Theater der Zeit

Die Arbeit am künstlerischen Text

Odysseus/Penthesilea/Kleist

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

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Kleists Drama aus dem Jahre 1808 thematisiert Liebe als Kampf der Geschlechter. Die im Blankvers verfasste Tragödie ist wie Homers „Ilias“ in 24 Auftritte gegliedert. Um mit der Arbeit an diesem Text beginnen zu können, ist es erforderlich, dass die Studierenden den Text und das Stück gelesen haben. Sie sollten darüber hinaus über genügend Hintergrundwissen verfügen, das heißt, über die Umstände des Trojanischen Krieges, das Gesellschaftsmodell der Amazonen und die auftretenden Figuren. Je besser die Studierenden informiert sind, desto mehr Vorschläge können sie in die Textarbeit einbringen. Auf diese Weise wird die Arbeit lustvoll für beide Seiten. Zum Prima-Vista-Lesen ist der Text weniger geeignet. Studierende haben in den letzten Jahren immer wieder Eigenständigkeit eingefordert. Leider überzeugt die Art der Vorbereitung nicht immer. Stücke werden häufig, wenn überhaupt, nur als Zusammenfassung bei Wikipedia zur Kenntnis genommen. Das beschränkte historische Wissen wird nur nach Aufforderung erweitert. Aber Talent ist vor allem Interesse. Und so erinnere ich doch einige sehr spannende und überraschende Begegnungen mit Studierenden und diesem Text. Wenn Studierende mit einem Angebot in den Unterricht kommen, sollten Sprecherzieher dieses Angebot ernst nehmen und versuchen, damit zu arbeiten. Ergeben sich Widersprüche beim Beantworten der W-Fragen oder Probleme beim Text- und Sinnverständnis, müssen sie geklärt werden. Es hat sich bewährt, den Studierenden Fragen zum Text zu stellen und mit ihnen einen spielerischen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Nicht alle Fragen müssen sofort beantwortet werden. Manchmal ist es besser, Zeit zum Nachdenken und Nachempfinden zu lassen, geduldig zu sein und Prozesse anzuschieben, anstatt auf Ergebnisse zu setzen. Ich bin nicht der Auffassung, dass dieser Text nur männlichen Sprechern vorbehalten sein sollte. Sprecherinnen haben großen Spaß daran, sich zu verwandeln, indem sie in ihren Denkprozessen und in ihrem Verhalten den männlichen Protagonisten nachahmen.

Das Stück lässt sich in wenigen Worten wie folgt zusammenfassen: Auf dem Schlachtfeld vor Troja kommt es immer wieder zu Übergriffen durch sowohl Trojaner als auch Griechen angreifende Amazonen. Deren Ziel besteht darin, möglichst viele Gefangene zu machen und mit ihnen Nachkommen zu zeugen. Aufgrund seiner Vorgeschichte lebt das Volk der Amazonen männerlos. Es ist den Amazonen nicht gestattet, auf dem Schlachtfeld eine individuelle Partnerwahl zu treffen. Nur Penthesilea nimmt dieses Recht aufgrund einer Weissagung ihrer Mutter für sich in Anspruch. Sie stellt Achill nach, der sie im Kampf besiegt. Sie fällt in Ohnmacht und kann sich danach nicht mehr erinnern, dass sie besiegt wurde. Niemand klärt sie auf, sie wird in dem Glauben belassen, Achill besiegt zu haben. Die beiden verlieben sich ineinander. Als Penthesilea des Betrugs gewahr wird, fordert sie Achill heraus, tötet den Wehrlosen auf grausame Weise und stirbt bei seiner Leiche, indem sie sich ein vernichtendes Gefühl, kalt wie Erz, aus dem Busen gräbt.

Wie eingangs angekündigt, soll eine kurze Exegese des Anfangsdialogs (1. Auftritt) zwischen Odysseus und Antilochus aus dem Stück „Penthesilea“ von Kleist die theoretischen Überlegungen zur Textarbeit praktisch erläutern.

1. Auftritt

Odysseus und Diomedes (von der einen Seite) Antilochus (von der andern) Gefolge (treten auf)

Antilochus.

1 Seyd mir gegrüßt, ihr Könige! Wie geht’s,

2 Seit wir zuletzt bei Troja uns gesehn?

Odysseus.

3 Schlecht, Antiloch. Du siehst auf diesen Feldern,

4 Der Griechen und der Amazonen Heer,

5 Wie zwei erboste Wölfe sich umkämpfen:

6 Beim Jupiter! sie wissen nicht warum?

7 Wenn Mars entrüstet, oder Delius,

8 Den Stecken nicht ergreift, der Wolkenrüttler

9 Mit Donnerkeilen nicht dazwischen wettert:

10 Todt sinken die Verbißnen heut noch nieder,

11 Des einen Zahn im Schlund des anderen.

12 Schafft einen Helm mit Wasser!

Antilochus. Element!

13 Was wollen diese Amazonen uns?

Odysseus.

14 Wir zogen aus, auf des Atriden Rath,

15 Mit der gesammten Schaar der Myrmidonen,

16 Achill und ich; Penthesilea, hieß es,

17 Sei in den scyth’schen Wäldern aufgestanden,

18 Und führ’ ein Heer, bedeckt mit Schlangenhäuten.

19 Von Amazonen, heißer Kampflust voll,

20 Durch der Gebirge Windungen heran,

21 Den Priamus in Troja zu entsetzen.

22 Am Ufer des Skamandros hören wir,

23 Deiphobus auch, der Priamide, sei

24 Aus Ilium mit einer Schaar gezogen;

25 Die Königinn, die ihm mit Hülfe naht,

26 Nach Freundesart zu grüßen. Wir verschlingen

27 Die Straße jetzt, uns zwischen dieser Gegner

28 Heillosem Bündniß wehrend aufzupflanzen;

29 Die ganze Nacht durch windet sich der Zug.

30 Doch, bei des Morgens erster Dämmerröthe,

31 Welch ein Erstaunen faßt’ uns, Antiloch,

32 Da wir, in einem weiten Thal vor uns,

33 Mit des Deiphobus Iliern im Kampf

34 Die Amazonen sehn! Penthesilea,

35 Wie Sturmwind ein zerrissenes Gewölk,

36 Weht der Trojaner Reihen vor sich her,

37 Als gält es über’n Hellespont hinaus,

38 Hinweg vom Rund der Erde sie zu blasen. […]194

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