Theater der Zeit

If one thing matters, everything matters

Ostwärts 1 & 2

von Michael Börgerding

Erschienen in: Dialog 4: Ejakulat aus Stacheldraht – Theaterstücke (11/2013)

Assoziationen: Dramatik Akteure Fritz Kater

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„Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock'n'Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter‚ die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf." Fast dreißig Jahre ist es her, Sommer 1974, dass Rolf Dieter Brinkmann seinen Gedichten „Westwärts 1 & 2" diese Sätze vorausschickte. Es war der Sommer vor seinem Unfalltod im nächtlichen London vor einem Shakespeare-Pub.

Auch Fritz Kater macht weiter. Und wie Brinkmann sich erinnert an seine Geschichte, die nicht nur seine Geschichte war, sondern die einer Nachkriegsgeneration im Westen, Kindheit und Jugend kleinbürgerlich eng in einer katholischen Kleinstadt im Norden Deutschlands - „Meine Eltern waren jung, sie sprachen deutsch. Ich musste das erst lernen, man wächst immer in eine gesprochene Welt rein. Das Lernen macht weiter, die Straßenecke macht weiter, die Wetterberichte machen weiter, die Bücher machen weiter, Pistolen, Schultaschen Turnschuhe machen weiter." -, so erinnert Kater an seine Jugend, an seine Generation, an ein Leben im Osten: „ich glaube ich bin jetzt lange genug mitgegangen der schönste tag in seinem leben war gewesen wozu noch mit den gefühlen handeln der augenblick selbst ist nur ein bild für die zeit also für die ewigkeit also ging schritt ich weiter die schöne biegung dieser landstraße landschaft aus dem pleistozän geboren grundmoräne endmoräne vor den blinden fenstern lag schnee er wünschte sich daß der quatsch grundmoräne endmoräne endlich anders endlich einmal vorbei sein möge seine weißen turnschuhe mochte er." „Keiner weiß mehr" - Brinkmann wollte nach seinem ersten Roman einen „heutigen Entwicklungsroman" schreiben, eine fiktive, kollektive Autobiographie ohne „Lob des Herkommens". Wenn Kater einen seiner Theatertexte „keiner weiß mehr 2" nennt, dann ist damit auch ein Arbeitsprogramm formuliert und das Weitermachen von Kater lässt sich von „keiner weiß mehr 2" über „Vineta" und „zeit zu lieben zeit zu sterben" bis zu „we are camera" (vielleicht sein sehr persönlicher Abschluss) beschreiben als Arbeit an der Konstruktion eines stellvertretenden Lebensromans: Ostwärts 1 & 2.

Kein Text von Kater ist hermetisch, in allen sind die Türe offen, einen Schlüssel braucht man nicht. Statt eines Abschlusses haben seine Stücke innere Schwellen, die zu einem Zögern, einem Stolpern führen, einem Immer-wieder-Aufstehen. Es ist ein grundsätzliches „Weitermachen" ohne Stillstand, ohne Verhärtung. Die Stücke sind durchlässig für die Schauspieler, für Licht, Musik, für Gefühle, Erinnerungen, Übertragungen - offen für das, was uns umtreibt. „Heimat" könnte die Suchbewegung im Schreibens von Fritz Kater überschrieben werden - aber der Autor Kater glaubt nicht an ein Ganzes, auch nicht an einen Abschluss, sondern seine Texte behaupten anderes: Bewegung, Verflüssigung, Momentaufnahme, Referenz, Fremdheit und Lakonie. Sie sind schnell, sehr schnell: ein Satz und eine Situation oder eine Figur ist umrissen. Figurenrede und Regieanweisungen, Szenenkommentare, Erzählerhaltungen wie Ortsangaben wechseln ständig. Man muss hellwach sein beim Lesen, beim Spielen und beim Zuschauen. Eine Welt entsteht aus Konstruktionen und aus dem Spiel mit Versatzstücken. Aus dem, was täglich abfällt. Sie ermöglichen dadurch Lücken, Lücken und Möglichkeiten für die Regie und für die Schauspieler. Es sind Texte, die wissen, dass auf den Proben etwas dazu kommen wird und muss. Und sie sind voller Energie, weil sie einverstanden sind mit dem Leben und seinen Menschen. Ein jegliches hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel hat seine Stunde.

Brinkmann fällt mir auch ein, weil ich aus dem gleichen Ort komme, und weil ich beim Lesen von Katers Stücken immer auch Landschaften sehe, rieche, höre. Seine Stücke spielen für mich immer draußen - es ist eine andere Landschaft als die Landschaft Brinkmanns, die auch meine Landschaft ist. Martin Kippenberger fällt mir ein, der große Spieler unter den bildenden Künstlern, 1997 viel zu jung in Wien gestorben und von dem Kater behauptet, „martin kippenberger ist nicht tot", und an die 2 400 Fotos von Wolfgang Tillmans muss ich denken, die er jetzt in einem Buch versammelt hat unter dem Titel „if one thing matters, everything matters." Ein Titel, der Kater gefallen dürfte.

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