aufgabe, der zum Überschreiten der Schwelle in eine Welt (außerhalb der Kunst) führt. Diese ist zunächst insofern fremd, als dass die bekannten Handlungsroutinen hier (in einem anderen Sozialsystem) nicht mehr gültig sind. Es folgt das Abenteuer, das sich als eine Reihe von Prüfungen gestaltet, in denen es gilt, dem und vor allen den Unbekannten (Aktanten) zu begegnen. Die Reise gipfelt schließlich in der Apotheose des maskulin konstruierten (Künstler-)Helden, der an diesen Begegnungen gewachsen ist. So steht am Ende die Rückkehr des gereiften Helden, dessen Schatz an (Welt-)Erfahrung schließlich die von ihm zurückgelassene (Kunst-)Welt in eine neue Freiheit führt. Es sind Berufung (Definition der Krise), Abenteuer (Kontingenz der Situation) und Heimkehr (Transformation des Systems), aus denen sich Interventionen zusammensetzen und auf die sie sich befragen lassen: Somit stellt sich, erstens, die Frage nach der diskursiven Politik und der epistemischen Gewalt, die mit der Bestimmung der Verhältnisse wirksam wird: Wie stellen Interventionen die Welt dar, in die sie sich einmischen? Zu fragen ist, zweitens, nach den Strategien der Kontingenzbewältigung: Verstopfen sich Künstler:innen die Ohren und schlagen das Gegenüber symbolisch tot, um Kurs auf ihrer ›Reise‹ zu halten und Autorität zu wahren, oder setzen sie die eigene Identität auf’s Spiel und verhalten sich insofern verantwortlich? Drittens schließlich steht die Frage nach dem, was bleibt und dem, was wird nach der Rückkehr, kurz: nach dem Wiedereintritt in die Kunst. Bringt das Ende der Weltläufigkeit also etwas anderes als Distinktionsgewinne und neue Grenzschließungen? Hat sich nachhaltig etwas verändert im Verhältnis von Kunst und Welt? Da Interventionen immer Transgressionen sind, wenn vielleicht auch nur temporäre, haben die Fragen, die sie provozieren, sowohl eine ästhetische als auch eine ethische Dimension. Vielleicht bestünde das eigentliche Potential der künstlerischen Intervention deshalb gerade darin, die Frage nach den Konsequenzen in jene Sphäre zurückzutragen, die maßgeblich aus der eigenen Konsequenzlosigkeit heraus operierte.16

Durch einen zeitgenössisch verstärkt politisch-aktivistischen Zu- und Angriff auf die Institution Theater wie umgekehrt durch die forcierte Ausweitung von Theatern hin zu gesellschaftskritischen Konfrontations- und integrativen Begegnungsräumen ist das Etikett der Intervention mittlerweile für ein institutionelles Selbstverständnis von Engagement attraktiv geworden. So können etwa institutionskritische Überschreibungs- und Aneignungsstrategien Gegenentwürfe zu normativen Repräsentations-, Besetzungs- und Wahrnehmungspolitiken vornehmen, indem sie dominante Funktionsweisen im »ästhetischen Regime« des Theaters offenlegen, das mit Jacques Rancière auf einer spezifischen »Aufteilung des Sinnlichen«17 beruht, die den jeweils geltenden Raum des Sicht- und Sagbaren bestimmt und nach außen hin abgrenzt. Der Begriff der Intervention im Theater kann sich dabei weder auf eine klar konturierte Theoriebildung noch auf eine Vielzahl an einschlägigen Referenzfiguren und -praktiken berufen, sondern markiert in einem recht breiten und ungefähren Sinn einen Anspruch auf Wirksamkeit.18

Eine erhellende Vergleichskonstellation eröffnet der Blick auf den Bereich der bildenden Kunst und der Performance, wo der Interventionsbegriff seit den 1990er Jahren zunehmend Verwendung findet. Er fungiert dort als lose Sammelbezeichnung für ästhetische Manifestationen, die sich dem Phantasma der unbeteiligten Kritik offensiv widersetzen und auf ein hohes Maß an Sichtbarkeit außerhalb der elitären Kunstschauplätze abzielen. Die von unterschiedlichen Kunstakteur: innen geforderte Inversion einer »depoliticizied celebration of surface«19 zugunsten einer Reklamation von gesellschaftlicher Wirksamkeit soll sich nunmehr in ›ergebnisoffenen Projekten‹ artikulieren. Im Bestreben, »künstlerische Praxis als ein gesellschaftliches Handlungsformat«20 zu performieren, gerät dabei der pragmatische Aspekt des Kunstgeschehens zunehmend ins Zentrum des Interesses.

