Theater der Zeit

Die Arbeit am künstlerischen Text

Fabulieren

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Anzeige

Anzeige

Um den Anfang des Textes so zu erzählen, dass sowohl Spielpartner als auch Zuhörer verstehen, worum es geht, müssen wir die Geschichte gleichsam von hinten aufrollen, das heißt, wir holen einen Teil der Hintergrundinformationen, über die die Figuren verfügen, und Informationen, die die Zuhörer für das Verständnis der Geschichte benötigen, aus dem fortlaufenden Text gedanklich nach vorn. Wir müssen uns also damit beschäftigen, was passiert ist, wie Odysseus es erlebt und verstanden hat und was er damit ausdrücken möchte, worin also seine Motive und seine Absichten bestehen. Wie er es erzählt, welche Sprechhaltungen er einnimmt, ergibt sich daraus, was er wahrgenommen und verarbeitet hat, bzw. was er aktuell wahrnimmt und verarbeitet. Aus der Gesamtdisposition der Odysseus-Figur (Odysseus der Listenreiche, der Feldherr, der König von Ithaka) lassen sich Verhaltensweisen isolieren, die in der konkreten Situation der Interaktion Widersprüche zwischen Wollen und Können erkennbar machen. Diese Widersprüche geben Auskunft über das Besondere der Situation und die Beziehung der beteiligten Interaktionspartner. Es bieten sich kräftige Figurenhaltungen an, die die Studierenden verlocken können, sich schauspielerischgestisch zu äußern, ohne die zu erzählende Situation zu verlieren. Das heißt im besten Fall: Die Geschichte wird durch das Sprechhandeln der Figuren erzählt, ihr Inhalt wird uns nicht erklärt. Die zu erzählende Geschichte kann dabei wie ein Film vor dem geistigen Auge des Erzählers ablaufen. Die Bilder der Geschichte kommen in Bewegung, sie werden an einigen Stellen herangezoomt und / oder in die Totale verschoben. Sie werden wie in einer langen Kamerafahrt erzählt oder durch Schnitte voneinander getrennt. Die Bilder bewegen den Sprecher, werden von ihm bewegt und auf den Hörer übertragen, der hoffentlich auch durch sie bewegt wird.

Erarbeiten wir den Anfang eines Textes sorgfältig und geduldig, erkennen die Studierenden meist sehr schnell die Wege, die sie zur Erschließung des ganzen Textes führen. Sind sie auf eine Spur gesetzt, ergreift sie das Jagdfieber, und sie bewegen sich selbstständig durch den weiteren Text. Und das ist unser Ziel. Am Ende einer Textarbeit soll eben kein unumstößliches Ergebnis stehen. Die Prozesse sinnlich erlebbar zu machen, die in enger werdenden Spiralen den Wesenskern eines Textes umkreisen, das ist der eigentliche Gewinn der gemeinsamen Arbeit. Der Text wird hinsichtlich der in ihm verborgenen Konzepte und Schemata untersucht. Das führt zu einer Unmenge von Assoziationsmöglichkeiten, aus denen wir eine Auswahl treffen, die sich danach richtet, was wir erzählen wollen. Wir untersuchen die Handlungsoptionen der Figuren und entscheiden, wofür sie die Geschichte benutzen. Dabei stoßen wir auf interessante Widersprüche in ihren Motiven und Absichten und den sich daraus ergebenden Handlungsstrategien und Taktiken. Diese Widersprüche führen dazu, dass die Geschichte auf konkrete Weise erzählt wird. Wort- und Satzbedeutungen können durch Sprechhaltungen in ihrem Sinn verändert werden. Im Zusammenspiel von Körper, Atem, Stimme und Artikulation drücken sich die Sprechhaltungen über sprecherische Mittel aus. Dynamik und Rhythmus, Melodieführung und Tonfall, Strukturierung und Diktion stehen im Dienst der Sprechhandlung und der konkreten Haltungen, in denen sie vollzogen werden. Weil wir viele Optionen probiert haben, sind wir in der Lage, die Sprechsituation zu verändern und auf Veränderungen zu reagieren. Denken und Verhalten bleiben flexibel, aber konkret. Das Sprechen nimmt das körperliche Erleben, das sich aus einer fantasierten Erinnerung speist, in sich auf und bewegt sowohl Spielpartner als auch Zuhörer. Nur wenn wir als Zuhörer erleben können, was die Figuren wie wahrgenommen haben und wie sie sich daraufhin zueinander verhalten, verstehen wir ihre Motive und Absichten und können uns ein umfassendes Bild von ihnen machen. Wir lernen sie kennen und werden in ihre Welt eingeladen.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige