Von der Gefahr einseitiger Erzählung (im Zirkus)
Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)
Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hielt 2009 einen TED-Talk mit dem Titel „The danger of a single story“. Sie sagt darin, dass unsere Leben und Kulturen aus vielen, sich überschneidenden Geschichten bestehen, und dass diese Vielfalt der Erzählungen bei ihr selbst entscheidend dazu beitrug, ihre eigene Stimme zu finden. Vor allem aber warnt sie davor, dass uns schwere Missverständnisse drohen, wenn wir nur eine einzelne Geschichte über andere Menschen, ein anderes Land oder auch uns selbst hören. In Adichies Worten: „Die eine einzige Geschichte lässt Stereotype entstehen, und das Problem mit Stereotypen ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern, dass sie unvollständig sind. Durch sie wird aus einer einzelnen Geschichte die einzige Geschichte.“
Ich möchte diesen Gedanken übernehmen und ihn auf den zeitgenössischen Zirkus als Disziplin und Praxis übertragen. Inwiefern erliegen wir auch im Zirkus der Gefahr der einseitigen Erzählung, und welchem entscheidenden Missverständnis sind wir Praktiker:innen und Denker:innen des Zirkus ausgesetzt?
Trotz des historisch gewachsenen Mythos von der individuellen Freiheit im Zirkus, die in hohem Maße für die Artist:innen und auch für das Publikum seinen Reiz ausmacht, ist die Realität des zeitgenössischen Zirkus größtenteils immer noch an ein Training und eine Ästhetik gekoppelt, die weit davon entfernt ist,...