Angesprochen sind damit aktivistische Kunstformen, die, wie im Portmanteau Artivismus deutlich angezeigt, eine wechselseitige Infizierung von Kunst und sozialer Aktion einfordern, aber auch der vielgestaltige Bereich von Kunst im öffentlichen Raum wie die unterschiedlichen künstlerischen Strategien der Subversion und Suspension einer weithin anerkannten symbolischen Ordnung. So fasst das Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst (2006) »Interventionismus und Aktivismus«21 im gleichnamigen Eintrag auch zusammen und nennt das Aufbegehren gegen sexistische und rassistische Funktionsweisen kultureller Institutionen durch die Guerilla Girls oder die Plakataktionen des Kollektivs ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power), die »das homophobe Unbewusste der Staatsräson«22 offenlegten, in den USA der 1980er Jahre als einschlägige Beispiele. Diese Szene aktivistischen Intervenierens in politische und soziale Kontexte, zu der im internationalen Spektrum sowohl die seit den 1990er Jahren in Österreich tätige WochenKlausur zu zählen ist wie die seit 2011 aktive feministische Punkrockband Pussy Riot oder die 2013 als Standing Man titulierte Protestaktion von Erdem Gündüz, agiert ihrem Selbstverständnis nach »mit konkreten Zielsetzungen«23 und begreift künstlerisches Schaffen »nicht mehr als formale[n] Akt, sondern als Eingriff in unsere Gesellschaft«24. Eine etwas andere Facette des Wirkungsversprechens von direkten Eingriffen wiederum füllt das Spektrum der sogenannten »urbanen Intervention«25 aus, die kritische Praxis zuallererst als Thematisierung von unterhinterfragten Wahrnehmungskonditionen des öffentlichen Raums ausübt und Städte als Einschreibungsorte architektonisch-künstlerischer Brechungen nutzt, dabei aber durchaus stadtplanerischen Marketingstrategien zuarbeiten kann.

Die Intervention kann sich also auch im Bereich der bildenden Kunst weder auf ein geschlossenes Konzept im Singular noch auf eine klar konturierte Theoriebildung berufen. Dass es sich bei der Intervention um einen »überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff«26 handelt, wie es im Untertitel des von Friedrich von Borries herausgegebenen Glossar der Interventionen heißt, liegt dabei nicht nur am heterogenen Ensemble von Ansprüchen auf Engagement, Transformation und impact, die er unter sich vereint. Widerstand gegen eine theoretisch und historisch konsistente Rahmung produziert die Interventionen inhärente Unterbrechungs- und Überschreitungslogik selbst.

Zentrale historische und ästhetische Anknüpfungspunkte für ein Verständnis sowohl von Kunst als sozialer Fuge (»social interstice«27) wie als Produktion von Dissens und Modus der Verschiebung liefern insofern eine ganze Reihe von künstlerischen Praktiken aus den Bereichen der bildenden Kunst und der Performance seit den 1960er Jahren, die Widerstand gegen die Vorstellung vom geschlossenen Feld ›Kunst‹ und der Fokussierung auf ihre Objekte leisten wollten: Der Auszug aus den hermetischen Räumen der Kunst im Zuge der Land Art und die Entdeckung von Städten als Bühnen für skulpturale Eingriffe der Public Art ersetzten ein statisches und ortloses Betrachten von Kunstobjekten im vermeintlich neutralen White Cube28 durch Konzepte des Ephemeren, des Unabgeschlossenen und der Ortsgebundenheit bzw. -spezifität. Bereits die dezidiert kapitalismuskritische Ereignisästhetik im Umfeld der Situationistischen Internationale (SI) entdeckte die Stadt als Ort, in den Spuren ästhetischen Handelns eingedrückt werden können. Die linksintellektuelle Bewegung um Guy Debord erprobte mit den Tätigkeiten des Dérive (zielloses Umherschweifen), des Détournement (Umlenken und -kontextualisieren von gegebenen Sinnzusammenhängen) und der Récupération (Rückaneignung der symbolischen Ordnung) eine Reihe an subversiven Gebrauchspraktiken urbaner Umwelt, die später ein breites Echo in den kommunikationsstörenden Techniken der Kommunikationsguerilla erfuhren.

Auch die aktivistisch grundierten Versuche der New Genre Public Art in den 1990er Jahren traten an, um einen Kontrapunkt zum unternehmerischen und apolitischen Ansatz der so bezeichneten Young British Artists um Damian Hurst zu setzen, und verpflichteten sich auf die ästhetische Kritik sozialer Handlungen.29 Das Anliegen, neue Kommunikationsräume zwischen Menschen und ihren urbanen Lebensräumen zu stiften, ging unterdessen über den im Zuge von Kunst im öffentlichen Raum bereits vollzogenen Ausbruch des Künstlerischen aus den Institutionen erheblich hinaus. Als Exempel einer mittlerweile selbst historischen Entgrenzung der Künste »im Zeichen der unmittelbaren Verwandlung der Lebenswelt in den ästhetischen Schwebezustand«30 legten sie den Fokus vom Kunstobjekt weg und stattdessen auf Prozessualität und Resonanz ästhetischer Kommunikation, um so die Ansprechbarkeit von Subjekten, das Affektgeschehen selbst ins Zentrum ihrer Aktionen zu rücken.

Mit Blick auf diese Tendenzen argumentierte Nicolas Bourriaud mit seinem Schlagwort der Ésthetique Relationelle (1998) für einen Paradigmenwechsel weg von der »assertion of an independent and private symbolic space« hin zu »human interactions and its social context«31.

Als Exponent für dieses Kunstverständnis, das den Austausch zwischen Menschen als »everyday micro-utopias«32 deklariert, dient dem Kunstkritiker u. a. der Künstler Rirkrit Tiravanija. Mit dessen Aktion Untitled (Free) (1992), die nicht mehr als eine Einladung zum Essen in die 303 Gallery in New York war, wo der Künstler seine Gäste bekochte, ging aus der Perspektive Bourriauds Begegnung, gesellschaftliche Öffnung und damit eine Gestaltung politischer Öffentlichkeit einher. Die Kritik an dieser Vision von Teilhabe und Austausch entzündete sich in der Folge vor allem an der antikonfrontativen Ästhetik wie an der Nobilitierung jeglichen Prinzips von Interaktion zu politischer Emanzipation. So wendet Claire Bishop im Rückgriff auf die radikaldemokratische Position Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes ein,33 dass das Fehlen jeglicher antagonistischer Disposition zugunsten eines Austauschs von zwischenmenschlichen Gesten keineswegs dazu prädestiniert sei, gegenhegemonial zu wirken, sondern vielmehr für die Konstitution autoritärer Strukturen offen stehe.34 Das von Bourriaud artikulierte Vertrauen in das ästhetisch-transformatorische Potential des Entgegenkommenden und Geteilten unterschlägt in diesem Sinn die Existenz eines substantiellen »Unvernehmens«35, das als Spannungsmoment jegliches Zwischen-Menschen-Sein prägt.

Die notwendige Pluralisierung von vorhandenen Perspektiven und die Diversifizierung von Teilnehmer:innen am Kunstgeschehen kann dabei verstärkt durch Gemeinschaften thematisiert werden, die Nancy Fraser in kritischer Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas als counterpublics bezeichnet hat, in denen »members of subordinated social groups invent and circulate counter discourse«36. Die Erkenntnis allerdings, dass selbst widerständige künstlerische Haltungen gegen dominante Repräsentationslogiken des Ästhetischen und Funktionsmechaniken der »Kunstwelt«37 nicht zwangsläufig gegenhegemonial sein müssen, sondern wieder in institutionelle Selbstbefestigung rückübersetzbar sind, ging vor allem aus dem Betätigungsfeld der Institutional Critique in den späten 1980er Jahren hervor. Die damit aufgerufene Praxis des Intervenierens in die Konstitutionsbedingungen, Verfahrensweisen und Machtpolitiken von Kunstinstitutionen ist eng verbunden mit den Künstlerinnen Andrea Fraser, Louise Lawler und Martha Rosler. Hatten bereits Künstler wie Daniel Buren, Marcel Broodthaers und Hans Haacke in den 1960er und 1970er Jahren subversive Strategien entwickelt, um die ökonomischen Wertdiskurse des mächtigen Museumsdispositivs offenzulegen, so war die Institutionskritik der 1980er Jahre vor allem daran interessiert, das komplexe Netz von Bedingungen des Zustandekommens und Funktionierens des Kunstsystems zu analysieren und sich selbst in diesem Angriff nicht außen vor zu lassen. Die Institutionskritik basiert dabei nicht nur, wie Isabelle Graw darlegt, »auf der Grundannahme, Kunst könne etwas bewirken«38, sondern schreibt ihr ebenso »eine epistemologische Funktion«39 zu. Die zentralen Operationsbegriffe der Recherche, Dokumentation und Analyse reagieren entsprechend auf diese Überzeugung.

Ausgehend von der diskursiven Setzung liegt die paradoxe Situation der Institutionskritik mit Andrea Fraser darin, eben nicht von außen in ein distinktes Feld kommen zu können, »weil in die Inkraftsetzung von Verhältnissen zu intervenieren immer auch heißt, dass du selbst an ihrer Inkraftsetzung teilhast«40. Die unauflösbare »Ambivalenz der Institutionskritik«41 – wie jeglicher intervenierenden Praxis – fußt demnach auf einer zugrundeliegenden Spaltung, aufgrund der die Akteur:innen die Aufteilung in einen an der Institution partizipierenden und von ihr profitierenden Part einerseits und einen in diese Teilhabe eingreifenden Teil in actu reflektieren müssen.

Dieses punktuelle Panorama politischer Ambitionen im Bereich der bildenden Kunst und Performance seit den 1960er Jahren zeigt zweierlei: Zum einen eine auffallend unterschiedliche Interpretation politischer Kunst, die von der Erzeugung eines Höchstmaßes an Direktheit im aktivistischen Kontext bis zur konsensorientierten Auslegung von zwischenmenschlicher Begegnung und Inklusion reicht; und andererseits die unterschiedlichen künstlerischen Methoden, die allesamt Angriffe auf Konzepte der künstlerischen Geschlossenheit – ob des Werkes, der Institution oder der Handlungsräume und -weisen – sind. Und wie sich in den Beiträgen dieses Bandes zeigt, sind es ganz ähnliche Fragen nach der Schließung des Ästhetischen, die auch im Bereich der performativen Künste unter dem Begriff der Intervention verhandelt werden.

Zu Aufbau und Inhalt des Buches

Das Interesse an den Ästhetiken der Intervention, aus dem heraus dieser Band entstanden ist, richtet sich insofern auf künstlerische Strategien einerseits und deren theoretische Einholung andererseits – und zwar im Horizont der ästhetischen Traditionen des europäischen Kunsttheaters. Weder ein Theater, das tatsächlich Sozialarbeit ist, noch die Theatralität politischer Kommunikation als solcher stehen im Rahmen dieser Publikation zur Debatte, sondern jene Arbeiten, die sich zwar an diesen beiden Phänomenen orientieren, das Feld der Kunst dabei aber höchstens zeitweise verlassen.

Die Beiträge des Bandes nähern sich dem Thema im Spannungsfeld von ästhetischer Theoriebildung, historischer Perspektivierung und exemplarischer Analyse konkreter Interventionen. Sie fokussieren gescheiterte Aktionen und erfolgreiche Artikulationen von Ein- und Übergriffen, reflektieren öffentliche Diskussionen und ästhetische Debatten, durchdringen heroische Figuren und pathetische Manifeste. Einerseits sind es dabei die etablierten ›Marken‹, wie das Zentrum für Politische Schönheit um Philipp Ruch, das Institute for Political Murder von Milo Rau oder Christoph Schlingensief, die einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Andererseits sind es im Diskurs des Theaters weniger prominent platzierte und internationale Arbeiten, wie die Performances von Terre Thaemlitz, die Aktionen von Cesare Pietroiusti, Paul Chan oder Koki Tanaka sowie die programmatische »Schwarzkopie« von Mittelreich durch die Regisseurin Anta Helena Recke, die den Bereich zeitgenössischer Interventionen um signifikante Aktionen und Performances erweitern. Die Beiträge vereint, dass sie detaillierte Analyse und ästhetische Theoriebildung immer auch mit der Frage verbinden, wie sich die häufig großen Gesten der Kunst in den Räumen des Sozialen effektiv niederschlagen, welche Kontroversen sie auslösen und wie sie die Felder von ›Kunst‹ und ›Politik‹ ins Verhältnis setzen. Insofern kommunizieren die einzelnen Artikel auf sehr unterschiedlichen Ebenen miteinander. Einige greifen dieselben Arbeiten auf, andere teilen theoretische Bezugspunkte und wieder andere begegnen sich im weiten Raum von korrespondierenden, aber auch auseinanderstrebenden Fragestellungen und Denkfiguren. Würde man sie ordnen wollen, so ergäbe sich ein Netzwerk, das sich vielfältig arrangieren, aber nicht linear abbilden ließe. Entsprechend stellt die gewählte Reihenfolge, die Anschlusspunkte ebenso wie Perspektivwechsel fokussiert, eine von vielen Möglichkeiten der Strukturierung dar.

Azadeh Sharifis Beitrag befasst sich im Kontext der Dekolonialisierung des deutschsprachigen Theaters und vor dem Hintergrund einer globalen antirassistischen Bewegung mit Interventionen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet Anta Helena Reckes Mittelreich (2017), das in eine facettenreiche Geschichte des Widerstands marginalisierter Gruppen gegen Vereinnahmung und Fremdzuschreibung im Theater der BRD eingeordnet wird. Mittelreich wird als antirassistische Intervention gegen hegemoniale Narrative verstanden, die unmittelbare Vorläufer in den Protesten gegen die Inszenierung von Bernard-Marie Koltès’ Stück Combat de nègre et de chiens (1980) im Jahr 2003 an der Berliner Volksbühne sowie das Blackfacing in Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers Unschuld am Deutschen Theater Berlin 2012 hat. Die Aneignung des weißen Theaterraums führt in der Darstellung Sharifis in drei Schritten vom Protest vor dem Theater zur Aktion im Saal und kommt schließlich mit Mittelreich auf der Bühne selbst an. Dabei geht es der Autorin vor allem um den Prozess des interventionistischen Einschreibens in eine deutsche Geschichtserzählung, die wesentlich von Ausschlüssen geprägt ist. Ins Zentrum der Intervention rücken insofern die Modalitäten von Geschichtsschreibung und mit ihnen die Frage, welche Geschichten auf und von deutschen Bühnen erzählt werden.

Matthias Warstat geht in seinem Beitrag historisch weiter zurück und kontrastiert die Interventionen im politischen Theater der Gegenwart mit dem Agitproptheater rückt hierbei die Frage nach der Kollektivbildung in den Mittelpunkt, die Warstat gerade auch in Abgrenzung zur bildenden Kunst als wesentliches Bindeglied von Theaterkunst und Politik versteht. So argumentiert der Beitrag dafür, dass sich sowohl politische als auch ästhetische Kollektivbildungen im Spannungsfeld von Assoziation und Dissoziation abspielen und nicht zuletzt dort prekär werden, wo sich ästhetische und aktivistische Ansprüche überlagern. Da künstlerische Interventionen zwangsläufig als Kunst wahrgenommen, empfunden und bewertet werden, sind sie demnach notwendig mit affektiven Geschmacksurteilen verbunden, die ihre eigene soziale Dynamik entwickeln und Kollektivbildungen nach sich ziehen, die maßgeblich den Rahmen für politische Kommunikation bestimmen. Am Beispiel der sogenannten Landagitation, mit der die Agitproptruppen ihr urbanes Umfeld verließen, um gleichsam von außen in Dörfer und Kleinstädte zu kommen, arbeitet Warstat schließlich heraus, dass soziale Milieu-Differenzen einen entscheidenden Einfluss auf die Kollektivbildungen haben und insofern als Parameter für die Ästhetik von Interventionen zu verstehen sind.

Julia Pragers Beitrag fokussiert die Bürgerbühne, die sich ausgehend von deren Etablierung am Staatsschauspiel Dresden seit 2009 zu einem europäischen Phänomen entwickelt hat. Im Zentrum ihrer Ausführungen steht die Analyse von Vanessa Sterns Inszenierung Schuldenmädchenreport (2019), da es dieser Produktion gelingt, zentrale Parameter des Formats ›Bürgerbühne‹ zu hinterfragen und auf diese Weise selbst zu unterbrechen. Den Ausgangpunkt liefert dabei die kritische Durchdringung des Partizipationsideals der Bürgerbühne mitsamt seinem Bestreben nach der Inszenierung von Authentizität. Dahingegen zeichnet sich Sterns Inszenierung aus Sicht der Autorin gerade durch das transformative, mithin dislozierende Spiel mit den Konventionen des Genres aus. Wie Prager in einer detailgenauen Analyse zeigt, gelingt es der Produktion Schuldenmädchenreport mit Mitteln der intermedialen Persiflage und der volkstheaterhaften Komik das Authentizitätsphantasma zu unterlaufen. Damit erfolgt nicht zuletzt eine Entlarvung der bürgerlichen Werte des Reformtheaters. Die Intervention, mit Hans-Thies Lehmann postdramatisch als Unterbrechung des Ästhetischen gedacht, wird von Prager auf diese Weise als Gegenbegriff zur Partizipation konturiert.

Sandra Umathum geht in ihrer Argumentation vom appellativen Charakter von Interventionen aus: Intervention zielt auf ein Antwortgeschehen und erzeugt Öffentlichkeiten, in denen widerstreitende Positionen hörbar werden. Das für die Entstehung von Öffentlichkeit konstitutive Antworten, das Kundtun einer Meinung allerdings, so zeigt sich mit Blick auf die Kunstform Theater, stellt sich nicht einfach so ein. Mit Bezug auf Oliver Marcharts konfliktuelle Konzeption des Ästhetischen fokussiert Umathum deshalb jenes Phänomen des Widerstreits von Positionen, das dem Begriff der Intervention erst Sinn verleiht. Die mediale Resonanz ist insofern notwendiger Bestandteil, nicht aber Selbstzweck von Interventionen und erübrigt sich, wie die Autorin an der (gescheiterten) Intervention Sucht nach uns! (2019/20) des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) zeigt, wenn die Antagonisierung vor Ort ausbleibt. Im Gegenzug dazu erscheint etwa Christoph Schlingensiefs Bitte liebt Österreich in seiner unhintergehbaren Evokation von Dissens als exemplarische, wenn auch mittlerweile historische Intervention. Das Dispositiv des Theaters, das ein Antworten prinzipiell selbst dann unwahrscheinlich macht, wenn es dazu auffordert, wie Umathum zu Beginn des Beitrags am Beispiel einer Arbeit von Terre Thaemlitz zeigt, erlangt seine Relevanz daher vielleicht gerade aus der Fähigkeit, den Widerstreit zu verzögern und zu verschieben.

Simone Niehoff widmet sich ebenfalls der Aktion Sucht nach uns! des ZPS, die bereits bei Umathum als Beispiel für das Scheitern von Interventionen fungiert. Als zentraler theoretischer Referenzpunkt dient der Autorin das völkerrechtliche Verständnis von Intervention als übergriffige und illegitime Transgression einer nationalen Souveränität. Gerade der »aggressive Humanismus«42, den das ZPS als Operationsmodus selbstbewusst in Anschlag bringt, zeigt in seiner militaristischen Rhetorik und seinen fragwürdigen Legitimationspraktiken starke Parallelen zum Modell staatlicher Interventionen. Was das ZPS mit völkerrechtlichen Interventionen dabei im Wesentlichen teilt, ist das Neutralitätsphantasma und damit den Glauben, außen stehend und selbst unantastbar im Namen derer agieren zu können, deren Stummheit dadurch sowohl vorausgesetzt als auch hergestellt wird. Weder die Grenzüberschreitung noch die Verletzungen, die von der Aktion Sucht nach uns! ausgehen, lässt die Intervention unterdessen scheitern. Vielmehr, darin argumentiert Niehoff in die ähnliche Richtung wie Umathum, liegt im Bemühen darum, die Kontrolle über das Narrativ durch die Eingrenzung der Handlungsspielräume zu behalten und so die reaktive Prozesshaftigkeit zu unterbinden, die regelrecht künstlerische Negation der Aktion.

Lars Koch weist ebenfalls darauf hin, dass die Partizipation in den Arbeiten des ZPS präfiguriert ist und der Inszenierung der Aktivisten-Persona Philipp Ruch untergeordnet wird. In den Mittelpunkt der vom Autor so bezeichneten ›Erlebnisszenarios‹ gerückt, begründet sich deren Attraktivität primär aus der Verbindung von Komplexitätsreduktion und Selbstvalorisation. In einem close reading der ›Interpretationsmanuale‹ von Philipp Ruch/ZPS, Milo Rau/IIPM und Friedrich von Borries/RLF untersucht Koch die Strategien der Markenbildung und des Medienhandelns, die der Inszenierung der Persona des Artivisten wie der Performanz von Autorschaft im Kontext medialer Aufmerksamkeitsökonomie wesentlich zugrunde liegen. Im Zuge dieser Analyse zeigt sich nicht nur, dass sowohl Rau als auch Ruch sich vornehmlich in einer dezidierten Abgrenzung von der Postmoderne profilieren, sondern dass hinter den Gewaltanalysen und kritischen Durchdringungen von Öffentlichkeiten in den einzelnen Arbeiten letztlich das affektive Identifikationsangebot des authentischen Intellektuellen zentral bleibt. Demgegenüber vermag Friedrich von Borries’ von seinem Roman RLF (2013) ausgehendes Kunstprojekt aus der Sicht Kochs ein Experimentierfeld zweiter Ordnung zu kreieren, das in der überaffirmativen Reinszenierung aktivistischer Pathosformeln die Konsumierbarkeit von Subversion reflektiert und, an Schlingensief geschult, ein ironisches Spiel mit doppeltem Boden betreibt. Im 2021 veröffentlichen Roman Fest der Folgenlosigkeit erfährt diese Produktion von Ambiguität wiederum eine entscheidende Akzentverschiebung. Eingelassen in ein transmediales Setting hinterfragt das Projekt die gesellschaftliche Übereinkunft einer Verantwortungsdelegation der ökologischen Krise an Politik und Wirtschaft und erscheint aus der Perspektive Kochs deshalb als radikale Intervention in das gesellschaftlich Imaginäre.

Johanna Zorn reflektiert in ihrem kunsttheoretischen Beitrag ebenso das Mittel der Ironie und macht es für einen performativen Selbstwiderspruch interventionistischer Praktiken fruchtbar. Als Praxis eines Intervenierens gegen seinen eigenen Begriff zeigt sich das Modell der Intervention, weil das eingreifende und entgegentretende Kunsthandeln einerseits die Trennung der Sphären von Kunst und Politik auslösen will, andererseits aber die Trennbarkeit dieser Bereiche markiert. So ruft der Interventionen eigene Anspruch einer Transgression des Ästhetischen ins Politische mit Zorn den Dualismus von ›Kunst‹ und ›Politik‹ erst ins Leben. Beruhen die Strategien zusätzlich noch auf der eindeutigen Rede, die den Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit einlösen soll, erodiert das emanzipatorische Potential von Kunst und ihr kritischer Begriff bleibt leer. Zur Veranschaulichung dieses dialektischen Zusammenhangs geht der Beitrag von Marc Antons Grabrede aus Shakespeares Julius Cäsar aus, einem demagogischen Glanzstück der Rhetorik, das seine Wirkung nicht aus der Eindeutigkeit, sondern gerade aus dem Verbergen und Unkenntlichmachen der eigenen Haltung (dissimulatio) in der Tradition der Ironie (eironeia) entfaltet. Anhand der von Marc Anton rhetorisch funktionalisierten, unauflöslichen Spannung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Ausdruck und Maskierung erinnert die Autorin schließlich an einen Modellfall des uneindeutigen Sprechens in der Geschichte der Intervention: Christoph Schlingensiefs Container-Aktion Bitte liebt Österreich aus dem Jahr 2000.

Benjamin Wihstutz konstatiert, ähnlich wie Koch, eine Abwendung vom über lange Zeit vorherrschenden Politikbegriff der Postdramatik. Er verortet die Intervention daher im Kontext einer Konjunktur des Aktivismus im Gegenwartstheater, die er in engen Zusammenhang mit der Diversifizierung der theatralen Publika und den daraus entstehenden Initiativen gegen Diskriminierung setzt. Zentral für die Intervention als Spielart eines solchen aktivistischen Theaters ist aus Wihstutz’ Sicht ein fundamentales Kippmoment, das sich durch einen Rahmenwechsel auszeichnet und dazu führt, dass die theatrale Behauptung, das Als-ob, sich von der künstlerischen Autorität emanzipiert und eine soziale Dynamik schafft, die letztlich realweltliche Konsequenzen hat. Vor dem Hintergrund der Geschichte aktivistischen Theaters zeigt der Autor anhand der Aktionen rund um das Projekt deine-stele.de (2017) des Zentrums für Politische Schönheit und dem General Assembly (2017) von Milo Rau sowie des sogenannten ›Ibiza-Videos‹ (2019) exemplarisch, in welcher Weise aktivistische theatrale Strategien Kippmomente entstehen lassen, in denen Kunst und Politik sich wechselseitig verschalten.

Anna Raisichs Beitrag verhandelt mit Erster Europäischer Mauerfall (2014) ebenfalls eine Aktion des ZPS, richtet die Aufmerksamkeit allerdings einerseits auf den Diskurs, in dem die Aktionen des Kollektivs diskutiert werden, und andererseits auf die Bilder, die nicht Akzidens, sondern wesentlicher Bestandteil der Aktionen sind. Ausgehend von der ausführlichen Analyse eines Textes von Mely Kiyak zeigt Raisich, dass die Rezeption der Aktionen wesentlich mit der Grenzziehung zwischen Kunst und Politik operiert. Kiyaks Argument gegen die kritischen Pressestimmen beruht darauf, dass diese den Kunstwerk-Status schlicht verkennen und stattdessen lediglich über die Mittel, nicht aber über die Inhalte berichten, Kunstkritiker:innen so zu ahnungslosen Mitspielenden würden, die die eigene Position nicht verständen. Sie beruft sich dabei vor allem auf die Tatsache, dass die in der Aktion von Berlin an die europäischen Außengrenzen gebrachten Gedenkkreuze aus Werkstätten des Theaters stammen, sich somit also als bloße Mittel entpuppten. Mit Bruno Latour arbeitet Raisich jedoch heraus, wie sich diese Argumentation in eine ikonoklastische Tradition einordnet, die den Glauben an die vermeintlich leeren Symbole als naiv denunziert und in dieser entlarvenden Geste nicht zuletzt der eigenen Position Autorität verleiht. Stattdessen schlägt sie vor, die Bilder als Mediatoren zu verstehen, die weniger abbilden denn verbinden und über diese Verbindungen tatsächliche Wirkmächtigkeit erlangen. Entsprechend verfolgt der Beitrag den Weg dieser Bilder durch die Aktion hindurch und zeigt, wie in der Reise der Kreuze an die Außengrenzen Europas ein deutsches Gedächtnistheater erneuert wird, das koloniale Denkmuster und Rollenzuweisungen viel eher aufrechterhält als in Frage stellt.

Ulf Ottos Beitrag befasst sich, wie derjenige von Azadeh Sharifi, mit der Inszenierung Mittelreich und fragt nach dem Erfolg dieser Intervention: Wie gelingt es der Arbeit, das Weißsein des (deutschsprachigen) Theaters zu artikulieren. Ausgehend von dieser Grundfrage nähert sich der zweite Abschnitt des Beitrags der Inszenierung aufführungsanalytisch an, beschreibt das Oszillieren der Wahrnehmung als dominante ästhetische Erfahrung und zeigt zugleich die Grenzen dieses Ansatzes auf. Daran anschließend nimmt der dritte Abschnitt das diskursive Geschehen in den Blick, das sich im Umfeld der Arbeit entfaltet hat und in diese selbst hineinragt. Dabei zeigt sich, dass es gerade die Verknüpfung von ästhetischen Erfahrungen und diskursiven Einordnungen ist, anhand derer die Bewertung und Bedeutung der Arbeit verhandelt werden. Mittelreich, so wird abschließend argumentiert, lässt sich mit STS und ANT als ein ästhetisches Experiment beschreiben, das den rassistischen Fundamenten des bürgerlichen Theaters zur Evidenz verhilft, und damit notwendig auch die Position der Wissenschaft herausfordert.

Marita Tatari stellt noch grundsätzlicher die Frage nach dem Publikum an den Anfang, oder in ihren Worten, diejenige nach der Adressierung eines ›Wir‹, das kein Ganzes mehr formt. An die Diagnose einer Zeitenwende anknüpfend, wie sie sich bei Jean-Luc Nancy und Erich Hörl findet, argumentiert der Beitrag aus der ästhetischen Theorie heraus: Theater als westliche Kunst konstituiert sich seit der Neuzeit als affektive Gegenwart eines Gemeinsamen, das sonst nicht gegeben ist, und war daher immer auch als Vorwegnahme einer in die Zukunft projizierten Egalität zu verstehen. Als ein Exzess über das Wirkliche war Kunst traditionell Utopie und jede Intervention in die ästhetische Form entsprechend zugleich als politischer Eingriff zu begreifen. Gerade dieser tradierte Progress der ästhetischen Formen hat sich aus der Perspektive Tataris in unserer postfundamentalistischen Situation nach Schlingensief letztlich erledigt. Damit ist er zugleich einer primären Relationalität gewichen, die statt der Intervention in die ästhetische Form ein radikal anderes Denken eines neuen ›Wir‹ erfordert.

Kai van Eikels betont in seinem Beitrag schließlich die antagonistische Definition des Feldes und die Erklärung des Notstands, die dem Eingriff vorhergeht: Interventionen erscheinen daher als Ausnahmezustände, in denen das Politische temporär suspendiert wird, und stehen damit auch im Gegensatz zu einem Begriff der Kunst, der gerade im Aussetzen des Notwendigen seine Freiheit begründet. Es ist die Frage nach dem Management der Kontingenz, die dadurch in den Mittelpunkt rückt und die van Eikels an drei Beispielen – Cesare Pietroiustis Pensiero unico (2003), Paul Chans Waiting for Godot in New Orleans (2007) und Koki Tanakas Precarious Task #7: Try to keep conscious about a specific social issue, in this case ›anti-nuke‹, as long as possible while you are wearing yellow color (2013) – als eine Bewegung aus Ereignishaftigkeit (vor Ort) und ästhetischer Aneignung (im Medialen) analysiert. Als unverzichtbar für künstlerische Interventionen stellt sich dabei der abschließende Wechsel von der politischen Öffentlichkeit zur Kunstöffentlichkeit, der nicht zuletzt ökonomischen Imperativen gehorcht. So steht am Ende des Beitrags die große Frage, was die politische Intervention eigentlich an das politische Handeln zurückgibt.

Was die versammelten Beiträge über die theoretischen Positionen und ästhetischen Exempel hinaus vereint, ist eine Skepsis gegenüber den Narrativen der Intervention und das Bemühen, deren tatsächliche Politik in der detaillierten Analyse wie der historischen Perspektivierung zu erschließen. Das Buch eröffnet auf diese Weise Fragen, die in den oftmals erhitzten medialen Diskussionen weniger Raum finden: Steht etwa die Erinnerungspolitik, die eine Aktion wie Flüchtlinge fressen des Zentrums für Politische Schönheit aus dem Jahr 2016 thematisiert, nicht eigentlich in diametralem Gegensatz zum emanzipativen Projekt des postmigrantischen Theaters? Was bedeutet die Wiederkehr der heroischen Künstlerpersona, die mitunter an jenen von Schlingensief gern zitierten Fitzcarraldo (1982) erinnern lässt, der im Namen der Kunst und auf Kosten der Indios ein Schiff über einen Berg ziehen lässt? Wenn sich, wie Marx in Aufnahme eines Hegelschen Diktums behauptet hat, die Geschichte immer zweimal wiederholt, nämlich einmal als Tragödie und einmal als Komödie, in welcher Schleife befinden wir uns mit der ostentativen Verabschiedung von Postmoderne und Dekonstruktion? Schließlich, daran sei erinnert, ist die Performance in Kunst wie Theorie untrennbar mit einer queer-feministischen Tradition verbunden, die in Opposition zum patriarchalen Gestus des Linksintellektuellen auf den fehlenden Außenstandpunkt besteht und stattdessen die eigene Verwundbarkeit ins Spiel bringt – noch Schlingensief, der sich selbst auf den Container stellt, steht in dieser Tradition. Zu fragen wäre daher am Ende auch, ob es nicht doch wieder die Falschen sind, die hier die meiste Aufmerksamkeit erhalten? Und: Welche anderen, wichtigen Positionen bleiben hinter den ›lauteren‹ Stimmen weitgehend ungehört? Das Projekt der Dekolonialisierung klingt in vielen Beiträgen an, jenen zentralen Ort, der ihm im Kontext dieses Bandes eigentlich zukommen müsste, nimmt es allerdings nicht ein. Sichtbar wird in und mit diesem Band zuletzt also auch ein Desiderat, das seinerseits der Intervention harrt.

1 Vgl. hierzu die berühmte These im Wortlaut: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern.« Marx, Karl: »ad Feuerbach«, in: Ders./Engels, Friedrich: Gesamtausgabe (MEGA), Abt. 4, Bd. 3, hrsg. v. der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1998, S. 19 – 21, hier S. 21.

2 Zum sprachlichen Emblem eines mutigen Opponierens gegenüber politischen Missständen vgl. Zola, Émile: »J’accuse…! Lettre au Président de la République«, in: L’Aurore, 13. Januar 1898, o. S.

3 Vgl. Blanchot, Maurice: Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin 1982.

4 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 82.

5 Adorno, Theodor W.: »Engagement«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II. Noten zur Literatur, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 409 – 430, hier S. 429.

6 Kennedy, Jen/Mallory, Trista E./Szymanek, Angelique: Transnational perspectives on feminism and art, 1960-1985, New York 2021.

7 Vgl. hierzu Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, Berlin 2019.

8 Żmijewski, Artur: »Act for Art [Auszug]«, Homepage der Berlin Biennale: https:// www.berlinbiennale.de/de/kataloge/1355/7-berlin-biennale-fr-zeitgenssische-politik (Zugriff am 20. April 2021).

9 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, 72.

10 Vgl. Wagner, Richard: »Das Kunstwerk der Zukunft« (1849), in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig o. J., S. 42 – 177, hier S. 60.

11 Vgl. Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt am Main 1989.

12 Vgl. Santone, Jessia: »Marina Abramović’s ›Seven Easy Pieces‹: Critical Documentation Strategies for Preserving Art’s History«, in: Leonardo 41.2 (2008), S. 146 – 152.

13 Vgl. Balme, Christopher: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014.

14 Vgl. Chance 2000 – Abschied von Deutschland (D, 2017, R: Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich)

15 Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces, Princeton 1949.

16 Vgl. Marchart, Oliver: Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere, Berlin 2019.

17 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hrsg. v. Maria Muhle, Berlin 2006, S. 25 – 34.

18 Eine wichtige Ausnahme bildet die 2015 erschienene Publikation, die den Begriff vor allem für die pädagogische und therapeutische Zielsetzung im sogenannten applied theatre fruchtbar macht. Vgl. Warstat, Matthias et al. (Hrsg.): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015.

19 Bishop, Claire: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: OCTOBER 110 (2004), S. 51 – 79, hier: S. 53.

20 Babias, Marius: »›Die Kernfrage lautet, ob ›Kunst‹ tendenziell ein Medium der Kritik ist‹«, in: Kunstforum International 212 (2011), S. 108 – 113, hier S. 113.

21 Vgl. Greene, Stephen: »Interventionismus und Aktivismus«, in: Butin, Herbert (Hrsg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2015, S. 153 – 157.

22 Ebd., S. 155.

23 Homepage der WochenKlausur: https://wochenklausur.at/methode.php?lang= de (Zugriff am 9. Juni 2021].

24 Ebd., https://wochenklausur.at/index1.php?lang=de, (Zugriff am 9. Juni 2021).

25 Vgl. Borries, Friedrich von et al.: »Urbane Intervention«, in: dies. (Hrsg.): Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff, Berlin 2012, S. 209 – 211.

26 Vgl. Ebd.

27 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002, S. 16.

28 Vgl. hierzu O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. In der weißen Zelle, hrsg. v. Wolfgang Kemp, Berlin 1996.

29 Vgl. hierzu Lacy, Suzanne (Hrsg.): Mapping the Terrain. New Genre Public Art, Seattle 1995.

30 Bubner, Rüdiger: »Ästhetisierung der Lebenswelt«, in: Haug, Walter/Warning, Rainer (Hrsg.): Das Fest, München 1989, S. 651 – 662, hier S. 661.

31 Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 14.

32 Ebd., S. 31.

33 Vgl. hierzu Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991.

34 Bishop: »Antagonism«, S. 66.

35 Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002.

36 Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Calhoun, Craig (Hrsg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge (Massachusetts) 1992, S. 123.

37 Zum Begriff der »Kunstwelt« vgl. grundlegend Danto, Arthur: »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy 61/19, 1964, S. 571 – 584; Die Rezeption durch George Dickie bereitete maßgeblich die reduktionistische Institutionstheorie vor, derzufolge einzig die Institutionen der Kunstwelt über den Status von Kunst entscheiden: Dickie, George: Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis. Ithaka; New York 1974.

38 Graw, Isabelle: »Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art«, in: Kunstforum International 59 (2005), S. 41 – 53, hier S. 41.

39 Ebd.

40 Fraser, Nancy: »Was ist Institutionskritik?«, in: Kunstforum International 59 (2005), S. 87 – 89, hier S. 89.

41 Ebd.

42 Vgl. hierzu die Selbstbeschreibung des ZPS auf der Homepage https://politicalbeauty.de (letzter Aufruf: 20.11.2021).

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